Von Richard Bachman zu Hans Fallada (Unsortierte Gedanken #6)

Vor einigen Wochen sagte meine Frau Katharina zu mir: „Stell dir vor, ich lese als nächstes ein Buch von Stephen King. Es spielt im Jahr 2025, und es geht um einen Mann, der gejagt wird.“ Wir brauchten etwas Hin und Her und ein paar Internetsuchen, um festzustellen, dass

  • a) der Roman von 1982 mit dem „deutschen“ Titel Manhunt im Original The Running Man heißt,
  • b) King den Roman unter seinem Pseudonym Richard Bachman geschrieben hat,
  • c) er tatsächlich die Vorlage für den Film mit Arnold Schwarzenegger von 1987 ist, den ich als 12-Jähriger viel zu früh gesehen habe und
  • d) diese Verfilmung aber nur wenig mit dem Roman zu tun hat und Edgar Wrights Film The Running Man, der diese Woche startet, sich enger am Buch orientiert.

Diese ganze Kombination aus Erinnerungen und aktuellen Anlässen fand ich interessant genug, dass ich The Running Man auch gelesen habe. Er spielt in einer nahen Zukunft, in der die Luft in den Städten verpestet ist und die Quasi-Regierung der Vereinigten Staaten vom Fernsehsender „Games Network“ gestellt wird. Die Armen, die außer den verpflichtenden Fernsehern in jedem Haushalt kaum etwas besitzen, melden sich dort freiwillig, um in martialischen Game Shows wie „Treadmill to Bucks“ und „Swim the Crocodiles“ gegeneinander anzutreten. Zur Unterhaltung der Massen und in der Hoffnung auf den großen Gewinn. Die Hauptfigur, ein wütender Draufgänger namens Ben Richards, dessen 18 Monate alte Tochter eine Lungenentzündung hat, meldet sich beim Network und wird für das Kronjuwel der Gameshows ausgewählt: den „Running Man“, in dem er vogelfrei durch die USA zieht, verfolgt von professionellen „Jägern“, die ihn töten wollen. Jede Stunde, die er überlebt, bringt ihm Geld ein.

No smell but the decaying reek of this brave year 2025.
(aus The Running Man)

Eigentlich nichts Neues, möchte man meinen. Ein typisches Gewächs der späten 70er und frühen 80er im Geist, den Neil Postman 1985 in Amusing Ourselves To Death final einfing. Ich musste an Network (1976) denken und an den deutschen Fernsehfilm Das Millionenspiel von 1970, der auf Robert Sheckleys Kurzgeschichte The Prize of Peril von 1958 basiert und ein fast identisches Setup hat. Ich war aber doch überrascht, wie nihilistisch der Roman ist. Er strotzt nur so vor Verachtung der gesamten Gesellschaft, hat wenig Raum für Optimismus, geschweige denn für Heldentaten und mündet in einem ziemlich düsteren Ende – ganz anders als die Schwarzenegger-Verfilmung, in deren Finale der Protagonist Ben Richards und seine Verbündeten eine Art Medienrevolution starten und das Games Network als Lügner anklagen.

Ein Teil dieses Nihilismus lässt sich sicher mit der allgemeinen „No Future“-Stimmung der Zeit nach Vietnam, Watergate und Co erklären, aber Stephen King sah sein Alter Ego Richard Bachman irgendwann ja auch ganz bewusst als seine „dunkle Seite“ an. Ursprünglich geschaffen, um einfach mehr Bücher publizieren zu können – die Verleger waren der Meinung, mit mehr als einem Buch pro Jahr würden sich Kings Verkäufe kannibalisieren – wurde Bachman schnell zu einem Ventil, in dessen Romanen King seinen eigenen pessimistischen Impulsen freie Bahn lassen konnte. Bachmans erstes Buch Rage (1977) hatte King sogar zu großen Teilen geschrieben, als er noch in der High School war –  also die Zeit, in der viele Menschen einen Hang zum Nihilismus entwickeln. (Das doppelte Spiel wurde einige Jahre später enttarnt und King schrieb einen Roman namens The Dark Half, in der ein Autor von seinem düsteren Pseudonym gefangen genommen wird.)

King hat diese innere Transformation später in Vorworten zu den Bachman-Romanen reflektiert und schlussgefolgert, dass es gut ist, einen inneren Bachman zu haben:

„There’s a place in most of us where rain is pretty much constant, the shadows are always long, and the woods are full of monsters. It is good to have a voice in which the terrors of such a place can be articulated and its geography partially described, without denying the sunshine and clarity that fill so much of our ordinary lives. For me, Bachman is that voice.“
Stephen King, „The Importance of Being Bachman“

Nun ist The Running Man nicht die einzige Bachman-Verfilmung, die dieses Jahr ins Kino kommt. Im September ist auch The Long Walk gestartet, den ich nicht gesehen habe, aber der The Running Man auch in seiner Struktur ähnelt: Ein grausames, tödliches Spiel, das einen großen Gewinn verspricht, aber  – soweit ich weiß – in einem Pyrrhussieg endet. Und natürlich frage ich mich, inwiefern die heutige Zeit die Ära der Bachman-Romane so spiegelt, dass sie wieder populär werden.

Natürlich lassen sich Zeiten nie 1:1 aufeinander übertragen, das wäre viel zu einfach, aber wie in den 70ern das Fernsehen metastasierte passt schon zur gesellschaftlichen Polarisierung, die heute Social Media zugeschrieben wird. Genauso wie die dystopische Desillusionierung mit dem Politikbetrieb. Heute – mit dem Faschismus an der Türschwelle – vielleicht sogar schlimmer als damals.

Normalität im Angesicht der Katastrophe

So weit, so einfach und küchenpsychologisch. Was mich an dem Thema aber nicht losgelassen hat, ist die Wechselwirkung mit einem andern Phänomen, über das ich schon länger nachdenke. Ich habe hier im Blog schon einmal über das paradoxe Gefühl der Normalität im Angesicht der Katastrophe geschrieben. Anfang des Jahres ist es mir erneut eindrucksvoll begegnet, als ich Hans Falladas Kleiner Mann, was nun? von 1932 gelesen habe (auf den ich – intertextuelle Serendipity – auch nur gekommen bin, weil ich Saša Stanišićs Herkunft gelesen habe und der Erzähler darin den Roman in einem Nebensatz entdeckt).

Die Kurzform: Wir können nur erahnen, ob wir in später mal historisch bedeutsamen Zeiten leben. Manchmal gibt es deutliche Indikatoren (Pandemie), meist ist es aber nur ein diffuses Hintergrundrauschen (Klimawandel, Faschismus). Wenn in einigen Jahrzehnten ein Highlight Reel unserer Zeit zusammengeschnitten würde, mag man dasitzen und denken „Was waren das für krasse Zeiten, in denen ständig unglaubliche Sachen passiert sind“, aber das entspricht nicht dem, wie es sich anfühlt, wenn man mittendrin steckt.

Das mag man als Abstumpfung sehen, aber ganz viel davon ist auch einfach die Tatsache, dass das Leben ja weitergeht. Jeden Tag schlage ich mich, genau wie die meisten anderen Menschen, mit ganz normalen Problemchen im Job, in der Familie, in der Freizeit herum. Und, wie King ja auch zurecht schreibt, gibt es gleichzeitig mit den weniger schönen Dingen, die passieren, auch nach wie vor ganz viel „sunshine and clarity“ im Alltag. Ein ständiger historischer Alarmzustand ist nicht durchhaltbar. Umso erstaunter bin ich über Social-Media-Accounts vieler Aktivist:innen, die nicht müde werden, mir jeden Tag vor Augen zu führen, welche schlimmen Sachen ich heute schon wieder größtenteils ignoriert habe.

Kleiner Mann, was nun? hat dieses Gefühl für mich perfekt verkörpert. Der Roman erzählt die Geschichte eines Paares in den Jahren, in der er auch geschrieben wurde, also kurz vor der Machtergreifung der Nazis. Die Unruhen der Zeit – SA-Aufmärsche in den Straßen, wachsende politische Instabilität – tauchen in der Geschichte immer wieder im Hintergrund auf, geben ihr sogar das eine oder andere Mal einen leichten Schubs. Im Mittelpunkt aber steht der Alltag von Johannes und Emma, die versuchen, in einer immer prekärer werdenden finanziellen Situation ein Baby in Liebe großzuziehen. Dabei erleben sie angsteinflößende, aber auch schöne Momente. Aber sie haben keine Zeit, keine Energie, um sich mit den historischen Umwälzungen ihrer Zeit zu beschäftigen, weil sie viel zu viel Alltag zu bewältigen haben. 

Ich will meine Situation nicht mit der eines 1932 in Armut lebenden Paares vergleichen. Mir geht es nur um das Bewusstsein, dass große Katastrophen und banaler Alltag gleichzeitig passieren und ich nicht weiß, ob es einen „angemessenen“ Umgang damit gibt. Stephen Kings Weg, die eigene Überforderung in wütende, nihilistische Kunst zu gießen – oder vielleicht auch diese zu konsumieren – ist eine Möglichkeit. Es kann gut tun, die Wut in sich am Leben zu erhalten, weil sie einen vielleicht früher oder später doch ins Handeln bringt.

So wie in Hans Fallada letztem Roman Jeder stirbt für sich allein, den ich gerade lese. Auch hier geht es wieder um die „kleinen Leute“, die eigentlich genug Alltag zu bewältigen haben, um sich mit der historischen Ungerechtigkeit zu beschäftigen, die rund um sie herum passiert. Aber man merkt, dass Jeder stirbt für sich allein 1940 spielt, acht Jahre nach Kleiner Mann, was nun?, und noch einmal sechs Jahre später, also nach Kriegsende, geschrieben wurde. Fallada besitzt also bereits die Fähigkeit zur Rückschau. Allerdings basiert der Roman auch recht genau auf realen Ereignissen. Erneut geht es um ein Ehepaar, das sich bisher vor allem um sich selbst gekümmert hat. Als ihr einziger Sohn aber im Krieg fällt, platzt im Kopf des Mannes etwas und gemeinsam entscheiden sich die beiden, einzelne Postkarten mit aufrüttelnden Botschaften auszulegen. Ein kleiner Akt des Widerstands, der ihnen zwar kurze Zeit später zum Verhängnis wird, aber sie weniger gebeugt schlafen lässt.

Mir ist klar, dass ich hier vage und vielleicht schwer nachvollziehbare Verbindungslinien ziehe. Zu einer klaren These oder gar Handlungsaufforderung möchte sich die ganze Gemengelage auch in meinem Kopf nicht verdichten. Ich stelle nur immer wieder fest, wie mir Kunst hilft, aus unterschiedlichen Winkeln auf die gleiche Welt zu blicken, und manchmal vielleicht sogar etwas daraus mitzunehmen. Belassen wir es für heute dabei.

Foto von sporlab auf Unsplash

Glow-Ups, Arbeitsversionen und bevorstehende Katastrophen (Unsortierte Gedanken #5)

Als ich vor kurzem den Robbie-Williams-Film Better Man gesehen habe, fiel mir ein Thema wieder ein, über das ich schon lange mal schreiben wollte: Jukebox Musicals, also Musicals, die keine Originalkompositionen verwenden, sondern auf bereits existierende Popsongs zurückgreifen. Oft aus einem bestimmten Genre (Rock of Ages) oder, meistens, von einer bestimmten Künstlerin oder einem bestimmten Künstler. Das bekannteste ist vermutlich Mamma Mia mit der Musik von Abba. Ich hoffe ja sehr, dass ich irgendwann noch die Gelegenheit bekomme, Joyride zu sehen, das Roxette-Jukebox-Musical.

Handlungsmäßig sind diese Musicals meist ziemlich an den Haaren herbeigezogen – logo, schließlich hängen die genutzten Songs ja ursprünglich überhaupt nicht zusammen – aber ich finde immer wieder interessant, was in ihnen musikalisch passiert. Denn die Lieder werden in der Regel ganz neu arrangiert und insbesondere wenn Hollywood involviert ist, sorgt das oft dafür, dass man sie noch mal ganz neu hören kann. Selten wird dabei ein wirklich kreativer Ansatz gewählt wie in Across the Universe, in dem Julie Taymor und Elliot Goldenthal die Musik der Beatles wirklich gut dekonstruieren und neu zusammensetzen. Aber auch die gehörige Schippe Bombast, die das Arbeiten mit großen Orchestern und Hollywood-Musikproduzenten, ermöglicht, sorgt bei diesen Popsongs oft für ein Glow-Up, das mir gefällt.

Der YouTuber Patrick Willems hat gerade erst herausgearbeitet, dass Musik-Biopics und Jukebox-Musicals zurzeit eine Allianz eingegangen sind, die der ganzen Form gut tun. Statt das Leben eines Musikers nur als bloßes Reenactment von Begegnungen und Konzerten anhand einer sehr standardisierten Dramaturgie zu verfilmen, werden Musical-Sequenzen mit den Songs der Hauptfigur eingefügt, die es erlauben, die Realität zu verlassen und stilisierter zu erzählen. So geschehen in Rocket Man, Elvis (selbst noch nicht gesehen) und jetzt auch in Better Man.

Die Musik bekommt dann jedes Mal auch das entsprechende Musical-Bombast-Treatment, aber meiner Meinung nach selten zum Schlechten. Einzelne Songs vom Soundtrack von Rocket Man (den Titelsong, aber auch “Saturday Night’s Alright for Fighting“) höre ich immer wieder gerne. Und die Version von “Rock DJ” aus Better Man, in der einfach alles ein bisschen fetter ist als vor 25 Jahren und zwischendurch eine Marching-Band-Sektion eingefügt ist, lohnt sich auch auf jeden Fall, zumal Robbie Williams selbst singt – am besten guckt man sich gleich dazu die Sequenz aus dem Film an, die die gesamte Karriere von Take That in einer beeindruckenden Choreografie nachbildet. (Und noch ein Tipp aus dem Glow-Up-Space: Emiliana Torrinis Version von Jefferson Airplanes “White Rabbit” aus dem ansonsten furchtbaren Sucker Punch kann ich auch immer wieder hören.)

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Der Song “Take on me” von A-Ha gehörte früh zu meinen Lieblingssongs und ist es bis heute geblieben. Im Podcast Song Exploder hat A-Ha-Mitglied Paul Waaktaar-Savoy vor kurzem die Entstehungsgeschichte des Songs erzählt, der viele verschiedene Demos und sogar veröffentlichte Versionen durchlief, bevor er zu dem Hit werden konnte, der er bis heute ist. Ich finde solche Geschichten immer spannend, weil sie zeigen, dass es manchmal eben doch Details sind, die einen Unterschied machen.

Tatsächlich finde ich auch, dass “Take on me” ein Song ist, der nur in seiner Originalversion, mit dem stampfenden aber zwischendurch auf half-time wechselnden LinnDrum Schlagzeug und den Synthiesounds der Zeit, so richtig funktioniert. Ich habe bis heute kein Cover gehört, das mir wirklich gefällt – also das genaue Gegenteil des eben beschriebenen Phänomens.

Trotzdem habe ich eine Version, die ich lieber mag als den Song, den man aus dem Radio kennt: die extralange 12″-Version gönnt sich ein fast religiöses Intro und einen erweiterten Instrumentalteil in der Mitte, die beide eigentlich nur einen Zweck haben: auf das totale Wegbrechen aller Instrumente hinzuarbeiten, damit das ikonische Anfangsriff so richtig strahlen kann.

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Kathryn Bigelows A House of Dynamite ist ein sehr spannender Thriller über einen Atomraketenangriff aus unbekannter Quelle auf die USA, der es ziemlich sicher Ende des Jahres unter meine Lieblingsfilme schaffen wird und seit vorgestern auf Netflix ist. (Am Ende dieses Abschnitts kleinere Spoiler, wenn man gar nichts über den Film weiß.)

Ein Aspekt, der mir beim Sehen (im Kino) auffiel ist, wie sehr A House of Dynamite ein Film über Menschen ist, die wirklich gut in ihrem Job sind. Er spielt eigentlich nur an Arbeitsplätzen – vor allem in Kommandozentralen und “Situation Rooms”. Die dort sitzenden Personen treffen Entscheidungen in Minuten. Immer wieder fallen Sätze wie “We have trained for this a million times”. Auf dem Bildschirm ist die geballte Expertise eines Staatsapparats zu sehen.

Besonders Hollywood-Filme erzählen ja gerne Geschichten davon, wie Expert:innen versagen, weil ihnen über ihr Expertentum die Menschlichkeit verlorengegangen ist (gerade erst wieder in Jurassic World Rebirth gesehen, in der eine eigentlich sehr überschaubare Operation durch fanatischen Leichtsinn schiefläuft, und am Ende nichts ohne romantisierte Normalos läuft). In A House of Dynamite machen die Expert:innen alles richtig und können die bevorstehende Katastrophe dennoch nicht verhindern. Nur die schwerwiegendste Entscheidung, nämlich über einen möglichen Gegenschlag liegt dann wieder bei jemandem, der eigentlich ein Laie ist: dem US-Präsidenten.

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Ich arbeite mich seit einigen Jahren stückweise, Jahr für Jahr, durch die History of Middle Earth, Christopher Tolkiens zwölfbändige Aufarbeitung der Papiere seines Vaters, in der man ähnlich wie in Song Exploder die diversen Versionen seiner Werke lesen kann, die nicht veröffentlicht wurden.

Gerade habe ich Band V, The Lost Road and Other Writings, beendet. Allerdings lese ich die Bücher in einer Reihenfolge, die ein bisschen an die Star Wars-Filme erinnert, nämlich I, II, VI, VII, VIII, IX, III, dann Tolkiens Briefe, IV, V. Mit The Lost Road habe ich nun also zu den Bänden VI bis IX aufgeschlossen, die die Geschichte des Herrn der Ringe erzählen.

Mein Plan ist, als nächstes X, XI und XII zu lesen und dann noch einmal die Unfinished Tales, die ich zuletzt vor über 20 Jahren gelesen habe – somit wäre ich 2029 fertig. Ich lese diese Bücher, weil Tolkiens Romane mich geprägt haben wie kaum ein anderes Werk, aber auch, weil ich diese einmalige Aufstellung einer Rekonstruktion des gesamten Schaffensprozesses eines Menschen nach wie vor – unabhängig vom Inhalt – schrecklich faszinierend finde. Wo sonst gibt es das, dass man einen Menschen quasi beim literarischen Nachdenken über die gleichen Geschichten durch ein ganzes Leben hindurch begleiten kann? (Unter anderem in Adam Moss’ großartigem Buch The Work of Art, das ich auch Stück für Stück lese und sehr empfehle.)

Dennoch gebe ich zu, dass ich ein bisschen Angst davor hatte, in diesem Band ein weiteres Mal alle Geschichten des Silmarillion zu lesen. Mit minimalen Abweichungen gegenüber der publizierten Ausgabe, mit Detailabweichungen in Namen und Geografie, die ich mir sowieso nicht merken kann. Tatsächlich habe ich zwischendurch überlegt, den Teil zum Quenta Silmarillion einfach zu überspringen, nachdem ich die Geschichten des ersten Zeitalters in den vorausgehenden Bänden schon mehrfach gelesen hatte.

Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe. Denn nicht nur ist die Version des Silmarillion, die Tolkien 1937 schrieb – kurz bevor er den Herrn der Ringe begann – eigentlich ganz angenehm zu lesen. In ihrer Lektüre erschloss sich mir auch, dass diese Art von Sagen ihre wahre Wirkung wirklich erst entfalten, wenn man ihnen immer wieder ausgesetzt ist. Gerade die vage Erinnerung an die vorhergehenden Versionen und das grobe Wissen zu jedem Zeitpunkt darüber, welche Ereignisse noch kommen werden, machte mir das Lesen und Verstehen leichter als zuvor. Zudem enthält dieser Teil des Buchs einige interessante Reflexionen von Christopher Tolkien über seine eigene kuratorische Arbeit, etwa dass er heute einige seiner Entscheidungen beim Zusammenstellen des veröffentlichten Silmarillion bedauert.

Ein noch größeres Geschenk ist aber tatsächlich das Fragment The Lost Road, von dem Christopher Tolkien mit Recht schreibt, es sei „among the most interesting and instructive of my father’s unfinished works“. Nicht nur ist es, anders als die Silmarillion-Sagen, in Romanform angelegt, die zeigt, dass J. R. R. Tolkien zwar ein altmodischer, aber wirklich kein schlechter Erzähler war. Es erhellt wirklich wie wenige andere seiner Schriften sein Denken über seine Geschichten als zeitlose Wiedergeburten von Ur-Erzählungen. In diesem Fall über die Ignoranz einer dekadenten Menschheit im Angesicht einer drohenden Katastrophe, wie im Atlantis-Mythos und seiner Mittel-Erde-Version, dem Untergang von Númenor.

In The Lost Road hatte er vor, diese Variationen über die Zeitalter hinweg zu einem großen Narrativ zu vereinen, das zeigt, wie sehr die Geschichte und die aus ihr entstehenden Mythen sich wiederholen und reimen. Quasi J. R. R. Tolkiens Everything Everywhere All At Once. Ich weiß nicht, ob das Ergebnis gut gewesen wäre, aber ich hätte es mit Sicherheit gerne gelesen. (Diesen Text habe ich zuerst in ähnlicher Form auf Goodreads veröffentlicht)

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Die Zukunft des Lesens, des Schreibens und des In-die-Sonne-Schauens (Unsortierte Gedanken #4)

Ich war letzte Woche im Literatur-Podcast „Gelesen.“ zu Gast, um mit Lucas Barwenczik über Christoph Engelmanns Buch Die Zukunft des Lesens zu sprechen. Engelmanns These: Die Menschen lesen weniger, vor allem lange Texte, dafür hat sich aber eine „Plattform-Oralität“ entwickelt, in der uns Menschen in Podcasts und Videos erzählen, was sie an unserer Stelle gelesen haben. 

Das war schon das zweite Mal, dass ich in „Gelesen.“ zu Gast war. Im August haben Lucas und ich über LitRPG und Dungeon Crawler Carl gesprochen. 

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Im Podcast probiere ich unter anderem einen Gedanken an Lucas aus, der aber eigentlich nicht so gut zum Thema passt und deswegen dort auch nicht weiter verfängt. 

Vor einigen Wochen wurde in meiner Medienblase das Thema „Google Zero“ heftig diskutiert: Wenn Menschen zunehmend KI-Anwendungen, egal ob Chatbots wie ChatGPT oder Gemini-Zusammenfassungen über den Google-Suchergebnissen, nutzen, geht dem Online-Journalismus eine weitere Traffic- und damit Einnahmen-Quelle verloren. Die User kommen mit null Klicks zum gewünschten Ergebnis ohne jemals auf der Seite des journalistischen Angebots zu landen.

Mein Gedanke dazu: Ein derart parasitäres Modell ist langfristig, in einer Welt, in der Wissen nicht statisch ist, eigentlich nicht nachhaltig. Sicher werden noch eine Menge Journalismus-Angebote (leider) dran glauben müssen, aber es ist auch ein anderer Pfad denkbar, den ich mal als das “Netflix-Modell” bezeichnen will.

Auch Netflix hat damit angefangen, nur Filme und Serien anderer Anbieter “durchzureichen” und sie haben in ähnlicher Art dafür gezahlt wie OpenAI inzwischen für die Nutzung von Axel-Springer-Material zahlt. Um sich aber irgendwann für Nutzer:innen interessant zu halten, fing Netflix 2013 an, eigenen Content zu produzieren. Heute bemisst sich fast jede Streamingplattform an der Qualität der “Originals”, die man dort schauen kann.

Ist es also abwegig, zu glauben, dass in der Zukunft journalistischer, wissenschaftlicher etc. Content direkt für die KI fabriziert wird? Content, den das LLM direkt in seine Trainingsdaten einarbeiten und nach Bedarf ausspucken kann. Zumindest bis die KI in der Lage ist, selbstständig Ereignisse wahrzunehmen, einzuordnen und zu verarbeiten. Welche Form müsste dieser Content haben, damit er möglichst LLM-tauglich ist? Ein Datenaggregat aus Fakten und reproduzierbaren Formulierungen? Welche Journalist:innen bräuchte es, um solchen Content zu fabrizieren?

Ich gebe zu: die dystopische Lesart ist eine Art Moloch-Szenario, in der Menschen nur noch direkt für die Maschine arbeiten, die sie am Ende des Tages durchgewalkt wieder ausspuckt. Auf der anderen Seite hat nichts die Film- und Fernsehbranche in den letzten zwölf Jahren so befeuert wie die Produktionsbudgets der Streamer. Who knows.

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Ich habe den weit und breit gefeierten Film In die Sonne schauen von Mascha Schilinski gesehen und mich danach wie schon lange nicht mehr in der (für mich) unangenehmen Situation befunden, mit meinem Eindruck gegen den kritischen Konsens zu stehen. Ich fand In die Sonne schauen, in dem es um transgenerationale (und auch einfach allgemein verbreitete) Traumata von Frauen auf einem Bauernhof von der Kaiserzeit bis heute geht, eine gute Stunde lang ziemlich gut.

In den restlichen anderthalb Stunden verspielte der Film sein Karma bei mir allerdings Stück für Stück, weil ich immer mehr das Gefühl hatte, dass eine Behauptung von Bedeutsamkeit und künstlerischem Eigensinn an die Stelle der eigentlichen Dinge trat. Im Laufe der Zeit ging mir in dem, was andere Beobachter:innen als geniale Verknüpfung begriffen, zunehmend die Nuance verloren, dazu kamen recht plakative Symbole und Erklärungen, zu viele Enden. Die letzte Handlung, die eine der Hauptfiguren vollzieht, erschloss sich mir gar nicht mehr.

Andere mögen sich mit einer solchen Dissonanz zum Kritik-Mainstream bestätigt fühlen, in mir löst es meist doch Unbehagen aus. Einmal mehr natürlich, weil ich ein Mann bin und es im Film um die Erfahrungen von Frauen und Mädchen geht. Geholfen hat mir wie so oft der Podcast “Fashion the Gaze“. Wenn Vera und Freya berichten, welche Teile des Films in ihnen wiedergeklungen haben, kann ich zumindest nachvollziehen, warum andere Leute den Film mochten. Auch Thomas Grohs Formulierung “Weird hypnagogic ambient cinema” hat mir eröffnet, wie man den Film begreifen kann. Vielleicht passten Sonne und ich einfach nicht zusammen.

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Ich habe im Sommer Jane Austens Emma gelesen und anschließend die Verfilmung mit Gwyneth Paltrow von 1996 und mit Alicia Silverstone von 1995 geschaut. Ich war erstaunt, wie sehr die Lebendigkeit und zeitlose emotionale Resonanz eines Romans verloren gehen kann, wenn man ihn relativ “werktreu” verfilmt, während seine komische und beißende Essenz in einer modernisierten Adaption viel besser erhalten bleibt.

Foto von Birgit Steven-Lahno auf Unsplash

Raum und Flow

Vor rund zehn Jahren, als das Second Coming von 3-D im Kino gerade abflaute und das Second Coming von VR durch Facebooks Kauf von Oculus gerade in vollem Lauf war, war ich für eine kurze Zeit neu begeistert vom Konzept des endlosen filmischen Tiefenraums. Ich hatte mich lange schon gefragt, warum so wenige Filme im digitalen Zeitalter die Möglichkeit nutzten, die Zuschauenden mit auf eine Reise in ihren Raum zu nehmen.

Immer wieder sah ich Versuche, mit dem Gedanken eines dreidimensionalen Raums und einer wahrhaft entfesselten Kamera im Kino zu arbeiten, die ich jedes Mal faszinierend fand, egal ob in Gravity (2013) oder in der Eröffnungssequenz von The Revenant (2015). Selbst in den wenigen VR-Experiences, die ich erlebt hatte, war das Gefühl, tatsächlich einen Raum zu erleben, in dem Ereignisse stattfanden, um die man herumfließen konnte, wie in einem Open World Videospiel oder einem immersiven Theaterstück, extrem selten. Stattdessen regierte durch die Bank extrem konventionelle filmische Raumauflösung durch Montage und “digitaler Realismus“, selbst in vollständig im Computer entstandenen Filmen, was ich immer extrem schade fand.

Zu meiner großen und unerwarteten Begeisterung habe ich am Wochenende im Kino die beste Umsetzung meines Wunsches seit vielen Jahren erlebt, im lettischen Oscar-Gewinner Flow, einem mit der Open-Source-Software Blender gestalteten, dialoglosen Animationsfilm über eine Katze in einer südostasiatischen Landschaft, die langsam überflutet wird. “Flow”, das scheint sich natürlich auf den Fluss des Wassers und des Lebens zu beziehen, aber es könnte auch genauso die Kamera- und Raumarbeit des Films bezeichnen, die von einer erdrückenden Schönheit und Stringenz ist. Gints Zilbalodis’ Kamera schwebt leicht schaukelnd in langen Sequenzen neben seinen tierischen Protagonisten her, mal schneller, mal langsamer, stößt unter Wasser, nur um kurz darauf wieder in Vogelflug-Höhen aufzusteigen. Und warum? Weil sie es kann! Diese Art der Bildgestaltung gibt dem Film einen magischen Rhythmus, der den sense of wonder, der Flow als Leitmotiv ebenfalls durchströmt, noch verstärkt. Danke, Gints Zilbalodis! Der Rest darf sich gerne ein Beispiel daran nehmen.

Lieblingsfilme 2024

Mich beschleicht das Gefühl, dass Film eine immer geringere Rolle in meinem Leben einnimmt. Klar, ich würde immer noch jederzeit einen guten Film einer mittelmäßigen Serie vorziehen. Aber meine berufliche Hinwendung zu Fernsehen und Podcasts, und einfach die Zeitsituation in unserer Familie, machen es immer schwieriger, dem Medium die Aufmerksamkeit zu widmen, die es verdienen würde.

Insbesondere das Zuhause-Nachholen von Filmen, die ich im Kino verpasst habe, ist schwierig geworden. Mein Kind schläft inzwischen so spät ein, dass meistens gerade noch Zeit für eine Serienfolge bleibt, wenn ich meine 7,5 Stunden Schlaf bekommen will. Es ist aber noch nicht alt genug, um viele Filme mit ihm zu gucken, und wenn doch, guckt es am liebsten die gleichen Filme immer wieder.

Letterboxd zeigt mir für dieses Jahr 44 eingetragene Filme. Das sind weniger als letztes Jahr (51), aber mehr als in allen Jahren davor seit Geburt meines Kindes (zwischen 22 und 40). Ich war satte 29 Mal im Kino. Also vielleicht ist meine Gefühls-Beschleichung doch ein Trugschluss, und ich habe mich eigentlich auf einem ganz guten Niveau eingepegelt, dass mir einfach im Vergleich zu meinen besten Filmjahren immer noch mager vorkommt.

Trotzdem ist diese Liste natürlich, wie immer, mit entsprechender Vorsicht zu genießen, da sie eben doch aus einem nicht so tiefen Brunnen schöpft. Verpasst habe ich unter anderem The Wild Robot, Perfect Days, Emilia Perez, Konklave, The Substance, Inside Out 2, May December und La Chimera. Ein paar Filme gab es auch, die bei vielen Kritiker:innen beliebt waren, mich aber nicht begeistern konnten, darunter The Zone of Interest und Poor Things.

Was soll ich sagen? Ich kann mit einer etwas ausufernden Endzeit-Saga anscheinend doch mehr anfangen als mit einem manierierten Lehrstück zur Aussage “Nazis waren kleinbürgerlich”. Alle meine Wertungen kann man auf meiner Letterboxd-Statistik-Seite für 2024 nachschauen.

Challengers hat mich begeistert, weil er so offensiv ist. Sport als Metapher für Sex, das ist nichts Neues, aber das clevere Drehbuch passt wie die Faust aufs Auge zu Luca Guadagnino. Wenn dazu noch die aktuell vielleicht schönste Frau der Welt und mein nicht so heimlicher Celebrity Crush Mike Faist mitspielen, hat man mich einfach. Der Junge und der Reiher hat mich ganz stark an Bücher aus meiner Kindheit erinnert, in denen Kinder in Anderswelten reisen, von Joan Aiken über Michael Ende bis Die Brüder Löwenherz, und war allein deswegen ein bewegendes Kinoerlebnis. An Furiosa mochte ich das auswuchernde Worldbuilding, an Love Lies Bleeding die Körperlichkeit. The Bikeriders fand ich ein unterschätztes Dokument über Männlichkeit und Zeitgeist.

Wicked ist ein Film mit vielen Schwächen – nicht zuletzt, dass er das Musical mit seinem papierdünnen Plot viel zu treu adaptiert, statt etwas Eigenständiges und Filmisches zu schaffen. Aber die Begeisterung, die ich dafür dieses Jahr mit meinem Kind teilen konnte, und die starke Präsenz der beiden Hauptdarstellerinnen (ich bin insbesondere Fan von Ariana Grandes marionettenhafter Glinda) haben ihn für mich trotzdem zu etwas Besonderem gemacht, und ich werde ihn sicher noch diverse Male sehen.

Das war es an Gedanken. Hier (oder hier) ist die Liste.

  1. Challengers
  2. Der Junge und der Reiher
  3. Furiosa: A Mad Max Saga
  4. Love Lies Bleeding
  5. The Bikeriders
  6. Wicked
  7. Dune: Part II
  8. The Outrun
  9. All of Us Strangers
  10. Dídí

Bild: Amazon

Lieblingsfilme 2023

Machen wir es kurz und schmerzlos: Mein Filmjahr war nicht sehr ergiebig (Letterboxd verzeichnet 51 Filme), aber es waren schon genug Filme dabei, die mir gefallen haben. An der folgenden Liste finde ich erfreulich, dass drei Filme in der Top 4 von Regisseurinnen stammen. Killers of the Flower Moon ist der Film, den ich direkt nach dem Ansehen am kritischsten bewertet habe, der aber durch weiteres Nachdenken und drüber reden gewachsen ist. Dungeons and Dragons ist sicher filmisch nicht wirklich viel großartiger als einige Filme, die weiter unten auf der Liste stehen, aber er hat mir einfach sehr viel Spaß gemacht, und ich freue mich darauf, ihn mit anderen Leuten erneut zu sehen.

Dass Banshees of Inisherin und Past Lives mich bewegt haben, sagt ein bisschen was darüber aus, dass Freundschaft für mich ein wichtiges Thema bleibt. Über diese Filme denke ich auch immer wieder nach, insbesondere Past Lives. Hingegen sind Asteroid City (Podcast) und The Fabelmans (Podcast) Filme, die ich mochte, aber die nicht mehr wirklich nachhallen. Dass Across the Spider-Verse es nicht schafft, seine Geschichte innerhalb eines sehr langen Films zu Ende zu erzählen, spricht nicht für den Film, aber irgendwie fand ich das Ding trotz aller Kritik doch irgendwie beachtlich (Podcast).

Eine weitere große Freude des Filmjahres: Immer mehr Kinobesuche und Heimvideonachmittage mit Kind (5). Man schaut zwar auch Quatsch wie Elemental oder sogar PAW Patrol: The Mighty Movie, aber wer weiß, wann ich sonst endlich mal den fantastischen Kikis kleiner Lieferservice nachgeholt hätte. Ich freue mich drauf, in den nächsten Jahren meinen Filmkonsum einfach mit Kind langsam wieder hochzufahren.

Hier ist die Liste:

  1. Anatomie d’une chute
  2. The Banshees of Inisherin
  3. Saint Omer
  4. Past Lives
  5. Dungeons and Dragons: Honor among Thieves
  6. Asteroid City
  7. The Fabelmans
  8. Killers of the Flower Moon
  9. Spider Man: Across The Spider-Verse
  10. As Bestas

Bild: Plaion Pictures

Turtles of the Mind

Die “Teenage Mutant Hero Turtles” (wie sie hierzulande hießen) waren einer der ersten großen Popkultur-Importe, der mir etwas bedeutete. Um 1990 schwappten sie nach Deutschland, und ich war großer Fan. Ich zeichnete, mit Freunden, nicht nur einen Comic mit den Turtles, sondern eine ganze Serie über mehrere Jahre. Ich erinnere mich sehr genau daran, wie ich meine Eltern so lange anbettelte, bis sie mir einen kleinen Spiegel kauften, auf dem die Turtles eingeprägt waren.

Woher kam diese Leidenschaft? Ganz sicher nicht aus den Live-Action-Kinofilmen (1990-93), für die ich in den Augen meiner Eltern noch viel zu jung war. Ich las zwar viel über diese Filme, in Zeitschriften wie Limit und Micky Maus, aber selbst gesehen habe ich sie erst viele Jahre später (und absurderweise keinerlei Erinnerung daran). 

Eine große Inspiration kam auf jeden Fall aus der Animationsserie (1987ff.), von der ich auf jeden Fall einige wenige Episoden gesehen habe. Sie hat definitiv den Stil meiner Turtles-Zeichnungen beeinflusst und ich kannte daher den Titelsong sowie die Persönlichkeiten der vier Hauptcharaktere. Aber ich durfte oder konnte die Serie nie ausführlich genug sehen, um wirklich tief in die Turtles-Mythologie einzusteigen. Mein Einblick ins Turtles-Universum war immer nur extrem oberflächlich.

Keine diegetische Wahrheit

Die Hauptquelle für meine Vorstellung von der Welt der vier Schildkröten-Helden war also meine eigene Fantasie. Wenn ich meine Comics zeichnete oder mit meiner spärlichen Auswahl an Action-Figuren spielte (ich hatte zwei von vier Turtles und ein paar Nebencharaktere), dachte ich mir auf eine Weise Geschichten aus, wie sie sich nur Kinder ausdenken können. Alles Unbekannte über Charaktere und Settings, wird einfach irgendwie ergänzt. Es gibt keine Vorstellung von einer diegetischen, durch irgendetwas oder irgendjemand festgelegten “Wahrheit”. Was zählt, sind die Dinge, die man selbst für wichtig hielt. Turtles of the Mind.

Über dreißig Jahre später merke ich, dass ich von dieser damaligen Version der Turtles nie ganz weggekommen bin. Auch, weil ich mich nie wieder tief in ihre Welt eingegraben habe. Ich habe ein paar der neueren IDW-Comics von Kevin Eastman gelesen, ich habe den Film TMNT von 2007 gesehen, aber nicht die dazugehörige Serie und erst recht nicht die Michael-Bay-Realverfilmungen. TMNT erschien mir in Design und Gefühl noch relativ nah dran an den Turtles meiner Kindheit. Ich habe mir 2014 eine Donatello-Figur gekauft (Donatello ist übrigens natürlich der beste Turtle), die der alten relativ ähnlich sah. Jetzt wohnt er im Spielhaus meines Kindes und heißt nur noch “der Turtle”.

Der Trailer zum neuen Film Mutant Mayhem, der diese Woche gestartet ist, scheint aber so gar nicht zu meinem inneren Bild von den Turtles zu passen. Ich glaube, dass es daran liegt, dass ich die Turtles aus Kinderaugen, trotz ihres Namens, nie als Teenager wahrgenommen habe, sondern als alterslose Erwachsene. Design und Marketing des von Seth Rogen mitgeschriebenen Films stellen aber genau diese Eigenschaft sehr nach vorne. Eventuell ist es das, was mich abschreckt. Aber da die kritische Rezeption des Films gut ist, werde ich ihn mir wohl trotzdem ansehen. Mal sehen, wie sehr sich innere Bilder überschreiben lassen.

Bild: Alexander Gajic (7 Jahre)

Quantifizierter Kulturkonsum

“Quantified self” – dieser Begriff war vor zehn bis 15 Jahren der heißeste Scheiß. Mithilfe von “Wearables” automatisch Daten über den eigenen Körper zu sammeln und daraus Erkenntnisse zu ziehen, galt vielen als Schlüssel zum Glück. Was ist daraus geworden? Apps von Krankenkassen verteilen Goodies basierend auf den Schritten, die man jeden Tag geht.

Allerdings kommt in den Diskussionen um Quantified Self nie auf, dass man auch ganz andere Dinge tracken kann. Ich tracke Kultur. Das heißt: Ich führe Buch darüber, welche Kultur ich wahrnehme und “konsumiere”. Das habe ich bereits lange vor sozialen Netzwerken und Devices gemacht. Bereits als Tween habe ich jahrelang jede Woche persönliche Hitparaden erstellt und diese jedes halbe Jahr ausgewertet. Ich habe Lese- und Sichtungs-Listen abgearbeitet und so versucht, mein kulturelles Kapital zu festigen.

Aber seit etwa 20 Jahren bin ich zu einer generellen Strategie von “alles aufschreiben und kurz bewerten” übergegangen. Einige Websites haben diese Aufgabe zusätzlich erleichtert. Ich tracke heute also die (filebasierte) Musik, die ich höre (seit 2005 bei last.fm); die Bücher, die ich lese (seit 2012 bei Goodreads, zuvor seit 2002 per Tabelle) und die Filme, die ich schaue (bei Letterboxd, seit 2003 per Tabelle, die ich in Letterboxd importieren konnte). Auch über meine Konzertbesuche führe ich Buch. Und über die App Timehop erlebe ich täglich die Vergangenheit meiner eigenen Social-Media-Posts. Mein Streak ist seit 2017 ungebrochen.

Hilfreiche Statistiken

Ich bin nicht alleine mit diesem Verhalten, aber ich frage mich auch, welche Effekte es hat. Auf jeden Fall hat diese Art von quantifiziertem Kulturkonsum einige Vorteile, wenn man bereit ist, sich mit den eigenen Daten auseinanderzusetzen. An der reinen Anzahl meiner “Scrobbles”, also meiner gehörten Musik, kann man zum Beispiel sehr gut ablesen, in welchen Jahren ich alleine gelebt habe (2010-2011), wie ab 2012 langsam Podcasts den Siegeszug über Musik mit meiner “Ohrenzeit” antraten und in welchem Jahr mein Kind geboren wurde (2018).

So ähnlich sieht es auch auf meinem Letterboxd-Profil aus. 2011-2013 habe ich in der Filmredaktion 3sat gearbeitet, wie man unschwer erkennen kann. Mithilfe der Tags, die sich seit 20 Jahren vergebe, könnte ich außerdem sehr gut nachvollziehen, wie sich bei mir der Umstieg von physischen auf digitale Medien vollzog.

Besonders hilfreich fand ich meine Goodreads-Daten dieses Jahr, als ich mal schauen wollte, wie es eigentlich mit dem Geschlechterverhältnis bei meinen gelesenen Büchern aussieht. Gefühlt habe ich Bücher nie danach ausgewählt, ob sie von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurden. Bittererweise zeigen die Daten aber, dass ich selbst in Jahren, die sich für mich einigermaßen paritätisch anfühlten, ungefähr doppelt so viele Bücher von Männern wie von Frauen gelesen habe. (Ich korrigiere das dieses Jahr sehr bewusst, bin aber auch froh, dass man im Diagramm immerhin eine positive Tendenz sieht.)

Ein bisschen ist das quantifizieren von Kultur wie automatisiertes Tagebuchschreiben. Und es hilft manchmal, sich selbst zu checken. Habe ich die Songs, mit denen ich mich schmücke, auch wirklich am meisten gehört? Oder habe ich vielleicht doch eine geheime Schwäche für einen ganz anderen Künstler? Ganz abgesehen davon, dass es das Erstellen von Lieblingslisten am Ende jedes Jahres deutlich erleichert.

Wettbewerb und schlechte Daten

Die negativen Seiten liegen (für mich) ebenfalls auf der Hand. Tracking schafft Vergleichbarkeit. Für einen neidischen Scanner wie mich definitiv ein Problem. Habe ich dieses Jahr wirklich nur 30 Filme gesehen? Früher habe ich fünfmal so viel geschafft. Daten sagen auch nichts über die Qualität des kulturellen Genusses aus. Habe ich die vielen Songs, die ich dieses Jahr gehört habe, auch bewusst gehört? Oder dudelten sie im Hintergrund vor sich hin, während ich mit anderen Dingen beschäftigt war? Diese Art von “schlechten” Daten kennen viele aus ihren “Spotify Wrapped”-Listen, in denen Workout- oder Kinderlieder jedes Jahr die ersten Plätze einnehmen.

Das nervigste aber ist, dass Tracking die Gamification bzw. Workification von Kulturkonsum befeuert. Wenn man Kulturkonsum in Zahlen übersetzt, verbindet man schnell automatisch Ziele damit. Statt Genuss geht es dann plötzlich darum, etwas zu schaffen. 

Goodreads zum Beispiel fordert einen jedes Jahr dazu auf, eine “Reading Challenge” festzulegen. Der ursprüngliche Hintergrundgedanke ist vermutlich, dass genug Leute sich sagen “Ich sollte wieder mehr lesen” und es dann nicht tun. Die haben mit einem selbstgesetzten Ziel einen Ansporn. Aber man kann es auch zur performativen Farce werden lassen.

Crush Your Reading Challenge

Denn im Oktober schickt Goodreads jedes Jahr eine E-Mail mit dem Betreff “Short Books to Crush Your Reading Challenge” raus. Ein schönes Beispiel dafür, wie sich alleine durch die Auswahl der “richtigen” KPI mit Statistiken bescheißen lässt. Wenn ich nur kurze Bücher lese, kann ich nominell ein höheres Ziel erreichen. Aber was habe ich dadurch für mich gewonnen?

Ich gebe zu: Ich kann mich diesem künstlichen Wettbewerb nicht ganz entziehen. Ich bin im, Herzen ein kompetitiver Mensch und will irgendwie bestehen können, also höre, lese und gucke ich mich manchmal durch die Welt, einfach weil ich das Gefühl habe, ich muss. Auf der anderem Seite, bereue ich es aber auch selten. Denn Filme gucken, lesen, Musik hören oder Podcast hören ist fast immer besser als die Alternative, etwa endloses Doomscrolling.

Aber es schmerzt halt dann auch immer, wenn ich das Gefühl habe, ich tue gerade nichts Messbares. Ich muss mich manchmal sehr zwingen, mir selbst Erlaubnis zu erteilen, Dinge zu machen, die hinterher nirgendwo festgehalten sind. Ich war schon immer schlecht im Entspannen, unter anderem, weil es sich so schlecht tracken lässt.

Immerhin: Es gibt eine Kulturform, die ich nicht tracke: Serien. Hier ist es mir meist ziemlich egal, wieviele Folgen oder Staffeln ich in welchem Zeitraum “geschafft” habe (“muss ich gucken, weil ich drüber schreiben/reden will” ist die Ausnahme). Insofern sind Serien vermutlich die entspannteste Form von Kultur für mich. Das ist ja auch eine Erkenntnis.

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Podcasts, Podcasts, Podcasts

Eine kleine Übersicht über vier Podcast-Entwicklungen, die mit mir zu tun haben.

Zu Gast bei Cuts

Den Podcast Cuts – Der kritische Filmpodcast verfolge ich, seit er noch Shots hieß und bei detektor.fm lief. Ich gehöre nicht zum tiefsten Patron-Kreis, der zwölftstündige Specials zum Gesamtwerk von Regisseur:innen hören möchte, aber ich applaudiere und empfehle bei jeder Gelegenheit Christian Eichlers Projekt, das sich von einem Filmpodcast mit kritischem Ansatz zu einer erfolgreichen Community gemausert hat, in der auch immer wieder verschiedene andere Podcaster zu Gast sind.

Nachdem in den letzten Jahren meine drei Kulturindustrie-Kolleg:innen Lucas, Sascha und Mihaela schon mehrfach bei Cuts zu Gast waren, habe ich es jetzt endlich auch geschafft. Zusammen mit Christian und Louis Derfert sprechen wir über die Meriten und Probleme von Across the Spiderverse.

Kulturindustrie im freieren Flow

Wir waren bei Kulturindustrie Anfang des Jahres alle ein bisschen gestresst. Uns jeden Monat auf drei Themen zu einigen, die wir besprechen wollen und sie dann auch noch alle vorzubereiten, wurde einigen von uns (unter anderem mir) langsam ein bisschen zu viel. Alle hatten wir aber weiterhin Lust zu podcasten, deswegen entschieden wir uns, ein neues Konzept auszuprobieren.

Seit der Februar-Ausgabe einigen wir uns fest nur noch auf ein Thema pro Folge, das wir länger besprechen. Anschließend schauen wir aber immer noch, was uns weiter so durch den Kopf geht, was vielleicht auch mehrere von uns gesehen haben. Wir stellen uns gegenseitig Fragen und unterhalten uns einfach ein bisschen. Etwas mehr Laberpodcast, aber dafür auch wieder etwas mehr Spaß für alle bei diesem seit sechs Jahren bestehenden reinen Freizeitprojekt. Ich bin mit der neuen Iteration sehr zufrieden. In der jüngsten Folge hat es dann auch wirklich nur für ein Thema (Beau is Afraid) gereicht, aber das war auch okay. Ende des Monats sprechen wir über Asteroid City, Across the Spider-Verse, Peter Fox’ Album Lovesongs, die neue Staffel Black Mirror und mehr.

LÄUFT häutet sich ein wenig

Das Magazin-Format, mit dem Läuft gestartet ist, war in den vergangenen Ausgaben ein wenig an seine Grenzen gestoßen. Für Hörer:innen bedeutet es ein großes Commitment, sich an einen Podcast zu binden, der nur das vage Versprechen machen kann, jede zweite Woche über ein latent aktuelles Thema und latent aktuelle Programme zu sprechen. Im Redaktionsteam hatten wir schon länger darüber diskutiert, das Grundkonzept etwas zu verschieben.

Mit der letzten Ausgabe hat es sich dann ein wenig von selbst ergeben. Die Kritik musste ausfallen, da das Interview kurzfristig nicht stattfinden konnte. So hatten wir am Ende doch nur ein Gespräch mit einem prominenten Programm-Kritiker (Georg Restle) und am Ende eine Kurzkritik von mir über die Sendung, die wir eigentlich im Dialog besprechen wollten. Nun hatte die Folge einen klareren Fokus und etwas mehr “Fleisch” am Interview – ein Ergebnis, bei dem wir feststellten, das es uns gefiel. Künftig bleiben wir bei dem Format. Ein fokussiertes Thema im Interview und ein kleines bisschen mehr Kritiker-Personality von mir. Ich freue mich drauf.

Lexpod mit Retro-Content (more to come)

Letztes Jahr habe ich den Feed meines pausierten Lexpod wiederentdeckt, um dort gelegentlich Content zu veröffentlichen, den ich lieber in Audio als schriftlich produzieren möchte. Nach dem Mitschnitt vom TXT-Panel letztes Jahr und dem Interview mit Max Ost habe ich dort erneut etwas veröffentlicht, das allerdings noch nischiger ist als meine sonstigen Aktivitäten.

In meinem Scanner-Artikel hatte ich erwähnt, dass ich schon 2010 einen journalistischen Podcast produziert, diesen aber nie außerhalb meines Blogs veröffentlicht habe, obwohl er sogar ein Interview mit dem Avatar Editor Stephen Rivkin enthält. Im Lexpod-Feed hat das ganze Ding, was ich zum eDIT Filmmaker’s Festival 2010 aufgenommen hatte, jetzt ein Zuhause, mit einem neuen, kurzen Intro von mir, in dem ich mich ein wenig über mein 28-jähriges Ich lustig mache.

In Zukunft würde ich den Lexpod gerne öfter – also alle paar Monate – für längere Interviews wie mit Max nutzen. Eins habe ich schon recht fest, ein anderes eher lose verabredet. Abonnieren könnte sich also lohnen.

Titelbild: Mit zwei Kopfhörern hört es sich besser (Midjourney/Alexander Matzkeit)

Die Freude eines guten Quest-Plots

© Disney, weil alles Disney ist

Mein Kind ist inzwischen in dem Alter, wo wir ihm zutrauen, auch mal ganze Filme zu schauen. Einer davon, der zuvor auch schon per Buch und Soundtrack ausführlich vorbesprochen wurde ist Moana (2016), der außerhalb der USA Vaiana heißt, von John Musker und Ron Clements aus dem Hause Disney. Beim erneuten Sehen fiel mir etwas auf, und als ich den Film bei Letterboxd loggen wollte, stellte ich fest, dass es mir schon beim ersten Mal aufgefallen war. Es ist eine der großen Stärken des Films: Moana hat einen sehr geradlinigen Heldenreisen-Quest-Plot.

Moana ist die Nachfolgerin des Chiefs auf einer pazifischen Insel. Das einst fischreiche Riff der Insel wird immer weniger ergiebig, aber die Inselbewohner weigern sich, sie zu verlassen. Moana, die sich seit ihrer jüngsten Kindheit vom Ozean angezogen fühlt, findet heraus, dass ihre Vorfahren Seefahrer waren, die von Insel zu Insel zogen, unter dem Segen der Fruchtbarkeitsgöttin Te Fiti. Doch seit der Halbgott Maui auf einem seiner Diebeszüge Te Fitis “Herz” stahl und den Feuerdämon Te Ka gegen die Inselbewohner aufgebracht hat, sind die Ozeane nicht mehr sicher. Gegen den Willen ihres Vaters macht sich Moana auf einem Boot auf, um Maui zu finden und das Herz zurückzubringen. Der Ozean hilft ihr dabei und lässt sie trotz Unbeholfenheit nicht ertrinken. Maui stellt sich als großmäuliger Egoist heraus, der keinen Bock auf die Mission hat und Moana nicht als ebenbürtig akzeptiert. Doch in einer Reihe von Konfrontationen, unter anderem mit einer riesigen Krabbe, die Mauis magischen Fischhaken gestohlen hat, beweist sie ihren Mut. Gemeinsam reisen sie zu Te Ka und erkennen, dass sich hinter dem Dämon die aus dem Gleichgewicht gebrachte Te Fiti verbirgt. Sie geben das Herz zurück und heilen Te Fiti. Moana kehrt als erfahrene Seefahrerin zu ihrem Clan zurück und beginnt ein neues Zeitalter der Seefahrerei.

Es ist in den vergangenen 30 Jahren extrem aus der Mode gekommen, solche einfachen Plots, die einst als der heilige Gral der Drehbuchstruktur galten, eins zu eins umzusetzen. So einfach kann man es sich ja nicht mehr machen, ist schließlich einer der Leitsätze der Postmoderne. Deswegen gehört heutzutage in den Werkzeugkasten der Plotstrukturen mindestens eine unvorhersehbare Wendung, die alles bisher geglaubte auf den Kopf stellt, oder – noch wichtiger – ein deutliches Hinterfragen der Held*innen-Figur. Diese darf längst nicht mehr einfach “auserwählt” sein, stattdessen gehört die gesamte psychologische Komplexität des Freien Willens gründlich hinterfragt.

Cleverness als Formel

Ich will nicht sagen, dass ich das schlecht finde. Es war in den 1990er Jahren an der Zeit dafür. Inzwischen ist die Cleverness bezüglich des Quest-Plots aber auch selbst schon zu einer Formel geworden. Man kann inzwischen fest davon ausgehen, dass wann immer Filme im ersten Akt etablieren, dass irgendetwas vorherbestimmt ist, sich im dritten Akt sicher zeigen wird, dass alles ganz anders ist – die wahre Liebe, etwa, die Prinzessin Anna rettet, ist nicht die eines Mannes, sondern die ihrer Schwester Elsa. Gleichzeitig haben die Filmemacher*innen aber häufig keine wirklich gute oder klare alternative Aussage, verstricken sich in Wischi-Waschi-Relativitäten oder müssen die Glaubwürdigkeit der Handlungsentwicklung sehr auf die Probe stellen, um an dem Punkt anzukommen, den sie erreichen wollen. An manchen Stellen scheint die Subversion der Erwartungen wichtiger geworden zu sein, als die Folgerichtigkeit der Handlung.

Worauf ich hinauswill: Ein traditioneller Quest-Plot ist verdammt befriedigend. Es gibt einen klaren Auftrag. Es gibt Proben, die bestanden werden wollen. Es gibt eine klare Auflösung. Es gibt dennoch immer auch Überraschungen. Natürlich verschiebt sich das Ziel des Auftrags zwischendurch. Verbündete stellen sich als Gegner heraus und umgekehrt. Te Ka ist kein Dämon, sondern nur die Herz-vermissende Te Fiti. Doch am Ende ist die Mission erfüllt und Held*in und Welt verändert. Mir ist klar, dass das mit Blick auf unsere Welt nicht sehr realistisch ist, aber es sorgt für eine deutlich befriedigendere Geschichte.

Eine Geburtstagstorte für Mando

Bei der aktuellen Staffel The Mandalorian, deren vierte Folge, die heute erscheint, ich noch nicht gesehen habe, hat mich der ähnlich simple Plot, der seit Folge 1 gesponnen wird, hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Irritation. Er erinnerte mich ein wenig an das Kinderbuch Eine Geburtstagstorte für die Katze, das aber auch nur eine alte Formel variiert: Petterson will Kuchen backen, stellt fest das er kein Mehl mehr hat. Also will er in die Stadt fahren, um neues zu holen, aber sein Fahrrad hat einen Platten. Um an das Flickzeug zu kommen, muss er in seinen Schuppen, doch der Schlüssel ist verschwunden. Um an den Schlüssel zu kommen, muss er einen Stier ablenken, der im Weg steht usw. Jedes Hindernis gebiert in seiner Überwindung ein neues. Am Ende jedoch lässt sich die ganze Kette zurückverfolgen und der Kuchen wird gebacken.

So ähnlich kommt es mir bei Mando auch vor. Er will nach Mandalore, um in den Quellen zu baden, doch der Planet ist verseucht. Also braucht er einen Roboter, doch dessen Schaltkreise sind kaputt. Also braucht er neue Schaltkreise, doch die gibt es nicht mehr. Am Ende von Folge 3 hatte er es mit einigen Hindernissen tatsächlich geschafft, in den Quellen zu – naja – baden. Der Auftrag ist eigentlich erfüllt, doch dahinter steht natürlich der größere Auftrag, die Mandalorianer wieder zu vereinen. Wird The Mandalorian seinen Quest-Plot fortsetzen? Oder wird alles noch viel komplizierter?