Fünf kanonische Filme, die meinen Blick auf das Kino verändert haben

“Klassiker sind nicht umsonst Klassiker” ist ein sehr nach Binsenweisheit klingender Satz, den ich nichtsdestotrotz immer wieder gerne sage. Denn manchmal scheint es mir, als sei er alles andere als selbstverständlich. In einer Zeit, in der wir das Überangebot der gesamten Kulturgeschichte irgendwo auf Abruf haben, neigen wir als Menschen trotzdem gerne dazu, uns dem einfachen, naheliegenden zuzuwenden.

Kanonische Filme, Klassiker aus der Zeit vor unserer Geburt hingegen haben – von einigen Ausnahmen abgesehen, die auf Ritualen beruhen wie Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, oder die “leicht” genug sind, um von uns in eine andere Schublade gesteckt zu werden, wie ein Laurel-und-Hardy- oder ein Disney-Film – den Ruf, grundsätzlich erstmal anstrengend zu sein. Sie sind alt, das heißt: sie sind irgendwie anders. Sie entsprechen nicht unseren antrainierten Sehgewohnheiten. Und dann sitzen wir vor unserem Netflix-Menü und wählen doch lieber eine Komödie von 1992 als eine von 1962, obwohl die von 1992 eine viel schlechtere Stern-Wertung hat und die von 1962 als absoluter Klassiker gilt.

Irgendwie wichtig

“Klassiker sind nicht umsonst Klassiker”, sage ich unter anderem immer dann, wenn mich jemand fragt, warum oder welche “alten” Filme ich mag. Denn gerade im Kino ist das eine Erfahrung, die ich immer wieder gemacht habe. Nur sehr wenige Filme sind in den Kanon der besten Filme aller Zeiten eingegangen, weil sie “irgendwie wichtig” aber ansonsten todlangweilig sind. Sicher, es gibt sie, die sperrigen, anstrengenden Kunstfilme, durch die man sich nur durchquält, weil man muss oder weil man sollte. Die meisten Klassiker aber haben sich ihren Namen deshalb verdient, weil sie ohne jede Einschränkung gute Filme sind. Sie sind spannend oder unterhaltsam, verstörend oder provozierend, angenehm rätselhaft oder saukomisch. Egal wie alt sie sind.

In meiner Beschäftigung mit Film, erst als interessierter Teenager, dann als Filmwissenschaftsstudent und schließlich als Autor und Journalist, bin ich immer wieder einzelnen Filmen begegnet, die wie kleine Erweckungserlebnisse waren. Nicht nur, weil sie gut waren, obwohl sie nicht mehr meinen aktuellen Sehgewohnheiten entsprachen, sondern weil mir, während ich sie sah, plötzlich irgendetwas klar wurde. Sie stellten meine Vorstellung von bestimmten, das Kino betreffenden Dingen auf den Kopf. Sie ließen mich etwas verstehen, was ich vorher immer nur geahnt hatte. Sie zeigten mir den Ursprung (oder zumindest einen Ursprung) von Elementen, die ich in neueren Filmen schon oft gesehen hatte – als Mutterschiff, das immer noch da draußen herumfliegt.

Fünf von diesen Filmen möchte ich heute mit euch teilen. Ich erlaube mir, ein bisschen gefühlte persönliche Weisheit weiterzugeben. Und wenn ihr zwar filmbegeistert seid, aber es eigentlich nicht so mit Klassikern habt. Oder nur Klassiker in bestimmten Sparten guckt, zum Beispiel Science-Fiction, dann tut mir den Gefallen. Guckt diese fünf Filme. Vielleicht öffnen sie euch genauso die Augen wie mir.

(Die Liste erfolgt in chronologischer Reihenfolge der Entstehung der Filme, nicht in der Reihenfolge, in der ich sie gesehen habe.)

1. Броненосец Потёмкин (Panzerkreuzer Potemkin), Sergei Eisenstein, 1925

Wer sich irgendwie mit Film beschäftigt, dem läuft dieser Titel irgendwann über den Weg. Vielleicht hat sie schon einmal von “Attraktionsmontage” gehört oder er hat Ausschnitte aus der oder Parodien auf die Sequenz auf den Stufen von Odessa gesehen. Als ich 2005 in meinem Erasmus-Semester in Edinburgh den Screeningraum betrat, hatte ich mit dem Stummfilmkino eigentlich innerlich schon abgeschlossen. Ich konnte selbst über Chaplin immer schon nur ein bisschen schmunzeln und so schön ich zum Beispiel Metropolis designt oder Nosferatu kadriert fand – Stummfilme verlangen einem schon eine echte Umstellung ab, vor allem, wenn man sie nicht im Kino sieht. Ohne die Tonebene, die einem immer wieder neue Reize bietet, mit einem Schauspielstil, der mit dem Tonfilmschauspiel nur wenig zu tun hat (einer der Gründe, warum moderne Stummfilmparodien oft so fake wirken, es braucht eben mehr als Texttafeln und Klimperpiano), sind die meisten Stummfilme schon eher Studienobjekte als Erlebnisse.

Aber dann kam Sergei Eisenstein und blies mich in nur knapp über einer Stunde Laufzeit völlig aus den Socken. Panzerkreuzer Potemkin widersprach allem, was ich bis dato über das Stummfilmkino zu wissen glaubte. Intellektuell schießt er vielleicht nicht immer genau in die Richtung, in die er zielt, aber dieser Film ist einfach ein Feuerwerk aus Eindrücken, Rhythmus, Bildern und Drama. Er zeigt, dass stummer Film viel viel mehr sein kann als abgefilmtes Theater. Und zum Glück gibt es noch viel mehr stumme Filme, die auch für heutige Augen noch reizvoll genug sind. Man muss sie nur finden.

2. The Big Sleep (Tote schlafen fest), Howard Hawks, 1946

“Film noir und Neo Noir” hieß das Seminar bei Marcus Stiglegger, das ich gleich im ersten Semester meines Filmwissenschafsstudiums in Mainz besuchte, und The Big Sleep war einer der ersten Filme, die ich dafür guckte. Das große Erweckungserlebnis hier war Humphrey Bogart, beziehungsweise nein: Es war Humphrey Bogart als Philip Marlowe. The Big Sleep führte mir mit einer unglaublichen Klarheit zwei Dinge gleichzeitig vor Augen: 1. Warum Humphrey Bogart einer jener Stars ist, die in keinem Bild mit dem Thema “Hollywoodstars” fehlt und 2. Woher mein inneres Bild von Privatdetektiven stammt.

Wer will, darf jetzt “Aber The Maltese Falcon!” brüllen, der ja schon einige Jahre zuvor ähnliche Elemente kombiniert. Und sicher stammt Bogarts Starruhm eher aus Casablanca, der auch älter ist. Aber keiner der beiden Filme hat Lauren Bacall, die zu diesem Zeitpunkt bereits mit Bogart liiert war, und die einfach Funken von der Leinwand sprühen lässt, wenn sie “You know how to whistle, don’t you?” mit ihm herumfrotzelt*. The Big Sleep hat mich verstehen lassen, warum manche Schauspieler Stars sind und andere nicht. Und das war damals für mich eine völlig neue Erkenntnis.

3. À Bout De Souffle (Außer Atem), Jean-Luc Godard, 1959

Ich wiederhole mein Geständnis: Vor Beginn meines Studiums hatte ich den Begriff “Nouvelle Vague” noch nie gehört. Kaum hatte ich mit dem Studium angefangen, flog er mir aber natürlich ständig um die Ohren. Und als ich À Bout de Souffle dann eines Tages endlich sah, jenen Film, der wie kein anderer als Startschuss der Bewegung gilt, wusste ich auch, warum alle Fiwis ständig davon sprachen. Auf irgendeine Weise repräsentiert Godards Debütfilm den unterschied zwischen “neu” und “alt” im Kino.

Geboren aus dem Willen eines Kritikers, bei seinem eigenen Film alles anders zu machen, rebelliert er gegen fast jede Konvention des Kinos. Nicht nur wegen seiner berüchtigten jump cuts sondern auch, weil er so tut als wäre er ein Genrefilm (die Haupthandlung dreht sich um einen Kleinganoven auf der Flucht), aber eigentlich keiner ist. Weil er zu großen Teilen aus der Hüfte gedreht wurde, ohne Sets und Lichtaufbauten. Weil er über weite Strecken nichts anderes zeigt, als das Herumalbern zweier Liebender. Weil er Figuren zeigt, die sich nach Filmstars der Vergangenheit modeln. Und er macht das alles ohne jeden schweren Kunst- oder Avantgarde-Gestus. Er ist witzig, frech, leichtfüßig und durchgeknallt sympathisch, der Pulp Fiction seiner Generation. Alle “neuen Wellen”, die danach kamen, egal wo auf der Welt, müssen sich für mich an À Bout de Souffle messen lassen – und kaum eine von ihnen hat jemals wieder diese anfängliche Leichtigkeit erreicht, als das Kino einfach mal so entschied, dass es fortan anders sein wollte.

4. Annie Hall (Der Stadtneurotiker), Woody Allen, 1977

Annie Hall ist tatsächlich der Film aus dieser Liste, den ich als erstes gesehen habe. Irgendwann zwischen meiner letzten Abiprüfung und meiner ersten Semesterwoche anderthalb Jahre später, als ich erstmals damit anfing, mich gezielt mit Filmklassikern zu beschäftigen und sie mir auf VHS-Kassette aufzunehmen. Ich kannte den Namen Woody Allen, ich hatte Ausschnitte aus Everything You Always Wanted to Know About Sex gesehen, und ich kannte dieses merkwürdige Wort “Stadtneurotiker”, aber viel mehr wusste ich nicht. Meine Güte, was habe ich gelacht.

Da steht dieser Typ ganz am Anfang des Films und spricht direkt in die Kamera. Später holt er einen bekannten Menschen (nein, ich wusste noch nicht, wer Marshall McLuhan war) plötzlich in die Szene, als er ihn braucht. Er redet mit einer Frau, in die er verknallt ist, und es erscheinen Untertitel, was die beiden wirklich sagen. Das ganze ist schrecklich albern und gleichzeitig schrecklich klug. Als jemand, der nie allzuviel mit körperlicher Komik anfangen konnte (siehe oben) und auf einer Diät aus Otto Waalkes und Jürgen von der Lippe großgeworden war, war diese Art von intellektuellem, sich selbst auf die Schippe nehmendem, Meta-Humor eine echte Erweckung. IN EINEM FILM, DER 25 JAHRE ALT WAR. Ich war so glücklich danach, einfach weil ich plötzlich wusste, dass es solche Filme gibt.

5. Festen (Das Fest), Thomas Vinterberg, 1997

Als einziger Film in dieser Aufstellung ist Festen nach meiner Geburt entstanden. Von meinen Hollywood-geprägten Mainstream-Sehgewohnheiten könnte er trotzdem nicht weiter entfernt sein. Obwohl er mit einigen seiner selbst auferlegten Dogma 95-Regeln direkt wieder bricht, ist er trotzdem wiederum der bewusste Versuch, das Vertraute zu verändern. Nicht unbedingt auf der Handlungsebene, denn Festen ist psychologisch stimmig und kalkuliert schockierend, aber doch vor allem durch eine völlig neu entfesselte Ästhetik, geprägt von Anthony Dod Mantles Handkamera und der fehlenden Ausleuchtung.

Festen findet kreative Lösungen für selbstgemachte Probleme und zwingt sich so seine eigene Frische auf, aber weil er sich genug Bodenständigkeit bewahrt, driftet er nie in kryptisches Kunstkino ab. Dass Filme das können – kunstvoll und ungewöhnlich sein ohne das im Zweifelsfall unerfahrene Publikum auszusperren – hat mich tief beeindruckt, damals Anfang der nuller Jahre. In vielen Filmen suche ich immer noch danach.

Aktuell und passend dazu: Lucas Barwenczik über die Frage “Altern Filme?”

* Peter “Noster” Schneider hat mich auf Twitter freundlicherweise darauf hingewiesen, dass die Pfeifzeile aus To Have and Have Not stammt, dem ersten Film, den Bogart und Bacall zusammen gemacht haben. Ich habe beide gesehen, aber durcheinandergebracht (weil ich auch beide mag). Schuld ist, glaube ich, Nik Kershaw mit dem Song “Bogart”, an den meine Erinnerung etwas frischer ist. Dort heißt es nämlich “Wish I could whistle like The Big Sleep‘s famous lover”. Shame on you, Nik und danke, Peter.

Deadpool ist erst der Anfang des pubertären Superheldenkinos

Ich habe mich lange nicht mehr mit 13-Jährigen unterhalten. Also mache ich jetzt das, was man eigentlich nicht machen sollte und was trotzdem alle Journalisten machen. Ich extrapoliere aus meiner eigenen Erfahrung. Als ich 13 war, das war 1996, habe ich unter anderem folgende Dinge getan. Ich hatte eine Band (die nie aufgetreten ist) mit einem einzigen, auf lustig getrimmten Lied, das beschrieb, wie Menschen auf grausame Art zu Tode kommen. Ich spielte einen Rollenspielcharakter namens Thorn, einen Typ im langen Ledermantel mit Sonnenbrille, der Wolverine-ähnliche Krallen besaß (und sehr mysteriös war). Ich behauptete nach dem Umzug in eine neue Stadt, ich hätte an meinem letzten Wohnort eine feste Freundin (was nicht stimmte). Ich las in einem “Coupé”-Heft, dass ich irgendwie bekommen hatte, über die sexuellen Vorlieben versauter Luder (oder so ähnlich).

Ich hatte dann irgendwann mal ein Gespräch mit meinen Eltern, die mich fragten, ob ich das eigentlich wirklich witzig finde mit den ganzen Toden, was ich weinend verneinte. Ich habe irgendwann angefangen, im Rollenspiel Charaktere zu spielen, die eher meiner verkopften Natur entsprachen. Ich hatte eine real existierende Freundin. Ich schäme mich für nichts, was ich mit 13 getan habe, denn ich war erst 13. Tod, Gewalt, Liebe und Sexualität waren merkwürdige Unbekannte, mit denen ich noch nicht wirklich in Berührung gekommen war. Es war mir aber wichtig, nach außen zu zeigen, dass sie mir nichts anhaben konnten. Also tat ich abgebrüht, während ich mich heimlich schrecklich davor fürchtete.

Die zwei Schulen des Superheldenfilms

Der moderne Superheldenfilm hat in der Zeit seit seiner Geburt Ende der 70er Jahre diverse Stadien durchlaufen und ein paar Eckpfeiler eingeschlagen, zwischen denen sich die meisten Filme, die so entstehen, irgendwo einsortieren lassen. Grob vereinfacht nenne ich die beiden Haupt-Schulen des 21. Jahrhunderts mal die Nolan/Goyer-Schule, die andere die Whedon/Singer-Schule. Nicht ganz zufälligerweise korrespondieren die beiden Schulen auch mit den beiden größten amerikanischen Comic-Verlagen DC und Marvel und mit Autorenströmungen, die es dort gab. Zum Beispiel mit Autoren wie Frank Miller oder Chris Claremont. Immer noch vereinfacht sieht die eine Schule Superhelden als verzweifelte Menschen in einer nihilistischen Welt, die sich entscheiden, die Welt irgendwie ein bisschen weniger beschissen zu machen; die andere sieht sie als hoffnungsvolle Menschen in einer Welt voller Graustufen, die sich bemühen, das Richtige zu tun, obwohl sie fehlbar sind. Beiden Schulen gemein ist, dass sie versuchen, das fantastische Superheldentum irgendwie in dem zu verankern, was sie für “Realität” halten. “Realistisch” bedeutet allerdings für die einen “Hart und grausam”, für die anderen “verwirrend und vielschichtig”. Ich finde, beide Schulen haben ihre Berechtigung.

Beide Schlagrichtungen legen diese Maßstäbe unter anderem auch deswegen an ihr Werk an, würde ich behaupten, weil sie beweisen wollen, dass Superhelden durchaus etwas “Erwachsenes” sein können. Die ursprüngliche Zielgruppe von Superheldencomics war seit den 30er Jahren minderjährig, wahrscheinlich noch nicht einmal jugendlich, doch nachdem Comics in den 70ern ihr Massenpublikum verloren und langsam ein Nischenprodukt wurden, wuchsen die Comics mit ihren Lesern mit. Spätestens in den 80ern ging es den oben genannten Autoren aktiv darum, zu beweisen, dass auch Superhelden komplexe Charaktere sind, deren Geschichten etwas über unsere Welt aussagen können. Sie sind nicht bloß etwas für Kinder mit einfachen Moralvorstellungen und sie sind nicht bloß alberner, amüsanter Camp.

Der Stinkefinger im Kino

Doch die Comicbranche ist beileibe nicht nur bevölkert von Menschen, die erwachsene Geschichten erzählen wollen. Insbesondere in den 90ern regierte in Verlagen wie Image Comics auch das große Verlangen, mit den Bildergeschichten einfach nur eine diffuse Vorstellung von “cool” und “extrem” zu bedienen und dem Rest der Branche den Finger zu zeigen. Jetzt, zwanzig Jahre später, wo der Superheldenfilm als zwar nicht unbedingt immer anspruchsvolles, aber doch erwachsenes Genre etabliert ist, kommt diese Attitüde auch ins Kino.

Rob Liefeld, der Schöpfer des Comichelden Deadpool – mit dem Ryan Reynolds diese Woche im Kino startet – beschreibt dessen Genese Anfang der 90er auf “io9” als “Spider-Man with guns and swords”. Sein Partner Fabien Nicieza ergänzt:

“Unfortunately, his brain is my brain, in all its sad, pathetic glory,” Nicieza said. “Most of us have a filter. If I said a tenth of the things I think I’d get my ass kicked every day. Deadpool is that without the filter. He has the biological excuse that he can’t filter himself, so he can say the most inappropriate things, go off on complete tangents, and pull cultural references out of his ass all in one panel.”

Mit anderen Worten: Liefeld und Nicieza koppelten eine Wunschvorstellung im Look (Spider-Man + Waffen) mit einer Wunschvorstellung in der Einstellung (Sagt, was immer ihm in den Kram passt, “herrlich politisch inkorrekt”). Das Ergebnis kam bei den Fans extrem gut an. Deadpool lässt sich nichts gefallen und er kann alles. Er ist mysteriös und respektlos. Er ist ein Söldner, das heißt er hat keine Prinzipien. Wenn ihm etwas im Weg steht, macht er entweder einen gemeinen Witz drüber oder er schießt es zu Klump. Kurzum: Er ist die Wunschvorstellung jedes Teenagers, oder – wie Manfred Riepe es in “epd Film” ausdrückt: eine “Masturbationsfantasie für kleine Nerds, sich ganz groß erleben zu dürfen.

Nicht alle Kritiker gehen mit Deadpool so hart ins Gericht wie Riepe. Aber fast jeder erwähnt, wie sehr der Film auf pubertäre Fantasien zurückgreift. Sam Adams (“Indiewire”) schreibt: “If I were 13 years old, Deadpool would be the coolest thing I’d ever seen, (…) it indulges every vice of “mature” superhero comics while simultaneously sending them up.” Es ist ein gigantisches “Fuck You” an Mama und Papa.

Absolut loco

Doch Deadpool ist nur einer von zwei Superheldenfilmen, die dieses Jahr die pubertäre Vorstellung von Coolness zurück ins Kino schieben wollen (Spawn, eine Image-Comics-Verfilmung, hatte es in 90ern auch schon mal versucht). Der andere ist Suicide Squad von Regisseur und Autor David Ayer. Auch hier besteht der “rebellische” Gedanke hauptsächlich darin, dass die “Helden” gleichzeitig völlige Psychopathen sind. Kriminelle, die widerwillig von der Regierung angeheuert werden um jene zu töten, die noch schlimmer sind als sie selbst. Große Teile des erfolgreichen Trailers zur Musik von “Bohemian Rhapsody” werden darauf verwendet zu etablieren, wie absolut loco diese “Worst Heroes Ever” sind, allen voran Margot Robbie als durchgeknalltes Clownschulmädchen Harley Quinn.

Protagonisten wie Deadpool und die Suicide Squad – der eine übrigens von Marvel, die anderen von DC, die Herkunft spielt also keine Rolle – repräsentieren genau jene Ecke der Nerdkultur, von denen sich manche Nerds heute gerne distanzieren würden. Sie sind fleischgewordene Fantasien von Männern mit “arrested development”, stehengeblieben auf dem Niveau eines 13-Jährigen, die sich immer noch vor der komplexen Welt der Erwachsenen fürchten und dagegen ankämpfen, indem sie Gewalt und Sex endlos fantastisch überhöhen. Diese Männer, und es sind eigentlich immer Männer, sind eindeutig die Zielgruppe von Deadpool, der ein R-Rating (ab 17) in den USA bekommen hat. Und sie stehen nicht nur hinter solchen Comics, sie stehen auch hinter Gamergate und den “Sad Puppies“. Es sind die Protagonisten des Ärzte-Songs “Der Infant“: “Jetzt bin ich endlich groß und die Hölle bricht los.”

Nicht kindlich, sondern ein paar ätzende Jahre älter

Vielen Filmen wird heutzutage teilweise völlig zurecht vorgeworfen, dass sie ihr Publikum entmündigen und ihm eine tief in Nostalgie getauchte Welt zeigen, die vor allem kindliches Erstaunen hervorrufen soll. Doch Deadpool und Suicide Squad sind nicht kindlich, sie sind ein paar ätzende Jahre älter. Und welche Auswüchse diese pubertären Ideen annehmen können, lässt sich vielleicht am ehesten an einem Zeichenwettbewerb festmachen, den DC Comics vor anderthalb Jahren ausschrieb. Fans sollten ein Panel eines kommenden Hefts mit folgender Beschreibung zeichnen:

Harley [Quinn] sitting naked in a bathtub with toasters, blow dryers, blenders, appliances all dangling above the bathtub and she has a cord that will release them all. We are watching the moment before the inevitable death. Her expression is one of “oh well, guess that’s it for me” and she has resigned herself to the moment that is going to happen.

Eine nackte Frau, die Selbstmord begeht. Extrem cool, extravagant und grenzüberschreitend – wenn man 13 ist. Dem Rest der Welt war es dann aber doch etwas zu bescheuert und in letzter Instanz auch gefährlich, gerade für echte Teenager. DC entschuldigte sich pflichtschuldig, aber wohl eher, um die Kritiker zu besänftigen. Es gibt schließlich noch genug Leute da draußen, die es für den ultimativen Ausdruck von Abgefahrenheit halten, sich “damaged” auf die Stirn zu tätowieren.

Die kleinen Preise

Im Booklet von Michael Jacksons Greatest-Hits-Album mit dem so genial hybrisschwangeren Titel HIStory – Past, Present and Future, Book 1 (zu dem es nie ein Book 2 geben würde) findet sich eine Auflistung aller Preise, die der King of Pop jemals gewonnen hat. Und schon damals 1995, als ich die Liste in meinem Kinderzimmer ehrfurchtsvoll durchlas, wunderte ich mich, dass dort auch mehrere “Bravo Otto: Gold Award” verzeichnet sind. “Wirklich”, dachte ich, “dafür interessiert sich Michael Jackson? Dass er einen goldenen Bravo-Otto gewonnen hat?”

Preise sind so eine Art notwendiges und manchmal auch amüsantes Übel im Zirkus der Kulturproduktion. Sie sind Richtschnur für die Außenstehenden, Marketinginstrument und möglicherweise wichtige Booster für die Karriere einzelner Künstler. Sie sind Anerkennung der eigenen Branchengenossinnen und Anlass für aufwändige Galas und rauschende Feste.

Wie bei den Bambi-Galas

Wenn man als Künstler relativ am Anfang steht und kein reinster “l’Art pour l’Art”-Mensch ist, freut man sich mit Sicherheit über jeden Preis, den man gewinnt. Genug Eindruck gemacht zu haben, dass andere Menschen einen dafür ehren wollen, das ist schon was. Aber wie ist es, wenn man etwa als Filmstar schon auf Oscar-Niveau angekommen ist? Freut man sich dann eventuell noch über einen Gilden-Award, weil dort nur die eigene Branche wählt? Freut man sich über eine Auszeichnung in einem Gebiet, wo man vermeintlich noch nicht bekannt war, zum Beispiel in Asien? Oder könnte einem das eigentlich nicht egaler sein, wo man überall in Abwesenheit kleine Preise verliehen bekommt, in jeder mickrigen Filmzeitschrift der Welt beispielsweise. Undotierte Preise natürlich.

Ich veröffentliche jedes Jahr meine persönliche Bestenliste, weil ich weiß, dass sie manche Leute interessiert aber hauptsächlich, weil ich selbst gerne dokumentiere, welche Dinge mich beeindruckt haben. Aber einen Preis für den besten Film vergeben? Wem soll das nützen? Ist das dann so wie bei den Bambi-Galas, wo erstmal geguckt wird, wen man alles als Gast buchen könnte und sich dann einen Preis ausdenkt, den man ihm geben könnte?

Schreibt man “Badass” nicht zusammen?

In nicht ganz so vielen Worten habe ich das alles Micha Scharsig geschrieben, als er mich gefragt hat, ob ich dieses Jahr in der Jury des “Filmtipp-Award” dabei sein wollte, bei dem Micha jedes Jahr eine Gruppe von Bloggerinnen und Bloggern koordiniert, um eine Reihe von Preisen zu vergeben. In den letzten Wochen habe ich mich also durch eine Liste von 33 mehr oder weniger abstrusen Kategorien geschnauft (schreibt man “Badass” nicht zusammen?), einem Nominierungsprozess beigewohnt, der im besten Fall schwierig war, weil die wenigsten Teilnehmerinnen der Jury überhaupt genug Filme gesehen hatten (inklusive mir), um sich nicht einfach nur an dem zu orientieren, was alle anderen machen. Zu guter Letzt habe ich mich noch heftig darüber gestritten, ob es chauvinistisch ist, Alicia Vikander für Ex Machina nur in der Kategorie “Beste Nebenrolle” zu nominieren, obwohl sie die wichtigste Figur des ganzen Films ist.

Niemand von denen, die hier am Ende gewinnen werden, wird sich dafür interessieren, dass ihnen eine beliebige Runde deutscher Filmblogger den Filmtipp-Award verliehen haben. Wenn also zum Beispiel Leonardo DiCaprio “Bester Schauspieler” werden sollte, kratzt ihn das vermutlich noch weniger als die Auszeichnung der Utah Film Critics Association.

Also: Für wen machen wir das? Die Antwort ist klar: für uns. Micha veranstaltet das Ganze vermutlich, weil er das Gefühl einer Preisverleihung mag. Ich mache mit, weil alles, was die Filmblogosphäre zusammenbringt, gut ist. Die Diskussionen, egal wie sinnlos sie waren, haben die Community gestärkt und Micha hat sich die Mühe gemacht, diese Communitystärkungsaktion mit 29 Filmblogmenschen zu veranstalten. Vielleicht sollte man dafür lieber ihm einen Preis geben. Michael Jackson, Gott hab ihn selig, hat bestimmt noch irgendwo einen goldenen Bravo-Otto herumstehen.

Hier geht es zu den Nominierungen des Filmtipp-Award

Berlin, New York und Real Virtuality

“Wie stellst du dir Zeit vor?” – Eine Frage, die ich viel zu selten stelle. Für mich ist Zeit eine Art frei schwenk- und zoombares 3D-Modell, das quer durch den Raum läuft. Jedes Jahr ist ein Ring, die Ringe aneinandergereiht geben ein Band, das ungefähr bis 2000 vor unserer Zeitrechnung zurückreicht (danach wird es unscharf). Bei genauerer Betrachtung bestehen die Ringe aus Bögen, jeder Bogen ist eine Woche. Am Wochenende hat ein Bogen seinen tiefsten Punkt. Es ist schwer zu beschreiben, aber so funktioniert mein Verstand nunmal.

Als ich die Frage tatsächlich mal jemandem gestellt habe, sagte mir diese Person, sie stelle sich die Zeit eher vor wie einen Kalender; ihren Kalender. Ich fand das schräg. Da hat man die unendliche Gestaltungsmöglichkeit seines Verstandes zur Auswahl, und man entscheidet sich für Skeuomorphismus und modelt seine Vorstellung nach einem realen Objekt.

Mein innerer Stadtplan

Doch dann fiel mir auf, dass ich es bei meiner Vorstellung von Raum genauso mache. Wenn ich an einen neuen Ort komme, beginne ich, in meinem Kopf einen Stadtplan anzulegen. Mir gibt das Sicherheit und es hilft mir bei der Orientierung. Ich gehe oder fahre eine Straße hinunter und diese Straße – im Bezug zu anderen Straßen und Orten drumherum – wird dann in meinem Kopf geloggt und meinem inneren Stadtplan hinzugefügt. In Berlin war ich mir lange unsicher, wie genau sich Zoo, Potsdamer Platz und Alexanderplatz eigentlich genau zueinander verhalten, weil ich immer nur mit der U-Bahn von Ort zu Ort gefahren war und U-Bahnen töten jede räumliche Orientierung. Erst seit ich hier wohne, die Strecke auch mal per Bus zurückgelegt und mit Stadtplänen verglichen habe, besitze ich eine ungefähre Vorstellung.

Berlin sieht jetzt für mich ungefähr so aus. Ich kenne die Innenstadt einigermaßen, die Ecke unten links wo ich jetzt wohne und die Ecke unten rechts, wo ich mal längere Zeit verbracht habe. Ich habe quasi keine Ahnung was außerhalb des S-Bahn- und Autobahnrings passiert und das Zentrum von Kreuzberg ist ein Mysterium.

© Google Maps

Screenshot: Google Maps

Allerdings, möchte ich einwenden, ist ein Stadtplan natürlich auch wirklich nur eine Abstraktion dessen, was wir sehen, wenn wir eine Stadt tatsächlich aus der Luft betrachten. Der Skeuomorphismus in meinem Kopf geht also auf die Realität zurück, im Gegensatz zu einem Kalender, der weniger die Zeit selbst repräsentiert als das, was sie repräsentiert.

Die Situation in New York

Bei New York war die Situation ein bisschen anders. Ich kannte New York aus hunderten Filmen, Serien und Büchern, die mir immer wieder Eindrücke der Stadt gezeigt hatten. Hinzu kommt, dass New York so unfassbar einfach aufgebaut ist, dass es eigentlich ein Leichtes sein sollte, einen inneren Stadtplan zu zeichnen. Manhattan ist ein langer Zapfen, oberhalb davon ist die Bronx, oben rechts ist Queens, unten rechts ist Brooklyn. In der Mitte ist der Central Park. Die Straßen sind durchnummeriert und rechtwinklig! Einfacher geht es gar nicht.

Ich wusste trotzdem nicht, wie New York ist, bis ich 2011 dort war. Ich wohnte bei Bekannten in Queens, fuhr jeden morgen mit der Bahn in die Stadt und schritt große Teile Manhattans zu Fuß ab. Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl, an all diesen Orten vorbeizukommen, die einem scheinbar so bekannt vorkamen: Brücken im Central Park, die Billboards am Times Square, Battery Park am Fuß der Halbinsel, wo die Fähren ablegen, das Museum of Natural History, 30 Rock.

A Couple of Blocks Away

Aber es war notwendig, einmal wirklich dort gewesen zu sein, um ein Gefühl für die räumlichen Dimensionen zu bekommen. Wie weit ist “just a couple of blocks away”, was man immer wieder in US-Medienerzeugnissen hört. Wie hoch sind die Gebäude entlang der Madison Avenue wirklich? Wie riesengroß ist der See im oberen Teil des Central Park. Wieviel kleiner wirkt Manhattan, wenn man plötzlich durch das East Village spaziert, obwohl es direkt neben den protzigen Bürotürmen des Financial District liegt. Und wie titanenhaft sind bitteschön diese Brücken über den East River?

Einmal dort gewesen jedoch klickte plötzlich alles zusammen wie ein gigantisches Puzzle. Nur eine gute Woche nach meinem New York-Besuch sah ich Nick and Norah’s Infinite Playlist im Fernsehen, ein netter kleiner Indiefilm, in dem die Titelcharaktere eine Art Road Trip durch New York erleben. Und nicht nur rief ich plötzlich ständig “Da war ich” (zur unendlichen Freude meiner Mitzuschauer, da bin ich mir sicher), sondern ich hatte plötzlich auch das Gefühl, mich viel besser in den Film hineindenken zu können. Ich konnte die zweidimensionalen Bilder auf dem Bildschirm übersetzen in dreidimensionale Bilder in meinem Kopf.

Real Virtuality

Filme konstruieren künstliche Räume, das ist eine der ältesten Erkenntnisse der Filmtheorie. Wer nacheinander einen Menschen zeigt, der von links nach rechts läuft, einen weiteren Menschen, der von rechts nach links läuft, ein Gebäude und dann zwei Arme, die einander die Hand geben, wird dadurch in 90 Prozent aller Menschen den räumlichen Eindruck erwecken, die beiden Menschen seien aufeinander zugegangen, um sich vor dem Gebäude die Hand zu schütteln – auch wenn die Aufnahmen an völlig unterschiedlichen Orten entstanden sind, das Gebäude ein Modell ist und die Hände anderen Menschen gehören als den zuvor gezeigten. Diese künstlichen Räume existieren allerdings nur innerhalb des Films, wir können sie nicht betreten, weil sie nicht existieren. Auch nicht, wenn wir alle oben genannten Drehorte nacheinander besuchen würden.

Unter anderem deswegen finde ich so spannend, was zurzeit im Bereich Virtual Reality passiert. Die dort erschaffenen Räume sind auch nicht real, sie sind digitale Simulationen. Aber sie besitzen die gleiche Räumlichkeit wie ein realer Ort. Ich kann mir die Brille aufsetzen und den Ort erfahren, so wie ich damals 2011 nach New York geflogen bin, um den Ort zu erfahren. Das bedeutet auch, dass wir vom gleichen Ort reden werden, wenn wir über unsere VR-Erlebnisse sprechen. Es wird nicht mehr so sein, wie wenn wir über Filme reden, wo sich jeder einen eigenen künstlichen Raum zusammenbaut. Wie wenn wir über Zeit sprechen, dass der eine einen Kalender sieht und die andere ein Band im endlosen Weltall. Es wird hoffentlich wie Theater, wo wir alle mittendrin stehen. Real Virtuality. Ich kann es kaum erwarten.

Passenderweise gibt es übrigens inzwischen ein VR-Produkt namens Real Virtuality, das mehreren VR-Nutzern erlaubt, gleichzeitig die gleiche Simulation zu erleben. Ich habe mein Blog also genau richtig benannt.

Meet the Bloggers – Berlinale 2016

Letztes Jahr konnte ich leider nicht dabei sein, aber dafür dieses Jahr umso mehr! Zum vierten Mal gibt es während der Berlinale ein Treffen für alle, die irgendwas mit Film und Internet machen. Das Haus der 100 Biere/Mommsen-Eck liegt günstig in der Nähe der Festivalkinos am Potsdamer Platz und bietet genug Raum für einige Blogger_innen, Podcaster_innen, YouTuber_innen und alle anderen, die bei einem Getränk Freundschaften für’s Leben schließen wollen.

Am 13. Februar 2016 ist ab 17 Uhr ein Tisch auf den Namen “Peschel” reserviert. Hier könnt ihr auf Facebook euer Kommen ankündigen.

Sollten Agenturen oder sonstige professionelle Blogger-Kontaktmenschen Interesse haben, zu diesem Treffen zu kommen oder etwas dazu beizutragen, dürfen Sie sich gerne bei mir melden.

Die Lieblingsfilme der Filmblogosphäre 2015

Ab dem dritten Mal ist es eine Tradition! Wie schon in den vergangenen zwei Jahren habe ich die Tage seit Neujahr damit zugebracht, knapp 50 deutschsprachige Filmblogs nach Top 10-Listen für das vergangene Jahr zu durchsuchen und daraus in einer großen Tabelle eine gemeinsame Hitliste zusammenzurechnen. Details zur Wertung und ein Link zur Tabelle am Ende des Artikels.

Ich muss zugeben, dass die Liste nur wenige Überraschungen bereit hält. Am weitesten oben sind wie immer Filme platziert, die einfach zu sehen waren und den nötigen “Buzz” mitbrachten, um den geneigten Filmfreund oder die geneigte Filmfreundin auch ins Kino zu treiben. Wie schon im vergangenen Jahr schwebt ein Film gottgleich mit großem Abstand über dem Rest: Mad Max: Fury Road hat es geschafft, Genrefans, Blockbuster-Sympathisantinnen und Filmkunst-Liebhaber gleichermaßen anzusprechen. Es gab kaum eine Liste, auf der George Millers Actionballett nicht unter den ersten zehn Filmen auftauchte.

Auf den restlichen Plätzen der Top 10 zeigt sich der tendenzielle Hang der Blogosphäre zum Genre- und Effektkino, auch bei Victoria oder Birdman, wo der ganze Film ein Special Effect ist. Beachtlich ist die hohe Platzierung von Star Wars: The Force Awakens – die Freude über die Rückkehr der Reihe scheint über die Ähnlichkeit des Films mit seinen Vorgängern triumphiert zu haben. Der “Geheimtipp”, weil einzige nicht “High Concept”-Film in der Top 10 ist sicher das Indie-Gruselett It Follows, das anscheinend auch viele überzeugt hat, die nicht regelmäßig Horrorfilme konsumieren.

Der große Konsens an der Spitze sollte übrigens auch dieses Jahr nicht davon ablenken, dass in der Blogosphäre durchaus ein breites Spektrum des Filmgeschmacks zu Hause ist. Insgesamt landeten immerhin 156 verschiedene Filme in den 49 Top Tens, die in die Wertung einflossen – und dann gibt es natürlich noch diejenigen, die das Jahr sowieso lieber unquantifizierbar Revue passieren lassen, etwa Lena oder die Autoren von “Cargo“.

1. Mad Max: Fury Road

© Warner Bros.

2. Victoria

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3. Ex Machina

© Warner Bros.

4. Star Wars: The Force Awakens

© Disney

5. Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance)

© 20th Century Fox></p>
<h3>6. Whiplash</h3>
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7. It Follows

© UFA

8. Inside Out

© Disney

9. The Martian

© 20th Century Fox

10. Carol

© DCM

11. Sicario
12. Kingsman: The Secret Service
13. Inherent Vice
14. Steve Jobs
15. 45 Years
16. Leviathan
17. The Look of Silence
18. Love
19. Bande de filles
20. Youth und Ich seh, Ich seh

Zur Methode: Datengrundlage sind insgesamt 49 Listen oder Lieblingsfilm-Nennungen aus deutschsprachigen Filmblogs. Grundlage waren das grandiose Filmblogverzeichnis auf “SchönerDenken” und einige Ergänzungen, die dort noch fehlten. Bei mehreren Listen pro Blog von verschiedenen Autor_innen wurde jede Liste einzeln gezählt.

Die Filme wurden nach einem Punktesystem geordnet. Bei nummerierten Top-10-Listen bekam der erste Platz 10 Punkte und so weiter bis zum 10. Platz, der 1 Punkt bekam (gesamt: 55 Punkte). Bei nicht nummerierten Listen bekam jeder Film 5,5 Punkte (gesamt: 55 Punkte). Bei weniger als 10 genannten Filmen bekam der erste Platz 10 Punkte und so weiter absteigend, fehlende Plätze wurden ignoriert. Bei mehr als 10 genannten Filmen wurden nur die ersten 10 gewertet.

Die ganze Tabelle ist als Google-Doc einsehbar. Falls jemand seine Liste vermisst, schickt mir gerne einen Hinweis per Mail oder auf Twitter.

Das meistdokumentierte Filmprojekt aller Zeiten

“Die lassen sich ziemlich in die Karten gucken.” Die Worte meines Freundes Jochen im Herbst 2002 kommen mir jedes Mal in den Sinn, wenn ich an die eine Quelle denke, aus der ich vermutlich am meisten über die Art und Weise gelernt habe, wie heute Filme gemacht werden. Was für andere Filmfreaks Truffauts Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? oder Sidney Lumets Making Movies sein mögen, sind für mich die “Anhänge” zu den Mittelerde-Filmen von Peter Jackson.

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Real Virtualitys Lieblingsfilme des Jahres 2015

94. Diese traurige Zahl beschreibt die Menge an Filmen, die ich 2015 gesehen habe. Noch einmal zwölf weniger als im Jahr zuvor, gut 50 weniger als ich früher™ im Durchschnitt pro Jahr gesehen habe. Schuld ist – neben der Tatsache, dass Film nicht mehr mein Hauptberuf ist – vor allem das Fernsehen. Ich habe in meiner persönlichen Rückschau schon einmal aufgezählt, was ich dieses Jahr statt Filmen gesehen habe – insgesamt sicherlich 60 bis 70 Stunden Serien. Alles Zeit, die nicht in Filme fließen konnte.

Trotzdem fühle ich mich eigentlich ganz gut gerüstet für diese Top 10. Von den 94 Filmen stammt gut die Hälfte aus diesem Jahr. Nur wenige muss ich zähneknirschend in die “Nicht gesehen”-Ecke schieben, The Look of Silence, Wild und Sicario vor allem. Schade finde ich vielmehr, dass mir dieses Jahr keine Zeit für kleine Entdeckungen abseits des Mainstreams und des kritischen Konsens blieb, denn Festivals und andere filmische Forschungsreisen waren zeitlich einfach nicht drin. Ich habe also eine Meinung zu fast jedem “wichtigen” Film dieses Jahres, aber wenig private Perlen, für deren Hervorhebung Top-10-Listen ja irgendwie auch immer gut sind. Das erklärt leider auch den eklatanten Mangel an nicht-englischsprachigem Kino in der Liste.

In der Folge habe ich mich selbst ermahnt, diese Liste so persönlich wie möglich zu gestalten und mich nicht zu sehr von den Lobeshymnen anderer beeinflussen zu lassen, wozu ich manchmal durchaus neige. Carol, zum Beispiel, fand ich zwar sehr schön anzusehen, aber er hat mich kalt gelassen. Macbeth fand ich als filmische Interpretation eines Shakespeare-Stücks streckenweise sehr bemerkenswert, aber ich hatte auch den Eindruck, dass Justin Kurzel nicht wusste, wohin mit all den famosen Worten. Ich habe begriffen, dass Birdman viel zu bieten hat, aber was er mir genau sagen wollte, weiß ich heute genau so wenig wie Anfang des Jahres. Und während The Walk hat mich zwar plangemäß geschwindelt, aber ich konnte einfach nicht vergessen, wie viel begeisterter ich 2008 während Man on Wire war.

Lobende Erwähnungen

Star Wars: The Force Awakens hätte es fast noch auf die Liste geschafft, denn trotz aller Kritikpunkte muss ich seine reine Begeisterungsleistung einfach anerkennen, warum genau steht bei Letterboxd. Ich habe großen Respekt vor Avengers: Age of Ultron, nicht nur wegen seiner visuellen Ideen, sondern auch wegen der erfolgreichen Bewältigung eines fast unmöglich scheinenden Jonglage-Akts – am Ende hat mich aber die x-te Konfrontation mit einer Horde gesichtsloser Schergen mehr geärgert als gefreut. Und bei Steve Jobs, immerhin das Werk zweier Filmemacher, die ich sehr schätze, bin ich einfach mit den falschen Erwartungen ins Kino gegangen – der Film harrt seiner Zweitsichtung, jetzt wo ich weiß, dass “nichts davon passiert, aber alles wahr” ist, wie Aaron Sorkin es ausgedrückt hat.

Aber jetzt. Die Top 10.

10. Victoria

© Senator

Ich gebe ehrlich zu, dass ich nach all dem Hype etwas enttäuscht war, als ich aus Victoria kam. Vielleicht auch, weil mich Sebastian Schippers Bravado im anschließenden Q&A ein bisschen genervt hat. Aber der Film hat einfach meine Anerkennung verdient. Nicht nur, weil er ein technisches und schauspielerisches Meisterstück ist und so viel für den deutschen Film getan hat wie wahrscheinlich seit Lola Rennt niemand mehr, sondern noch aus einem weiteren Grund, über den ich viel nachgedacht habe. Ich mag es, dass Victoria ein Film mit Geografie ist. Durch die ununterbrochene Einstellung gibt es hier einfach keine filmische Trickserei und ich plane nach wie vor, die Handlungsroute des Films bald mal abzulaufen. Darauf freue ich mich. Und ein Gutes hatte das Q&A außerdem: Ich weiß, warum der Film eine Cutterin brauchte.

9. Jupiter Ascending

© Warner Bros.

In der Zeit der Fortsetzungen, Remakes, Reboots, Legacyquels und Parakosmen ist es eine Freude, einen völlig eigenständigen Science-Fiction-Stoff auf der Leinwand zu sehen, selbst wenn er so batshit crazy ist wie Jupiter Ascending. Aber wie ich schon im Blog und im “Kino-Zeit”-Adventskalender erzählt habe – man darf das, was man hier sieht, einfach nicht für bare Münze nehmen. Man muss ein bisschen Camp-Leichtigkeit mitbringen, Spaß am Kitsch und am Über-Epischen. Dann klappt’s auch mit dem Genuss.

8. Whiplash

© Sony

Whiplash hat mich in einen emotionalen Taumel gestoßen. Ich war unglaublich begeistert von der Art und Weise, wie er das Spielen von Musik inszeniert – als fantastischen Rausch aus Klängen und Eindrücken, genau wie es wirklich ist – und wütend über seine Darstellung des Verhältnisses von Talent und Blutzoll bei dem, was eine_n “gute_n Musiker_in” ausmacht. Damien Chazelle verwechselt, ähnlich wie die Oscars, einfach “Best” mit “Most”. Aber ein Film, an dem ich mich reiben kann – noch dazu einer mit Schlagzeugsolo – ist mir trotzdem lieber als dutzende Biopics, die Talent einfach als eine Art Zaubertrick darstellen. Ausführlichere Gedanken dazu auf Letterboxd.

7. While We’re Young

© UFA

Noah Baumbachs Filme handeln immer ein bisschen davon, dass Leute gerne jemand wären. Das Schöne ist, dass sie am Ende irgendwie immer eine Ahnung davon bekommen, wer sie sind. Das ist natürlich der Hauptstrang von While we’re young, mit dessen zentralen Motiven (Kinder-FOMO, Eingefahrenheit) ich mich (obwohl erst 32) durchaus identifizieren kann. Was ich aber bemerkenswert finde, ist, dass der Film im letzten Drittel noch ein großes Diskussionsfass über dokumentarisches Erzählen aufmacht und seinen Charakteren keine eindeutige Antwort in den Mund legt. Hat Ben Stiller (beste Performance seit langem) Recht mit seinem egoistisch motivierten Kreuzzug der Wahrhaftigkit, oder hat Adam Driver einen Punkt, wenn er Erzählfluss höher bewertet als Chronistenpflicht. Durchaus auch für alle “narrativen Journalisten” was zum Nachdenken.

6. Inherent Vice

© Warner Bros.

Es ist eigentlich zu einfach, über diesen Film immer nur mit Drogenreferenzen zu schreiben, aber er ist einfach ein Trip. Ich könnte ohne nachzuschauen nicht mehr berichten, wovon er eigentlich handelt, aber ich habe noch viele seiner Bilder im Kopf, ich weiß, dass ich ihn toll fand und ich weiß, dass ich ihn bald noch einmal sehen will. Das mag nicht die gelehrteste aller Filmbewertungen sein, aber … äh, was wollte ich sagen? Hier, nimm.

5. It Follows

© UFA

Es gibt eine Szene in It Follows, wo das Wesen, das die Hauptfigur verfolgt, plötzlich wie aus dem Nichts in Form eines sehr großen Mannes aus einem Wohnungsflur durch eine Tür tritt – ein verdammt effektiver jump scare. Aber das Wahnsinnige ist, dass der Film ansonsten fast ohne solche Effekte auskommt, stattdessen setzt er auf Paranoia und die Angst vor dem Unausweichlichen. Hinzu kommen sein geschicktes Spiel mit filmischen Sehgewohnheiten und sein merkwürdiges Aus-der-Zeit-Gefallen-Sein. Mag sein, dass dieses postmoderne Meisterwerk am Ende seine Mythologie nicht nahtlos durchzieht, aber ich habe trotzdem nach dem Kinobesuch einen ganzen Tag gebraucht, um das ungute Gefühl loszuwerden, dass mich jemand verfolgt.

4. 45 Years

© Piffl Medien

Manchmal braucht es so wenig. Ich bin vernarrt in die Idee des Films, dass ein einziger Windhauch ausreichen kann, um ein Kartenhaus, auch eins in der englischen countryside, zum Einstürzen zu bringen. Da leben zwei Menschen seit 45 Jahren zusammen, aber sie haben so viele unausgesprochene Ängste und Sorgen, dass mit nur einer neuen Information alles den Bach runter gehen kann. Klar, man kann sich zusammenraufen, aber es wird nichts mehr so sein, wie es schien. Als sachlicher Romantiker, der amour fou nie verstanden hat und ihre Darstellung in Filmen geradezu verabschaut, hat mich 45 Years tief bewegt, gerade weil er auch die Abgründe (no pun intended) scheinbar ausgeglichener Beziehungen so eindrucksvoll ausleuchtet. Nach zweieinhalb Jahren Ehe kann ich nur hoffen, dass ich nicht irgendwann in die gleiche Falle bzw. Gletscherspalte tappe.

3. Mad Max: Fury Road

© Warner Bros.

Als alle schon über den Trailer gejubelt haben, war ich noch skeptisch. Aber der Sog des Films hat mich dann doch erfasst. Diesen Stilwillen muss man einfach lieben, egal ob es um die hundertprozentige Hingabe zur Bewegung geht, um das phantasievolle Design oder um das angedeutete Worldbuilding, das tatsächlich schafft, was so viele Filme erfolglos versuchen – einen weiten Kosmos hinter der Filmhandlung anzudeuten, ohne dass man mit der Nase draufgestoßen wird. Nur Vorsicht vor dem Mythos des Realismus.

2. Ex Machina

© UPI

Ich stehe auf Alex Garland, nicht nur wegen seines Vornamens. Seine Stoffe haben immer schon die richtige Menge Intelligenz und sense of wonder gehabt, die in der Science Fiction so wichtig ist und im Kino so häufig dem Spektakel geopfert werden. Ex Machina, seine erste Regiearbeit, ist genau so gut geraten – verkopft, geschmeidig, schön und schrecklich, und das alles ohne Prätention und Selbstgefälligkeit. Ich kann kaum erwarten, was Garland als nächstes zaubert.

1. Inside Out

© Disney

Dem Inhalt des Films zum Trotz ist dieser erste Platz für Pixars Meisterwerk vor allem eine Bauchentscheidung. Ich habe im Kino einfach pausenlos geheult, außer wenn ich herzlich gelacht habe. Ich saß ständig da und dachte “Oh Gott, ich kann so gut nachvollziehen, was dort gerade passiert.” Manipulativ? Ja. Trotzdem meisterhaft? Auf jeden Fall! Ganz abgesehen davon, dass ich inzwischen mitbekommen habe, wie gut der Film sogar Fachleuten (also z. B. Kinderpsychologen) zu gefallen scheint. Deswegen geht für diesen return to form zum dritten Mal nach 2003 und 2008 die Krone nach Burbank. Bitte, bitte, Pixar, mehr davon.

Der kleine Prinz als metatextuelle Verfilmung – und andere Varianten, Kinderbücher ins Kino zu bringen

© Warner Bros.

Wer heutzutage ein Kinderbuch verfilmen möchte – ein richtiges Kinderbuch, für eher kleinere Kinder, keinen “Young Adult”-Roman – scheint zwei Möglichkeiten zu haben. Entweder, er bleibt dem Werk ziemlich treu. Dann entsteht vielleicht so etwas wie Der Grüffelo, eine knuffige, witzige Bebilderung des Buchs von Julia Donaldson mit einigen prominenten Sprecherinnen und Sprechern, die allerdings leider nur 30 Minuten lang ist. Gut für’s Fernsehen, unpassend für heutige Kinostrukturen.

Die andere Möglichkeit ist eine Erweiterung des Bekannten, eine Einbettung der Kerngeschichte in eine größere Erzählwelt, die Kinoformat hat, was immer das heißt. Peter Jacksons Hobbit-Filme könnten in diese Kategorie fallen, Spike Jonzes Where the Wild Things Are, und seit diesem Jahr auch Der kleine Prinz in einer neuen Fassung von Regisseur Mark Osborne und den Drehbuchautorinnen Irena Brignull und Bob Persichetti.

Ein Film über die Ereignisse

Die Hobbit-Filme, was immer man sonst von ihnen halten mag, stehen dabei wahrscheinlich noch auf den sichersten Füßen. J. R. R. Tolkiens Roman The Hobbit beschreibt eine größere Geschichte aus einer sehr beschränkten Sicht. Figuren verschwinden während der Handlung und kehren irgendwann wieder und die Hauptfigur erfährt nie, was sie in der Zwischenzeit getrieben haben. Das erklären erst die Anhänge zu Lord of the Rings. Einiges, etwa die “Schlacht der fünf Heere”, die dem dritten Jackson-Film ihren Titel gibt, wird im Buch nur in Mauerschau erzählt. Jackson adaptiert in seinen Filmen nicht das Buch, er dreht einen Film über die Ereignisse (und ein paar zusätzliche Dinge, die er erfunden hat). Damit verliert er über große Strecken das “Gefühl” des Buches, für viele der größte Kritikpunkt an den Filmen, aber er kann seine Geschichte in ähnlich epischer Breite erzählen, wie er es bereits in seiner letzten Trilogie getan hat.

Spike Jonzes Verfilmung von Where the Wild Things Are unterscheidet sich weniger von Jacksons Ansatz, als es vielleicht auf den ersten Blick scheint. Maurice Sendaks Buch ist berühmt dafür, dass es nur 100 Wörter hat, was aber daran liegt, dass es sich erzählerisch auf das Allernötigste beschränkt. Es ist dafür geschaffen, vorgelesen zu werden – so dass der vorlesende Mensch und der zuhörende Mensch gemeinsam, auch anhand der wunderbaren Bilder, darüber spekulieren können, was zwischen den Wörtern alles passiert.

Eine Vision der eigenen Gefühle

Im Endeffekt ist es genau das, was Jonze und sein Koautor Dave Eggers gemacht haben. “And Max the king of all wild things, was lonely and wanted to be where someone loved him best of all”, ist vielleicht der zentrale Satz im Buch. In solchen Sätzen ist viel Raum für Interpretation. Jonze und Eggers hatten die Gelegenheit, über ihre Ideen mit Sendak zu sprechen, der ihnen zwar Input gab, aber sie grundsätzlich bestärkte, ihre eigene Interpretation der Geschichte auf die Leinwand zu bringen. Das also ist der Film zu Where the Wild Things Are – eine Vision dessen, was zwei Autoren spürten, als sie ein 100-Wörter-Kinderbuch lasen. (Ich mag das Resultat sehr, aber der Film hat ja auch nicht nur Fans.)

© Warner Bros.

Vielleicht lässt sich Osbornes Der kleine Prinz auf ähnliche Weise beschreiben. Der Film versucht, einen emotionalen Kern aus Antoine de Saint-Exupérys Buch zu destillieren und ihn auf moderne Weise neu zu interpretieren. Allerdings geht er einen zusätzlichen, metatextuellen Weg. Er ist “nicht wirklich eine Verfilmung im klassischen Sinne, sondern erzählt vielmehr davon, wie ein Kind die Geschichte vom kleinen Prinzen entdeckt”, wie Rochus Wolff es ausdrückt. In einigen Sequenzen werden Passagen aus Der kleine Prinz in bezaubernden Bildern animiert zum Leben erweckt, aber der weitaus größere Teil des Films stellt sich die Frage, welche Rolle Der kleine Prinz heutzutage in unserer Welt noch spielt.

Nachdenkliche Sprüche mit Bilder

Das Ergebnis gleicht im Plot ein wenig der Unendlichen Geschichte. Ein kleines Mädchen, gefangen in einem gefühlskalten Leben, entdeckt durch die Lektüre eines Textes erst eine fremde Welt und kann sie schließlich sogar betreten und ihr Schicksal beeinflussen. Die computeranimierten Sequenzen des Films stellen dabei die “Außenwelt” dar, während die Welt des Buchs in sehr stark auch im Look auf Handarbeit getrimmten Stop-Motion-Animationen visualisiert wird. Wie im Buch taucht auch Saint-Exupéry selbst auf, als alter, irrer-aber-liebenswerter Mann, der dem Mädchen überhaupt erst vom kleinen Prinzen erzählt. Schwer zu sagen, was der echte Saint-Exupéry über diese Interpretation seiner Figur gedacht hätte.

Der kleine Prinz gilt unter Menschen, die sich für schlau halten, gerne als der Inbegriff des Philosophie-Kitsches. “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar” ist so ein Satz, der mir, wie bestimmt vielen anderen Menschen auch, erstmals als Kind über den Weg gelaufen ist, vielleicht sogar wirklich in einem Poesiealbum, und den man als Erwachsener gerne mal in die ”Nachdenkliche Sprüche mit Bilder”-Ecke abschiebt. Aber mal ganz abgesehen davon, dass der Satz durch seine naive Einfachheit nicht weniger wahr wird, ist Der kleine Prinz auch deutlich mehr als dieser Spruch. Er ist sowohl eine sehr persönliche Reflektion Saint-Exupérys über sein Leben und seine Umwelt als auch eine eindrucksvolle Parabel – manchmal eben die einzige Art, Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen.

© Warner Bros.

Das Ende der Parabel

Dass Mark Osborne das in seinem Film anders sieht, mag der Grund sein, warum der Film Der kleine Prinz mit seiner Öffnung des Buches nach außen nur teilweise erfolgreich ist. Die Geschichte des Mädchens, dessen Leben von seiner ambitionierten Mutter bis zum Erwachsenwerden durchgeplant ist, ist eine passende und visuell in Form eines gigantischen “Lebensplan”-Bords auch gut umgesetzte Aktualisierung jener Dinge, über die sich auch Saint-Exupéry schon gesorgt hat. Doch nicht nur wird die Nacherzählung des Buchs auf einige seiner bekanntesten Passagen reduziert, im letzten Drittel bricht der Film jede Parabelhaftigkeit und jeden persönlichen Bezug zu Saint-Exupéry auf und lässt das Mädchen die Charaktere der Geschichte in einem neuen Setting wiedertreffen. Das gibt dem Abenteuer zwar ein actionreiches Finale, es transformiert den emotionalen Kern der Geschichte – anders als bei Sendak/Eggers/Jones – aber auch in eine völlig andere Dimension. Der kleine Prinz, der Film, hat eine andere Aussage und eine andere Wirkung als Der kleine Prinz, das Buch.

Diese Art von metatextueller Kinderbuch-Verfilmung scheint aber gerade beliebt zu sein. Im Februar kommt der bereits zu Halloween in den USA gestartete Film Goosebumps auch in die deutschen Kinos. Statt eine der Geschichten der Buchserie von R. L. Stine zu verfilmen, auf der er basiert, strickt auch er eine Handlung um eine fiktive Version von R. L. Stine und ein Buch, dessen Figuren plötzlich lebendig werden. Vielleicht funktioniert das Prinzip mit Gruselgeschichten besser als mit nachdenklichen Parabeln. Vielleicht muss es aber auch einfach nicht immer ein epischer Kinofilm sein.

Der kleine Prinz sollte noch in vielen Kinos laufen. Ich habe ihn in einer Pressevorstellung gesehen und wollte diesen Artikel eigentlich zum Kinostart fertighaben. Dann passierten Dinge.