Deutsche Filmtitel: Ich bin Mittäter

Sur La Planche. Foto: ZDF/Eric Devin

Kassel, Herbst 2001. Mein Chef hat mich freundlicherweise mitgenommen auf die Tradeshow der Filmverleiher, auf der den Kinobesitzern die möglichen Hits der nächsten Monate vorgestellt werden. Highlight Film stellt dort den Film Serendipity mit John Cusack und Kate Beckinsale vor, eine romantische Komödie, die ihren Titel im Trailer erklärt.

When Love Feels Like Magic, It’s called Destiny. When Destiny Has A Sense of Humor, It’s Called Serendipity.

“Wir suchen übrigens noch einen deutschen Titel”, heißt es nach dem Trailer aus der Richtung der Verleiher. Klar, “Serendipity” ist für Deutsche nicht nur ein Zugenbrecher, es lässt sich auch nicht direkt übersetzen. “Glücklicher Zufall”, vielleicht, aber dem fehlt dieser besondere, fröhlich klimpernde Klang des Wortes. Ich schlage “Ironie des Zufalls” vor, auch eine eher schwache Idee. Am Ende kommt der Film ein halbes Jahr später als Weil es dich gibt in die Kinos. Love, Magic, Destiny, Humor – und ein fröhlich klimperndes Wort ausgemerzt zugunsten einer hohlen Grußkartenformel. Man kann deutsche Filmtitel nur hassen.

Mainz, Jahresanfang 2013. Im März zeigt 3sat eine ambitionierte Filmreihe über die unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen in islamischen Ländern. Die Filmredaktion hat zwei Spielfilme beigesteuert, für die ich als Redakteur fungiere. Für Leila Kilanis faszinierenden Genremix Sur la Planche suchen wir in der Redaktionskonferenz einen deutschen Titel. “Sur La Planche” bedeutet “auf der Planke”, “auf dem Sprungbrett”, vor der Entscheidung in ein neues Leben zu springen oder in den Abgrund zu fallen – so sieht Badia, die Hauptfigur des Films, sich selbst. Der englische Festivaltitel lautet “On the Edge”. Eine deutsche Entsprechung wäre vielleicht “Auf Messsers Schneide” oder “Auf dem Sprung”. Wir diskutieren angeregt und immer wieder fällt das Argument, dass der Film herausstechen, dass der Titel etwas aussagen muss. Am Ende entscheiden wir uns, auch mit meiner Stimme, für den Titel Nachts in Tanger. Die spannungsgeladene Lebensentscheidung einer jungen Frau, geopfert zugunsten eines Titels, der Mysterien und einen exotischen Schauplatz verheißt (beides bietet der Film übrigens auch tatsächlich). Deutsche Filmtitel, das Geschmeiß der internationalen Filmlandschaft.

Ich bin Mittäter. Ich bin mit dafür verantwortlich, dass bei der Übertragung von Originaltiteln für die deutsche Vermarktung hässliche Kompromisse eingegangen werden. Und das obwohl ich jahrelang nichts anderes gemacht habe, als auf deutsche Titel zu schimpfen. Ich hatte sogar mal mit einem Kollegen überlegt, ein Buch mit den “100 bescheuertsten deutschen Filmtiteln” herauszugeben – von den Schauspieler/Figur-vertauschenden Entgleisungen der sechziger Jahre (Frankie und seine Spießgesellen), über die (häufig mehrfachen) Sinnentstellungen des B-Movie und Direct-To-Video-Marktes, bis hin zum nouveau-anglais der 2000er, in denen englischsprachige Filme einen anderen englischen Titel bekommen und so aus Rabbit-Proof Fence in Deutschland Long Walk Home wird.

Kein Wunder, dass Woody Allen sich in seine Verträge schreiben lässt, dass die Titel seiner Filme im Ausland nicht geändert werden dürfen. Und ebenso kein Wunder, dass im Sinne internationalen Markenerhalts immer mehr große Filme einfach ihren Originaltitel behalten. Das Ergebnis: Zuschauer, die auch nicht so richtig wissen, was der Filmtitel eigentlich bedeutet (sogar ich mit meinem Magister in Anglistik musste mir Zero Dark Thirty erklären lassen) und sich an der Kinokasse die Zunge verrenken.

Aber ist das nicht immer noch besser, als der sonst übliche Krampf, bei dem oberstes Gesetz ist, dass schon der Titel des Films nur eine mögliche Assoziation zulässt, die dem Zuschauer jedes eigenständige Denken abnimmt. Bridesmaids mit “Brautjungfern” zu übersetzen kommt nicht in die Tüte, nur Brautalarm schreit laut genug KOMÖDIE!!!! – auch noch, wenn der Film aus den Kinos ist und beim Blättern in der Videothek oder der Fernsehzeitschrift gefunden werden soll. Am meisten lache ich mir immer ins Fäustchen, wenn sich Titelentscheidungen im Nachhinein als dumm herausstellen, und Dan Browns Buch in Deutschland als “Sakrileg” erscheint (denn Bahnhofsbuchhandlungs-Thriller dürfen immer nur reißerische Ein-Wort-Titel haben – oder brauchen, wie Terry Pratchett schon festgestellt hat, mindestens einen griechischen Buchstaben im Titel), dann aber als “Da Vinci Code” ein globales Phänomen wird und der Film quasi mit zwei Titeln ins Kino kommen muss.

Dabei wird uns Deutschen doch mit unseren eigenen Filmtiteln viel mehr eigenes Denkvermögen zugetraut. Selbst bei Keinohrhasen würde doch nicht sofort jeder an eine romantische Komödie denken, es ist einfach ein clever klingendes Wort, das Interesse weckt (soviel muss man dem Film schon zugestehen). Schutzengel (um mal im Schweigerversum zu bleiben) könnte genau so gut ein Liebesdrama im Rettungssanitäter-Milieu sein wie ein Thriller über einen Ex-Cop und seine Tochter. Wäre der Film ein englischer und hieße “Guardian Angel”, hieße er in Deutschland sicher “Der Guardian” (weil das härter klingt) oder er würde einen markigen Untertitel wie “- er lässt dich nicht allein” bekommen (man denke an The Rock – Fels der Entscheidung). Bestimmte Phrasen stehen für alle Genres ja auch schon readymade zur Verfügung, “… zum Verlieben” für Romantik und “… zum Knutschen” für Komödien, zum Beispiel.

Und doch: ich kann die Denke dahinter verstehen, weil ich inzwischen in der gleichen Situation war. Nachts in Tanger erweckt einfach mehr Aufmerksamkeit als “Auf dem Sprung”, ein Filmtitel, hinter dem alles und nichts stecken kann. Und ich möchte ja, dass diese Perle von einem Film, in dessen Akquise und Bearbeitung viel Mühe geflossen ist, gefunden und geschaut wird. Denn Wörtlichkeit in der Übersetzung ist auch gar nicht das, worauf es ankommt – jeder der mal übersetzt hat, wird mir da hoffentlich zustimmen. Vielleicht gibt es ja einen Mittelweg, in dem man sich Freiheiten erlaubt, aber sein Publikum trotzdem nicht restlos für dumm verkauft. Ich hoffe, dass mir das mit Nachts in Tanger gelungen ist.

Die 3sat-Filmreihe “Frauen im Islam” startet am 3. März. Nachts in Tanger läuft am 7. März um 22.25 Uhr, im arabischen Original mit deutschen Untertiteln.

Danke für die Anregung an Jack.

Hält Celeste and Jesse Forever oder nur ein paar Jahre?

DCM Filme

Sie buchstabieren es für uns. “SHITEGEIST” heißt das aktuelle Werk von Trendforscherin und Filmhauptfigur Celeste, das sie zwar in einer TV-Sendung vorstellen darf, dann aber doch in ihrem Lieblingsbuchladen selbstständig prominenter platzieren muss. Einen deutlicheren Hinweis darauf, dass sich Celeste & Jesse Forever nicht nur an modernen Liebesbeziehungen abarbeiten will, sondern auch an unserer Zeit ganz allgemein, könnte er uns wohl nicht geben.

Es ist erstaunlich, wie gut dem Film der Drahtseilakt gelingt, sich genug, aber nicht zuviel, über das zu amüsieren, was er selbst ist. Matt Singer hat vor einigen Monaten Sherlock Holmes: A Game of Shadows als den perfekten Film vorgeschlagen, den zukünftige Generationen sehen sollten, wenn sie wissen wollen, wie Filme rund um das Jahr 2012 waren. Celeste & Jesse Forever wäre ein genauso guter Kandidat: Er ist gedreht im derzeit allgegenwärtigen DSLR-Look, komplett mit flachen Schärfebereichen, blassen Tageslichtszenen und schwarz-rot-goldenen Nachtszenen. Seine Hauptfiguren sind mehr oder weniger hippe Wissensarbeiter, die Schwierigkeiten mit dem Erwachsenwerden haben. Angeschnittene Themen (an die ich mich noch erinnere) sind Veganismus (und die dazugehörige Öko-Kultur), IKEA, Branding, Psychopharmaka und queere Stereotypen. Trendforscherin Celeste bügelt einen Yoga-Kollegen, der mit ihr flirtet, mit folgenden Worten ab:

You traded in your Porsche for an Audi, because the economy is still tanking and you’re afraid to lose your job. You just bought a Droid cellphone, because you think it makes you seem more business-oriented; unlike the iPhone, which you think is for teenage girls. You go to Yoga, because you went to a sub-Ivy League school, you spent the last ten years working long hours, drinking all weekend, you thought it was time to do something spiritual.

Wer hätte gedacht, dass man einen Android-vs-iPhone-Witz in einer romantischen Komödie unterbringt und es tatsächlich komisch sein kann? Und schließlich ist da noch Rashida Jones. Die Hauptdarstellerin und Co-Autorin des Drehbuchs hat etwas sehr millenniales an sich, nicht zuletzt wegen ihrer unscharfen ethnischen Zuordnung (ihr Vater ist Quincy Jones, ihre Mutter ein blondes Model mit russisch-jüdischen Vorfahren, aber ihr Teint und ihr Vorname wecken südasiatische Assoziationen – ich musste mehrmals an diese “New Girl”-Episode denken).

Zusammenfassend: Celeste and Jesse Forever ist so sehr of its time, dass seine Drehbuchgrundlage auch eine Tag-Cloud der aktuellsten Buzzwords auf “Gawker” sein könnte. Das hindert ihn nicht daran, ein gut gemachter, witziger Film zu sein, der insbesondere in seiner Auflösung den klassischen Hollywood-Pfad verlässt, aber wird es ihn nicht schon in ein paar Jahren ganz furchtbar alt aussehen lassen?

Die Romantic Comedy, so scheint es mir, ist eigentlich ein Genre, das jeden Zeitgeist übersteht, weil es a) so formelhaft ist und gewünscht wird und b) weil Liebe und der Wunsch nach romantischer Liebe ebenfalls etwas zeitloses ist. Natürlich merkt man einem Film wie It Happened One Night (1934) an, das er ein paar Jährchen auf dem Buckel hat, aber sein wunderbares Geturtel zwischen Clark Gable und Claudette Colbert funktioniert nach wie vor, und ich hatte nie den Eindruck, dass sein Witz heute weniger zündet. Dito The Apartment (1960) oder When Harry Met Sally (1986).

Mein persönlicher Lieblingskandidat aus dem Genre, Annie Hall (1977), ist allerdings durchsetzt mit Zeitgeist-Witzen. Wenn ich nicht zufällig gewusst hätte, wer Marshall McLuhan ist, als ich den Film 2001 das erste Mal sah, hätte ich beim besten Bruch der vierten Wand EVER bestimmt nicht so laut gelacht – und ich möchte wetten, dass in Annie Hall einige Anspielungen stecken, die mir nicht aufgefallen sind, beim Kinopublikum der Zeit aber als wunderbar aktuelle Seitenhiebe ankamen. Trotzdem hat der Film nichts von seiner Energie und seinen universellen Wahrheiten verloren und ich würde ihn jederzeit auch ohne 70er-Jahre-Beiblatt weiterempfehlen.

Celeste & Jesse Forever spielt nicht auf dem gleichen Level wie Woody Allen, natürlich. Aber vielleicht gibt es dennoch Hoffnung, dass er auch in zwanzig Jahren noch komisch ist.

Der Film mit dem schrecklichen deutschen Titel Celeste & Jesse – Beziehungsstatus: Es ist kompliziert ist am 14. Februar in den deutschen Kinos gestartet. Eine kürzere Kritik von mir in der aktuellen “Close up”-Sendung.

Die deutsche Film-Blogosphäre: Eine erste persönliche Bilanz

Diese Bilanz kann nur eine sehr persönliche sein, denn die letzte Woche war ganz schön turbulent. Nicht nur, weil ich am Dienstagnachmittag von einer Grippe umgehauen wurde, wie ich sie schon lange nicht mehr erlebt habe, und drei Tage flach lag, zwei davon mit Fieber. Sondern auch, weil ich wirklich nicht geahnt habe, was passieren würde, nachdem ich am Sonntagabend in meinem WordPress-Dashboard auf “Publish” gedrückt hatte.

Erst konnte ich sehen, wie sich der Beitrag auf Twitter verbreitete, irgendwann oft genug, um bei “Rivva” aufzutauchen. Am nächsten Morgen war ich im “BildBlog” verlinkt und die ersten Kommentare trudelten ein. Dienstag war mein Artikel schon zu “der aktuellen Filmblogdiskussion” mutiert. Als ich dann Mittwoch auch noch eine Mail von Radio Fritz mit einer Interviewanfrage bekam, war ich mir schon nicht mehr ganz sicher, ob das alles wirklich passiert (kann aber auch das Fieber gewesen sein).

Don’t get me wrong

Ich bin also wirklich im positivsten Sinne überwältigt, dass meine vier Thesen ein solches Echo erzeugen konnten. Einerseits ist das natürlich auch ein bisschen befriedigend, denn die Zustimmung, die ich erhalten habe, spricht dafür, dass ich irgendwie tatsächlich nicht nur heiße Luft gepustet, sondern einen wunden Punkt getroffen habe. Andererseits muss ich mich natürlich auch mit der Kritik auseinandersetzen (die sehr zivil und sachlich geblieben ist) – und das bedeutet bei mir fast immer, dass ich instinktiv zurückrudern und relativieren will.

Ein bisschen werde ich das auch diesmal nicht vermeiden können. Ich stehe auch nach aller Diskussion zu jeder meiner vier Thesen, aber natürlich sind sie (ich glaube, ich habe das auch im Artikel öfter betont) auch auf maximale Aufmerksamkeit zugespitzt (einsortieren unter Handwerk, Klappern gehört zum). Ich glaube nicht, dass in diesen vier Punkten die gesamte Sachlage enthalten ist, und ich bin relativ entspannt, was ihre Umsetzung angeht. Trotzdem, ein paar Klarstellungen:

Blogosphäre schaffen heißt nicht Homogenisierung

Ich bin ein Anhänger von Gemeinschaftsgefühl, nicht jeder ist das. Obwohl ich zum Beispiel Patriotismus grundsätzlich eher für gefährlich halte, besonders wenn er gegen andere benutzt wird, bin ich doch immer wieder faziniert davon, dass etwa die völlig unterschiedliche und konträre bis feindselige regionale Identität zweier US-Bürger sich problemlos mit dem amerikanischen Wir-Gefühl vereinen lässt. Eine übergeordnete Identität lässt also durchaus Raum für jede Menge Individualität.

In den Kommentaren schrieben Frédéric Jaeger und Thomas Groh, mein Wünsche röchen nach “Homogenisierung”, als sollten wir alle das gleiche machen, Filme aus der gleichen Warte betrachten. Nichts liegt mir ferner. Jeder soll machen, was er will, das ist das World Wide Web und das ist seine besondere Vielfalt. Ich will keine redaktionellen Leitlinien.

Es wird immer Menschen geben, die Filme eher vom Kopf her, in einem größeren, kulturkritischen Zusammenhang wahrnehmen und interpretieren – genauso, wie es immer Menschen geben wird, die diese Zusammenhänge lieber ignorieren. Genauso wird es immer Schreiber geben, die lieber für ein Publikum schreiben und ihre Texte danach ausrichten – und es wird immer Schreiber geben, die einfach ihre Gedanken so festhalten, wie sie ihnen durch den Kopf schießen.

Sie sollen sich nicht ändern. Was ich erreichen will, ist, dass sie einander wahrnehmen. Und zwar nicht als etwas Abjektes, sondern als Leute vom gleichen Schlag, nämlich “Menschen, die im Internet über Film schreiben”. Sie müssen deswegen ja noch lange nicht alles mögen, was der andere tut, aber sie wüssten voneinander. BANG! Film-Blogosphäre.

“Leitmedium” ist ein dummes Wort

Meinen Artikel haben viele Leute über Twitter gefunden und über andere Filmblogs, die mich verlinkt haben, sehr viele auch über Facebook (ich bin tieftraurig darüber, dass ich die vielen Diskussionen die dort vielleicht abliefen, nicht lesen konnte). Aber mit Abstand die meisten Hits bekam meine Seite in den letzten Tagen aus dem “Bildblog” und dessen Rubrik “6 vor 9”, in der jeden Tag sechs Links zu Medienthemen veröffentlicht werden. Andere kamen auf den Artikel dadurch, dass Wulf Bengsch geschickt die trojanische Frage “Der beste Beitrag oder die beste Kritik, die ich in der vergangenen Woche auf einem Blog gelesen habe, war ________” einbaute, manche mit meinem Artikel antworteten und so Dritte darauf aufmerksam machten. Leitmedien?

“Leitmedium klingt nach Leitkultur” stand in mehreren Kommentaren, und da wurde mir klar, dass man manche Wörter in Deutschland einfach nach wie vor nich benutzen kann. Ich bin froh, dass ich nicht “Meinungsführer” benutzt habe. Auch hier geht es mir nicht darum, alle auf Linie zu bringen, warum auch? Twitter zeigt ja, dass man Leuten “folgen” kann, ohne sich dadurch ihre Ansichten zueigen zu machen. Es geht mir eher darum, dass die natürlichen Knotenpunkte im Netz ihre Funktion nutzen, um den Fäden, die zu ihnen führen, etwas zurückzugeben.

Doch selbst diejenigen, die (so glaube ich) verstanden haben, was ich meinte, waren deswegen nicht meiner Meinung. Thomas Groh schrieb in einem Kommentar:

In meinem “Google Reader” habe ich unter “movie” alles abgespeichert, was mich interessiert, und wenn mich was neues interessiert, kommt das hinzu. Was mich nicht interessiert, bleibt draußen.

Das ist natürlich der gleiche Ansatz, den ich auch verfolge und wahrscheinlich die meisten anderen. Er bedeutet aber, dass die Anzahl der guten Inhalte, die man findet, in direktem Verhältnis zu der Zeit und der Erfahrung steht, die man aufgewendet hat, um sie zu filtern. Meiner Meinung nach ein bisschen unfair. Ich bin da eher bei Ciprian David, der schreibt:

Die existierende Vielfalt der Blicke auf Film, Clustering und die anderen angesprochenen Aspekte können alle aus dieser Orientierungs-Perspektive auch als Hindernisse im Wege der Auswahl von zu lesenden Seiten gesehen werden und das zurecht. Einerseits möchte man möglichst unterschiedliche Ansätze kennenlernen, andererseits ist da draußen zu viel, um alles mitzubekommen – hinzu kommen noch die sich verdoppelnden Inhalten, die lange nicht nur News betreffen.

Genau darum geht es mir: Orientierung. Aggregation. Sinnvolle Anknüpfungspunkte für Außenstehende und innen stehende Interessierte.

Natürlich sind die sechs täglichen Links von “6 vor 9” eine höchst subjektive Auswahl. Dahinter steht sogar exakt eine Person: der schweizer Medienjournalist Ronnie Grob. Aber seit ich nicht mehr die Zeit habe, die gesamte deutsche Medienbloglandschaft zu verfolgen (wie damals, als ich noch hauptberuflich über Medien geschrieben habe), sind sie für mich eine gute tägliche Orientierung über aktuelle Themen und kleine Fundstücke. Dito “The House Next Door”, “Page 2”, “Weekend Reel Reads”, der “Singles Club” des Guardian Music Weekly Podcast.

Durch die Pingbacks zu meinem Beitrag konnte ich feststellen, dass einige Blogs natürlich solche löblichen Linklisten führen. Taschenpost bei “Nerdtalk” zum Beispiel, Der Linkomat beim “Abspannsitzenbleiber” und Verlinkt bei “DVDuell”. Auch Thomas Groh schreibt, er “weise (…) auf andere Beiträge in Print und Blogs hin, vor allem auch in der rechten Spalte unter ‘Reading Room'”.

Doch auch diese Listen muss man erstmal finden. Was ich mir wünsche, ist aber, dass das jemand macht, der 1) sowieso viel gelesen wird und am besten 2) auch noch für seine Arbeit bezahlt wird (hebt die Motivation). Also zum Beispiel ein regelmäßiges Feature bei “Moviepilot”. Die haben schon die Aufmerksamkeit einer großen Community. Jetzt könnten sie sie doch auch in die Blogs zurückgeben. Der Netzwerkeffekt wäre gigantisch. “Critic.de” hielte ich, wie schon im Interviewbeitrag mit Frédéric geschrieben, auch für einen geeigneten Kandidaten. Aber das ist eher persönliche Neigung. Und Geld haben sie dort ja leider auch nicht.

Hat Deutschland keine Filmkultur?

Nachdem es mit dem Interview zwischen uns leider nicht so gut geklappt hat, hat “Filmfreund” Oliver Lysiak sich dafür sehr prägnant in den Kommentaren zu Wort gemeldet und gleich zum Rundumschlag ausgeholt. In Deutschland fehle es an der “Filmkultur”, das Reden über Filme über ein “Gefällt mir (nicht)” hinaus sei eine kleine Nische. Ich weiß nicht, ob ich ihm da zustimmen will. Er macht diese Voraussetzung aber dafür verantwortlich, was ich als “die nervige Trennung zwischen E- und U-Kultur” bezeichnet habe, den mangelnden “Spaß an fließenden Grenzen zwischen Filmjournalismus und Filmfan”.

Meine E- und U-Anmerkung ist vielen sauer aufgestoßen, dabei wollte ich damit niemanden beleidigen. Zumal, wie ich oben geschrieben habe, die Ansätze sowieso immer alle vorhanden bleiben werden. Vielleicht liegt es an mir selbst, der ich so ein merkwürdiger Hybrid bin. Ich bin studierter Filmwissenschaftler, aber ganz schlechter Hermeneutiker. Ich bin Filmjournalist, betrachte das Thema Film aber eigentlich lieber aus der Warte eines Medienbeobachters, und bin deswegen nicht umsonst ein recht miserabler Kritiker (ausgerechnet Fernsehjournalismus – was ich nie gedacht hatte – kommt mir hier entgegen, weil ich den Film für sich sprechen lassen kann, statt dem Leser einen Eindruck davon vermitteln zu müssen). Weil ich also selbst so in der Mitte stehe, vielleicht liegt mir deswegen so viel daran, dass alle Beteiligten ihre eigene “Haltung” zum Thema Film etwas lockerer und dehnbarer begreifen. Film ist eben Industrie, Kunst, Kulturgut, Medium und Konsumgut auf einmal. Das ist ja das Tolle daran.

Mein Lieblingstweet zum Thema übrigens:

Gibt es eine deutsche Film-Blogosphäre? [] Ja [] Nein [] Dir gefällt “Transformers”, mit dir rede ich nicht.

— Sven Kietzke (@CineKie) January 20, 2013

Machen statt klagen

Einer meiner Lieblingsbeiträge stammte von Schöndenker Thomas Lautersweiler. Er forderte Machen statt klagen und zählte direkt mehrere Beispiele auf, bei denen die Blogs schon zusammenarbeiten. Ich bin natürlich voll seiner Meinung, aber wie ich dann auch in seinem Blog kommentierte: “Vielleicht wollte ich nur zuerst das Problem benennen, bevor ich es angehe. Das hilft beim Fokussieren.” Ein geisteswissenschaftliches Studium prägt. Ohne Thesen geht erstmal gar nichts.

Es ist schon eine Menge passiert, zum Beispiel diese Facebookseite, eine tolle Idee, von der ich allerdings noch nicht weiß, wo sie hinführen wird. Und die Diskussion, die das Thema zumindest mal auf die Agenda gebracht hat. Am besten hat mir gefallen, dass viele Leute mir geschrieben haben, sie hätten schon durch Artikel und Diskussion jede Menge Blogs entdeckt, von denen sie noch nichts wussten.

Es wird weitergehen. Ich werde selbst versuchen, so gut es geht dazu beizutragen, mehr deutsche Blogs lesen und verlinken, auch hier im Blog. Ich denke, das machen andere vielleicht auch. Genügend Tools gibt es ja, um die Vernetzung im Kleinen herzustellen (Gastbeiträge etc.). Was ich auch noch gar nicht erwähnt habe ist die tolle Idee des Social Viewing von “Mostly Movies”.

Und ich fände es gut, wenn wir uns auf der Berlinale treffen würden. Also, wer immer da ist, zumindest. Ich versuche einen Termin und einen Ort zu finden, der für möglichst viele Leute machbar ist. Wahrscheinlich am ersten Wochenende. Keep watching this Spot!

Genießt euer barockes Kino, so lange ihr noch könnt!

Sollen sie Kuchen essen? – New Line Cinema/MGM

“Ja, er hat Fehler in der Figurenzeichnung. Ja, er ist zu lang, zu ausgewalzt (…). Aber verdammt noch eins,
es ist so schön, wieder in Mittelerde zu sein.”
Ich zitiere mich selbst, weil ich es kann

Der Hobbit erobert derzeit nicht nur überall die Kinokassen, er erhitzt auch die Gemüter. Ein großer Teil dieser Erhitzung ist auf seinen Einsatz von HFR 3D zurückzuführen, was manche als Verrat am Kino empfinden, andere (darunter ich) als endlich eine angenehme Art, 3D zu genießen. Doch fast genauso viel Zorn hat der Film auf sich gezogen, weil er Randals Spott über die Herr der Ringe-Triolgie in Clerks 2, “All it was, was a bunch of people walking”, in die Hände zu spielen scheint. Bilbos Worte aus The Fellowship of the Ring, er fühle sich wie “Butter, die auf zu viel Brot verstrichen wurde”, mussten nicht nur einmal herhalten, um die Probleme des neuen Mittelerde-Filmkapitels auf den Punkt zu bringen.

Ich mochte den Film trotzdem, oder gerade deswegen. Gut, ich denke ich hätte ohne den doppelten Prolog leben können, der sich etwas zu sehr bemüht, die Hobbit-Filme an die Herr der Ringe-Trilogie anzudocken, aber davon abgesehen habe ich mich im Kino nie gelangweilt, denn schließlich gab es ständig genug zu staunen, zu fiebern und zu lachen.

Das bizarre Biest Hobbit

Und doch hat mich das Ganze ins Grübeln gebracht. Man muss mal einen Schritt zurücktreten und dieses Projekt Hobbit-Trilogie mit etwas Abstand betrachten, um zu sehen, was es eigentlich für ein bizarres Biest ist, das Peter Jackson erschaffen hat. Grundlage der Filmtrilogie, deren Kinofassung vermutlich insgesamt etwa achteinhalb Stunden Laufzeit haben wird, ist ein (in der Originalausgabe) 310 Seiten starkes Kinderbuch und etwa 50 weitere Seiten Anhänge des “Herrn der Ringe”. Doch die Filme sind noch gar nicht fertig, sie sind nur die Grundlage für zu erwartende “Extended Editions”, die jedem Film vermutlich noch einmal mindestens zehn bis zwanzig Minuten hinzufügen werden. Und eigentlich sind sie nicht mal wirklich Filme, sie sind nur eine Art Ur-Text für ein Marken-Universum aus Merchandising-Artikeln und Anschau-Ritualen für die kommenden Jahre, hinter dem sich ein weiteres Universum aus Neuseeland- und Weta-Mythologie verbirgt, aus Making-Ofs und Anekdoten, aus Tourismus und Staatshaushalten.

So werden Hollywood-Filme heute gemacht. Und man muss sich immer wieder bewusst machen, wie ungeheuerlich es ist, dass ein Filmstudio einem einzelnen Mann und seinem Team einen neunstelligen Geldbetrag in die Hand drückt, um im Grunde ein Kunstwerk zu schaffen – in der Hoffnung, damit eine Geldlawine loszutreten. Man – und damit meine ich insbesondere jene, die das ganze Jahr über das Ende des Kinos beschrien haben – man muss sich bewusst machen, wieviel Macht heutzutage einem Film innewohnen kann.

Und dann muss man sich vorstellen, ob ein Film wie The Hobbit vor 15, 20 oder 30 Jahren hätte entstehen können. Ein Film, der aus vergleichsweise wenig Geschichte ungeheure Schauwerte strickt. Der sich aber gleichzeitig traut, zu erzählen wie ein Roman oder eine Fernsehserie, nicht wie ein traditioneller Kinofilm. Der mit einer Technologie in die Kinos kommt, die noch nirgendwo zuvor ordentlich ausgetestet wurde. Der in einer fantastischen Parallelwelt spielt und zu dessen Hauptfiguren 13 (!) bärtige Personen mit Namen wie Dori, Ori und Nori zählen. Der vollständig abseits des Hollywood-Kontrollsystems am anderen Ende der Welt entsteht. Dessen bekannteste Darsteller britische Fernseh- und Bühnenmimen sind und dessen größtes Verkaufsargument der Erfolg seiner Vorgängerfilme ist. Hätte so ein Film entstehen können? Fast immer wird die Antwort “Nein” lauten. Die Ausnahme heißt wahrscheinlich Star Wars.

Mehr als zwei sind ein Trend

Und doch ist ein Film wie The Hobbit heute nur die extremste Form eines Trends, die im Filmjahr 2012 vielleicht so deutlich wie noch nie zutage getreten ist. Marvel’s The Avengers: ein zweieinhalbstündiges Ensemblestück, das die B-Mannschaft von Marvels Superheldenriege gegen eine charakterlose Alien-Armee antreten lässt, nachdem zuvor jede de Hauptfiguren in einem eigenen Film vorgestellt wurde. The Dark Knight Rises: 165 Minuten, in denen ein grüblerischer alter Mann in epischer Breite gegen einen Feind kämpft, dessen Gesicht man nicht sehen und dessen Stimme man kaum verstehen kann. Prometheus: Ein Regisseur kehrt über 30 Jahre später zu dem Genrefilm zurück, der ihn groß gemacht hat, und verpasst ihm eine aufgeblähte Vorgeschichte, die wahlweise mystisch oder schrecklich unlogisch ist.

John Carter: Die 250-Millionen-Dollar-Verfilmung eines Schundromans aus den 30ern, der angeblich alle anderen Welten inspiriert hat, den aber nur eingeweihte Hardcore-Fans kennen, von einem Regisseur, der noch nie einen Realfilm gedreht hat. Battleship. Twilight: Breaking Dawn – Part 2. Sherlock Holmes: A Game of Shadows. Die Liste ließe sich vermutlich noch eine Weile weiterführen, besonders wenn man die letzten paar Jahre dazunimmt.

Das Dunkel Erhellen

Auch wenn mir vermutlich jeder Kunsthistoriker dafür aufs Dach steigt: Ich sage, wir befinden uns 2012 im Mainstreamkino in einem barocken Zeitalter des Filmemachens. Alles ist größer als notwendig, von scheinbar epischer Bedeutung, unendlich verziert, dekadent und wunderbar bunt anzusehen. Fantasie und Phantastik regieren. Kunst hat Macht, doch sie nutzt sie nicht dazu, die Gesellschaft zu verändern, sondern ihren unstillbaren Hunger nach Spektakel zu stillen. Filmgattungen (Animation und Realfilm, Dokumentar- und Spielfilm), Filmbranchen (Kamera, Schnitt und Effekte) und Medienformen (Fernsehen, Videospiele, Kino) fließen ineinander zu einem einzigen, dickflüssigen Unterhaltungsbrei, der irgendwie das Dunkel erhellt.

Die Kulturpessimisten mögen das nicht. Sie fordern Relevanz und Realismus, mehr Brot und weniger Kuchen. Ich sage: Das Kino war noch nie so frei wie heute. Lasst uns den Tanz auf dem Vulkan genießen, so lange wir noch können, und die mannigfaltigen Blüten preisen, die dieses Kino hervorbringt. Filme wie Cloud Atlas oder Holy Motors, die sich nicht zu schade dafür sind, 100 Jahre Kinogeschichte und 4000 Jahre westliche Kulturgeschichte in einem abgeschlossenen Stück Kino zusammenzupressen.

Denn ihr wisst, was als nächstes kommt: Revolution und Krieg, Enthauptung der Machthaber und der sogenannte “Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen”. Sämtliche Triebe werden unterdrückt. Die Kunst zieht sich in die Natur zurück, heult vor sich hin und malt Seerosen. Das kann doch niemand ernsthaft wollen.

Die deterministischen Schräglagen von “Ralph reicht’s”

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Walt Disney Pictures

“Ralph reicht’s” ist das Originellste und Zeitgenössischste, was Walt Disney Feature Animation seit einiger Zeit hervorgebracht hat. Ich stehe voll hinter meiner Kritik des Films in der letzten “Close up”-Sendung – der Film ist voll mit cleveren und witzigen Ideen, und die Dynamik und das Schauspiel seiner beiden Hauptcharaktere ist großes Kino. Rich Moore weiß, was er tut, das hat er bei unzähligen “Futurama”- und “Simpsons”-Folgen bewiesen, und außerdem gebührt jedem ein Schulterklopfen, der sich dem Thema Videospiele überhaupt mal auf bessere Weise annimmt als, sagen wir, Resident Evil.

Und doch gab es da ein paar Dinge, die nicht aufhören an mir zu nagen, und die ich natürlich in eine Vier-Minuten-Fernsehkritik nicht hineinquetschen konnte.

Spoiler für Ralph reicht’s ab hier.

Ralph reicht’s basiert auf der Prämisse, dass hinter den Schirmen einer Videospiel-Arcade eine uns unbekannte Welt existiert, in der sämtliche Figuren, die in den Videospielen vorkommen, ein eigenes Leben führen. Wenn die Videospiele gespielt werden, ist das für sie wie Arbeiten. Doch wenn gerade keiner spielt, zum Beispiel nachts, interagieren die Figuren nicht nur innerhalb ihres Spiels autark miteinander, über die Stromleitungen und die Verteilersteckdose, an der die Arcade-Automaten hängen, können die Figuren auch ihr Spiel verlassen und in andere Spiele wechseln, zum Beispiel um zu “Anonymen Bösewichter”-Treffen zu gehen.

So weit, so gut. Nach einem ähnlichen Prinzip operiert jeder Film dieser Art, der eigentlich unbelebten Dingen für den Zweck einer Geschichte Leben einhaucht. Und fast immer geht es dabei in einer Art Determinismus-Meditation um genau dieses Spannungsverhältnis zwischen “Gegenstand, der von Menschen für einen Zweck hergestellt wurde” und “Selbst denkendes und fühlendes Wesen”.

Am Beispiel Toy Story lässt sich das sehr gut demonstrieren: Die Spielzeuge in Andys Zimmer führen ein Eigenleben mit ihren internen Querelen, sie sind aber unter dem Banner des Spielzeuge-von-Andy-Seins vereinigt. Als ein neues Spielzeug, Buzz Lightyear, diese Dynamik stört, weil er noch nicht weiß, dass er ein Spielzeug ist, entsteht ein Konflikt, der dadurch gelöst wird, dass Buzz in seiner Identität als Spielzeug eine erfüllende Aufgabe und keine Abwertung seines Charakters sieht.

Damit Toy Story funktioniert, muss es natürlich einige ungeschriebene Regeln geben, nach denen die Welt des Films operiert. Allen voran gilt, dass die Menschen auf keinen Fall merken dürfen, dass die Spielzeuge in ihrer Abwesenheit lebendig sind. Diese Regel wird nie direkt ausgesprochen, aber einer der Höhepunkte des Films entsteht daraus, dass die Regel bewusst und kontrolliert gebrochen wird, um Nachbarsjunge Syd einen Schrecken einzujagen. Die Logik dahinter ist nachvollziehbar und es braucht keinen großen “Leap of Faith”, um sich vorstellen zu können, dass auch unsere Welt nach Toy Story-Regeln funktioniert.

Bei Ralph sieht das ganze anders aus. Adam Quigley brachte im /Filmcast die Probleme des Films ziemlich gut auf den Punkt: “There’s so many rules they have to set up during the film, at a certain point it becomes exhausting just keeping track of all the expositional format of how this world can operate.” Auch Christopher Orr hat im “Atlantic” angemerkt “Unlike the Pixar films toward which it aspires — which marry sophisticated conceits to straightforward storylines— Wreck-It Ralph consistently gets lost in its own intricate plot mechanics.”

In Rich Moores Film sind die Regeln nicht nur allgemein gültige Prinzipien, die sich natürlich aus der Konfiguration der Handlung ergeben – etwa, dass das Spiel nicht mehr funktioniert, wenn es einer der Charaktere verlässt. Es werden vielmehr zusätzlich alle möglichen Regeln und Meta-Regeln eingeführt, die nicht durch interne Logik motiviert sind, die der Film aber braucht, um zusätzlich zu Ralphs innerem Identitäts-Konflikt auch noch einen äußeren Konflikt herzustellen, der den Plot des Films vorantreibt.

Ein paar Beispiele: Wenn ein Spiel vom Netz getrennt wird, sterben alle Charaktere darin, außer sie retten sich vorher (Was ist bei Stromausfall?). Wenn man in seinem eigenen Spiel stirbt, respawnt man, wenn man in einem anderen Spiel stirbt, nicht. Wenn einem Spiel die Einmottung droht, kann man durch die Stromleitung aus dem Spiel fliehen, außer man ist ein “Glitch”, wie Vanellope, dann ist man in seinem Spiel gefangen. Wenn ein Glitch Sugar Rush gewinnt, wird das Spiel auf null gesetzt, die Charaktere behalten aber alle Erinnerungen. Spielfiguren sind eigenständige Personen mit ausgeformten Charakteren und eigenenen Motivationen, aber sie sind auch “Code”, der von findigen Bösewichtern manipuliert werden kann. Es ist wirklich ermüdend.

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Walt Disney Pictures

Weil all diese Regeln sich nicht immer logisch aus dem Fortgang der Handlung motivieren lassen, müssen sie im Film explizit mehrfach ausgesprochen werden, damit der Zuschauer sie versteht. Für die “Respawn”-Regel, die Ralphs Leben außerhalb seines eigenen Spiels in Gefahr schweben lässt (und damit indirekt das all seiner Co-Charaktere, da seine Abwesenheit ja das Spiel zur Fehlfunktion bringt), konnte sogar Sonic the Hedgehog als Testimonial gewonnen werden, der eine entsprechende Warnung von den Bannern der “Game Central Station” herunterruft. Eine Regel dieser Art kann jede Geschichte vertragen, vor allem wenn es die zentrale Voraussetzung für den weiteren Plot ist, und dann darf sie auch etwas willkürlich sein (zum Beispiel “Wenn Marty McFlys Eltern sich nicht auf dem Schulball ineinander verlieben, wird Marty nie geboren.”). Bei Ralph braucht man aber mehrere dieser Regeln, besonders um den Vanellope-Plot irgendwie am Laufen zu halten, und das ist schlicht und einfach schlechtes Storytelling.

Aus dieser merkwürdigen Unterwürfigkeit gegenüber willkürlichen Regeln entsteht auch das Ende und damit die Moral des Films, die mir irgendwie ein bisschen Sodbrennen bereitete. Ralph kehrt in sein Spiel zurück und findet sich damit ab, dass er dort auch weiterhin der Bösewicht ist und jeden Tag x-mal vom Dach des Hauses geworfen wird. Zum Ausgleich sind alle etwas netter zu ihm. Wiederum Adam Quigley dazu, diesmal auf Twitter:

Quigley formuliert seine Bedenken bewusst zugespitzt, aber er hat recht. Ralph endet tatsächlich mit einer fast schon sozialdarwinistischen Moral, die darauf basiert, dass jeder seinen Platz in der Welt und seine Rolle zu erfüllen hat, und auf keinen Fall versuchen sollte, aus dieser Rolle auszubrechen. Zum Dank bekommt er Kekse. Das gilt anscheinend besonders für Bösewichter, denn diese müssen existieren, damit alle anderen etwas haben, gegen das sie ankämpfen können.

Zum Vergleich noch einmal Toy Story: Auch Buzz Lightyear fügt sich – wie schon erwähnt – am Ende in seine Rolle als Spielzeug. Das tut er aber nicht, weil er einsieht, dass er nichts anderes sein kann oder sein darf (in dieser Phase befindet er sich zwischendurch, schicksalsergeben als Mrs. Nesbitt in der Puppenstube von Syds Schwester Hannah), sondern weil er feststellt, dass es einfach das großartigste auf der Welt ist, von einem Kind als Spielzeug geliebt zu werden.

wreckitralph

Walt Disney Pictures

Ganz anders Ralph. Ihm reicht es, dass seine Arbeit und sein Beitrag zur Videospiel-Gesellschaft künftig ernstgenommen wird, um für den Rest seines Lebens weiter den Bösewicht zu geben. Auch Vanellope wird am Ende des Films zur Prinzessin, was natürlich der Traum jedes Mädchens ist, aber sie behält wenigstens ihr Glitching, und rettet somit etwas von ihrer Persönlichkeit als Außenseiterin in den Mainstream. Ralph geht es besser als vorher. Er muss nicht mehr auf dem Schrotthaufen schlafen. Er darf Vanellope besuchen. Er bekommt ab und zu Kuchen. Aber seine törichten Pläne, “Good Guy” statt “Bad Guy” zu sein, hat er sich zum Glück aus dem Kopf geschlagen.

“Ich werde niemals gut sein, und das ist gar nicht schlimm”, lautet das Mantra der anonymen Bösewichter. Genau, ihr Plebs da draußen, ihr Kinder, die auf der falschen Seite der Stadt geboren seid: Wir brauchen euch, damit wir uns besser fühlen können, also bleibt, wo ihr seid. Der amerikanische Traum ist ausgeträumt. Oceania has always been at war with Eastasia..

Drei Anmerkungen zum Disney-Lucasfilm-Deal

Disney hat Lucasfilm für 4 Milliarden Dollar gekauft und die Welt steht Kopf. Okay, vielleicht nicht die Welt, aber zumindest meine Twitter- und Facebook-Timeline. Einige gute Witze und einige Entsetzensschreie waren dabei, die ausführlicheren Analysen werden sicher im Laufe des Tages eintrudeln – das Feld überlasse ich gerne den Experten. Doch für diejenigen, die ihre Kindheit nun endgültig im Müllschlucker verschwinden sehen, hier drei Dinge, die mir gestern abend im Kopf herumschwirrten:

1. Disney und Lucasfilm waren sich immer schon sehr nah

Dieser Kauf kommt nicht aus dem Nichts. Wer das glaubt, war zum Beispiel noch nie in einem Disney-Themenpark, wo die “Star Tours”-Attraktion schon seit Jahrzehnten zur festen Ausstattung gehört. Crossovers von Star-Wars-Charakteren mit Disney-Charakteren sind ein alter Hut. Aber auch inhaltlich standen sich die beiden Firmen immer schon nahe. Man sollte bei allem Fandom nicht vergessen, dass Star Wars im Grunde auch nur ein Märchen ist, dass George Lucas modernes Merchandising quasi erfunden hat und dass Disney doch wahrscheinlich nichts ruinieren kann, was die Prequels nicht schon längst in die Lavagruben von Mustafar geschüttet haben.

2. Disney ist mehr als Mickey Mouse

Es ist Unsinn, den Disney-Konzern auf niedliche Cartoons und eine zuckersüße Weltsicht zu reduzieren. Sicher, er hat im letzten Jahrzehnt solche Abscheulichkeiten wie High School Musical und Hannah Montana hervorgebracht und sein Kerngeschäft ist nach wie vor Familienunterhaltung, die nicht gerade für ihre Edginess berühmt ist. Aber Disney hat in den vergangenen Jahrzehnten auch Pixar groß gemacht und Filme wie Pirates of the Caribbean produziert. Und was sie Marvel ermöglichen konnten, seit sie den Verlag gekauft haben, kulminierend in den fantastischen Avengers, sucht Seinesgleichen. Natürlich sind sie ein gieriger Großkonzern, aber ihre kreative Seite ist nach wie vor bemerkenswert.

3. Sie haben die Chance, es diesmal richtig zu machen

Bis 2015 soll Star Wars: Episode VII entstehen, was vielen Leuten Angst einjagt. Doch: George Lucas wird nur noch als “Creative Consultant” mit an Bord sein, nachdem er gerade noch eine Steißgeburt wie Detours auf den Weg gebracht hat. Dieses Ergebnis sollte uns doch eher Hoffnung machen, dass jetzt alles gut wird. Lucas, visionäres Genie aber schrecklicher Drehbuchautor und Regisseur, wird endlich vom Thron gestoßen und überlässt denjenigen die Zügel, die Star Wars wirklich zu schätzen wissen. Ob mit Disney im Rücken oder nicht, es bietet sich nun die einmalige Chance, die Schmach der Episoden I-III auf der Kinoleinwand wiedergutzumachen. Und das sollte doch ein Grund zum Feiern sein.

Die Annehmlichkeiten des Mauerblümchendaseins

Bild: Capelight

Der Film The Perks of Being a Wallflower (dessen fragwürdiger deutscher Verleihtitel “Vielleicht lieber morgen” lautet, was Gespräche über den Film grundsätzlich kompliziert macht (“Was? Warum willst du nicht jetzt drüber reden?!”)) beginnt mit einer traumwandlerischen nächtlichen Fahrt durch einen orange-golden beleuchteten Stadttunnel vor den Toren von Pittsburgh. Dazu spielt Musik. Ich weiß nicht mehr, ob es die Filmmusik von Michael Brook ist oder der Song “Asleep” von den Smiths, aber ich wusste in diesem Moment dass mich dieser Film gefangen nehmen würde.

Die self-fulfilling prophecy wurde wahr und ich saß tagträumend im Kino und sah Charlie dabei zu, wie er sein Inneres Licht findet, weil er die richtigen Freunde bekommt, die ihn mitnehmen in eine Welt, die nur aus nächtlichen Tunnelfahrten zu bestehen scheint. In dieser Welt sind die schlechten Dinge des Lebens – Enttäuschungen, Schmerz, Hass – vor allem Inspiration für poetischen Ausdruck. So fügt sich alles zusammen und man kann sich, wie die Catchphrase des Films es ausdrückt, mal so richtig schön “unendlich” fühlen. Ach ja.

Während ich all das sah und fühlte, wusste ich gleichzeitig, dass The Perks of Being a Wallflower gar kein so furchtbar guter Film ist. Er bot keinerlei inszenatorische Besonderheiten und auch auf der Storyebene kann man ihm eine Menge vorwerfen, was Peter Bradshaw meiner Ansicht nach gut zusammengefasst hat: Etwa, dass die schwule Figur Patrick nur als Opferlamm für die Heterofigur Charlie existiert und dass das Thema Missbrauch im Film eine sehr oberflächliche, fast schon nervige Charaktermotivationsmaschine ist. (“All normal teenage loneliness is not good enough”, was mich auch hieran erinnerte.)

Ich mag die Smiths gar nicht

Meine eigene Schulzeit hat nichts mit der von Charlie gemeinsam. Natürlich musste ich als Klassenstreber, dem Schule tatsächlich Spaß gemacht hat, auch meine Dosis Hänselei ertragen, aber spätestens im Oberstufen (=High School)-Alter hatte ich mich irgendwie im Gesamtgefüge der Klasse eingenistet. Ich war weder introvertiert, noch mochte (oder mag) ich die Smiths, noch musste ich mir Manic Pixie Dream Friends suchen, die mich aus meiner Misere herausholten.

Und trotzdem brauchen sich Filme wie Perks gar nicht mal anzustrengen, um mich mit nur wenigen Würfen umzukegeln. Warum? Vielleicht, weil die Geschichte, die der Film erzählt, inzwischen etwas archetypisches hat. Sie lässt sich auf jeden Fall problemlos durch die Filmgeschichte zurückverfolgen (eine gerade Linie führt von The Perks of Being a Wallflower über Almost Famous und Dead Poets Society zu Harold and Maude und Rebel Without a Cause) und in der Literatur auch mindestens bis “The Catcher in the Rye”, aber sicher auch darüber hinaus: Diesen Geschichten zufolge steckt in jedem depressiven, einsamen (männlichen!) Teenager ein missverstandener Poet, der mal mehr (Perks), mal weniger erfolgreich (Catcher in the Rye) hervorgeholt werden kann. Was mich darüber nachdenken lässt, wie viele frustrierte, missverstandene Philosophen es wohl in der griechischen Antike gegeben haben muss, deren auf Papyrus gekritzelte Depri-Gedichte leider verschollen sind.

Regisseur Stephen Chbosky, der sein eigenes Buch verfilmt hat, muss sich dieses Archetyps bewusst sein, denn schließlich gibt Charlies Englischlehrer (im Film gespielt von Paul Rudd) seinem Schützling genau diese Bücher und Filme als Anschauungsmaterial, während Chbosky selbst zugegeben hat, dass seine Schulzeit eigentlich auch ganz anders war.

Mit anderen Worten: Hier zeigt sich wieder einmal (und mir ist bewusst, dass diese Erkenntnis absolut nicht neu ist), was passiert, wenn man junge Autoren Bücher schreiben lässt: sie schreiben über junge Autoren. Nein, sie schreiben über die Tagträume von jungen Autoren. Und hunderttausende junger Autoren und junger Möchtegern-Autoren und nicht mehr junger Autoren, die aber gerne noch mal jung wären, auf dem ganzen Planeten stimmen ebenso träumerisch in den Chor der Mauerblümchen ein, die Figur auf den Seiten oder der Leinwand betrachtend – halb verständnisvoll, halb neidisch. Das ganze ist scheinbar so einfach und so manipulativ, dass man es eigentlich verabscheuen müsste. Aber es ist leider doch viel schöner, sich von der sentimentalen Woge einfach mittragen zu lassen. Ist es, glaubt mir.

Vielleicht Lieber Morgen startet am 1. November in den deutschen Kinos. Eine Art Kurzfassung dieses Artikels am Samstag in “Close up”.

Was vom “BildBlog” übrig bleibt

Mein Artikel “‘Wired’ ist in Deutschland immer noch tired (und klaut)”, den ich in der Nacht des vergangenen Samstag in einem Anfall von Kragenplatzen in die Tastatur gehackt hatte, wurde am Dienstag in der Rubrik “6 vor 9” eines der ersten und – ich schätze nach wie vor größten – Blogs Deutschlands verlinkt, dem “BildBlog”. Es hat mich sehr gefreut, dass mein Thema anscheinend von Kurator Ronnie Grob als relevant genug eingestuft wurde. Auf Facebook habe ich gewitzelt, dass ich den Punkt “vom BildBlog verlinkt werden” jetzt auch von meiner Bucket List streichen kann, und natürlich ist ein bisschen Aufmerksamkeit auch immer gut für’s Ego.

Da mir eine solche Verlinkung zum ersten Mal passiert ist, dachte ich mir, ich schreibe mal kurz eine Zusammenfassung dessen auf, was das ganze auf meiner Seite des Links ausgelöst hat. Vorweg: An normalen Tagen hat mein Blog 20 bis 30 Pageviews pro Tag – eine gewisse Anzahl fast immer über Google Image Search, die nach Jennifer Connelly Naked oder Ähnlichem suchen.

Am Tag der Bildblog-Verlinkung kletterte diese Zahl auf

2.271 Pageviews.

Mein “busiest day” ever, laut WordPress. Insgesamt wurde der Artikel seit Veröffentlichung

2.646 Mal

angeklickt. Ich hoffe/vermute, dass er meistens auch gelesen wurde. Als ich die Verlinkung sah, stellte ich mich drauf ein, mich für meine Meinung gegen eine Flut von Trollen rechtfertigen zu müssen, aber das war nicht der Fall, denn insgesamt rief der Artikel dann doch nur

4 Kommentare

hervor (einen davon von einem Kollegen, den ich direkt nach seiner Meinung gefragt hatte). Ich weiß nicht, ob das daran lag, dass er nicht so furchtbar polemisch war (ich bin kein guter Polemiker, eher ein Analytiker, und wenn ich mal polemisch werde ende ich meistens damit, mich dafür auch ein bisschen zu entschuldigen), oder einfach an der üblichen 90/9/1-Kultur des Netzes.

Ein bisschen schade fand ich das schon, ich hatte mich auf den vielbeschworenen Austausch und Rückkanal des Netzes gefreut. Dass der bei 20 Hits pro Tag verhalten bleibt, hat mich nie gewundert. Aber bei 2.200 Hits dachte ich: Da passiert mal was.

Inwieweit mir die Verlinkung erweiterte Publicity gebracht hat, kann ich nicht genau sagen. Ich habe einen neuen Follower bei WordPress (aber nicht jeder benutzt WordPress), aber leider

keine neuen Follower

bei Twitter gewonnen (was ich eher erwartet hätte). Ob ich in den Feedreadern weiterer Leute gelandet bin wird sich wohl erst zeigen, wenn ich wieder neue Artikel poste. Grundsätzlich kann ich aber auch verstehen, dass diejenigen, die wegen eines Medienartikels hierher gekommen sind und dann sehen, dass ich hauptsächlich über Film blogge und twittere, sich gegen eine Verfolgung entscheiden.

Last but not least fand ich die Durchklick-Rate interessant. Von den über 2.000 Menschen, die am Dienstag den Artikel angeklickt haben, in dem ich jemandem im Grunde Plagiarismus vorgeworfen habe, haben sich gerade mal

24 den Originalartikel angesehen.

Vielleicht kannten ihn manche auch schon, immerhin lief er Ende Februar durchs Netz, aber die Zahl fand ich dann doch erschreckend klein. Etwas interessanter (36 Klicks) schien einigen Christian Jakubetz’ Blogeintrag, den ich hinter “ordentlichen Arbeitsbedingungen” verlinkt hatte. Und jeweils unter 20 Menschen klickten sich zu den Podcasts durch, die ich als Belege für die “Wired”-Strategie verlinkt hatte.

Von wem ich mir natürlich eine Reaktion erhofft hatte ohne wirklich damit zu rechnen – der Redaktion der dritten deutschen “Wired” – kam erwartungsgemäß nichts. Immerhin: Chefredakteur Alexander von Streit folgt mir jetzt auf Twitter. Der Autor des von mir angegriffenen Artikels, Michael Moorstedt, ist im öffentlichen Social Web nicht sehr stark unterwegs (gut, muss man jetzt auch nicht, so als “Wired”-Redakteur), deswegen konnte ich ihn schlecht direkt ansprechen. Wäre ich er weiß ich aber auch nicht, ob ich auf einen Anpinkler wie mich reagiert hätte.

Ich will mich nicht beschweren, aber der insgesamte Mangel an Feedback trotz so vieler Klicks hat mich dann doch gewundert. Andererseits: Ich weiß, wie viel ich im Netz lese ohne zu kommentieren. Also bin ich wahrscheinlich selbst daran (mit) Schuld.

“Wired” ist in Deutschland immer noch tired (und klaut)

Als im vergangenen Jahr eine deutsche “Wired” angekündigt wurde, stand ich innnerlich Kopf. Endlich! Und mit Thomas Knüwer war auch noch ein Chefredakteur am Ruder, mit dem man nicht immer einer Meinung sein muss, der aber zumindest gut provozieren kann und die neue Medienwelt verstanden hat – sagt er zumindest. Das Ergebnis wirkte dafür dann aber erstaunlich zahnlos, wie ich damals in epd medien schrieb.

Über Ausgabe 2 habe ich damals kein Wort verloren (ich fand sie so la la, der Comic war gut, die Titelstory unausgegoren), und jetzt liegt seit ein paar Tagen Ausgabe 3 an den Kiosks, zum zweiten Mal unter der Regie von Alexander von Streit. Ich gebe ehrlich zu, dass ich aus Zeitmangel noch nicht dazu gekommen bin, sie ganz durchzulesen. Nach der Lektüre der vorderen Teile und der Titelstory ist mein Eindruck jedoch: Sie haben es immer noch nicht verstanden.

“Wired” Nummer 3 hat einen Leserbrief von mir abgedruckt, den ich auf dem Redaktionsblog hinterlassen hatte. Dort hatte ich geschrieben:

Ich wünsche mir für die nächste WIRED mehr überraschende Geschichten und Entdeckungen, die ich noch nicht vorher in verschiedenen Blogs gelesen habe. Und einen etwas respektloseren Ton, der die WIRED-Philosophie von Optimismus und Begeisterung für Technik vermittelt.

Die amerikanische “Wired”, die ich seit drei Jahren im Abo lese, ist jeden Monat wieder eine Entdeckung. Redakteur Adam Rogers hat die “Wired”-Methode in einem Podcast sehr gut beschrieben. Jedes Thema, erklärt er, kann durch die “Wired”-Brille betrachtet werden – man muss nur herausfinden, was daran neu und aufregend ist. “Wired” ist mehr als eine Zeitschrift oder eine Website, es ist eine Weltanschauung. Und um diese Weltanschauung Monat für Monat neu mit Leben zu erfüllen, hat “Wired” hohe journalistische Standards (vgl. Factchecking) und eine starke narrative Komponente. “Wired”-Features sind Geschichten. Mir ist klar, dass ich hier zu einem gewissen Grad die PR des Magazins wiederkaue, aber ich empfinde das auch jeden Monat beim Lesen so. “Wired” überrascht mich jeden Monat mit spannenden, erkenntnisreichen Geschichten, über Dinge, von denen ich noch nie etwas gehört habe oder in meinen eigenen Fachgebieten zumindest mit bemerkenswerten Denkansätzen, und das obwohl sie gedruckt ist. Und in allem, was die “Wired”-Leute um ihre Features drumherum stricken, bringen sie mich zumindest zum Lachen.

Das meinte ich mit meinem Leserbrief, denn in der deutschen “Wired” vermisse ich genau das. Die erste Hälfte der dritten Ausgabe hat einige gute Ansätze (mir gefiel die Story über Luke Jerram und die Datensammlung über Schönheits-OPs), aber auch jede Menge WTF-Momente. Warum zum Beispiel steht auf dem Cover nirgendwo, wer dort zu sehen ist? Und warum hat diese Person, ein Musiker der Gruppe Gomma, wie sich später herausstellt, null Bezug zu der Story, die er bebildert? Und warum – und das ist das, was mich am meisten ärgert, ist das Titelthema der “Wired” eine Kopie eines Artikels, den ich vor sieben Monaten im Netz gelesen habe?

Mein Misstrauen fing schon beim Thema an. “Tracking”, dachte ich mir, “das kommt dir doch irgendwie bekannt vor, hast du da nicht letztens was gelesen?” Als ich anfing zu lesen, steigerte sich dieses Misstrauen, und in Absatz vier war es dann um mich geschehen. Ich warf mein Archiv an und fand den Artikel “I’m being Followed” aus dem “Atlantic” wieder, auf den ich im März dieses Jahres – über Rivva oder einen anderen Aggregator – gestoßen war.

Ich rudere etwas zurück. Der “Wired”-Artikel “Unter Beschuss” ist keine Kopie von “I’m being followed”. Der Autor Michael Moorstedt hat sich nur in seinem ersten Drittel, in dem erklärt wird, was Tracking ist, freigiebig bei Alexis C. Madrigal bedient. Etwa, indem er einen ähnlichen Einstieg wählt (Morgens den Rechner hochfahren, und schon werde ich verfolgt), indem er das Add-on Collusion benutzt, um die Tracking Cookies sichtbar zu machen, indem er nach seiner Einleitung einen Hintergrund-Absatz einschiebt, in dem erklärt wird, wie Werbung im Internet funktioniert (das hätte wohl jeder andere Journalist auch gemacht) und indem er danach die Firma Adnetik als Beispiel hernimmt. Ach ja, und er klaut einen Witz von Madrigal. Bei dem heißt es nämlich:

Allow me to introduce the list of companies that tracked my movements on the Internet in one recent 36-hour period of standard web surfing: Acerno. Adara Media. Adblade. Adbrite. ADC Onion. Adchemy. ADiFY. AdMeld. Adtech. Aggregate Knowledge. AlmondNet. Aperture. AppNexus. Atlas. Audience Science.

And that’s just the As.

Zum Vergleich, Moorstedt:

Manche der Ziele sind bekannt, Facebook, natürlich, oder die Google-Tochter doubleclick. Zum größten Teil finden sich jedoch Namen, von denen ich noch nie gehört habe: Acerna. Adblade. AdBrite. Adchemy. AddThis. Adify. Admeld. Adnetik. Adrolays. Adsfac. AdSpirit. Adtech. Audience Science. Und das sind nur die Firmen, deren Namen mit A beginnen.

Geschenkt. Wahrscheinlich hat jeder arbeitende Journalist sich schon einmal von einem fremden Artikel für seinen eigenen inspirieren lassen. Und in der zweiten Hälfte von “Unter Beschuss” besucht Moorstedt dann auch einen deutschen Tracker, bereitet die aktuelle Rechtslage auf und unkt am Ende noch einmal über ein mögliches bevorstehendes Ende des Prozesses (im Gegensatz zu Madrigal, der eher versucht, der ethischen Unangreifbarkeit des Prozesses habhaft zu werden und unter anderm versucht zu entdecken, warum wir dieses Verfolgt-werden “creepy” finden, obwohl uns eigentlich nichts passiert).

Was ich Besorgnis erregend finde ist nicht einmal das Bedienen aus einem anderen, noch immer frei zugänglichen Artikel aus einem großen US-Magazin, und das in Zeiten, in denen jeder Plagiator im deutschsprachigen Internet sofort aufgeknüpft wird. Ich finde es sehr traurig, dass dies in der Titelstory von “Wired” geschieht. Der Zeitschrift, die es sich eigentlich auf die Fahnen geschrieben hat, das Neue ausfindig zu machen; Geschichten zu erzählen, die zuvor noch niemand erzählt hat; und die dafür anscheinend ihren Autoren auch ordentliche Arbeitsbedingungen bietet. Das stimmt mich sehr nachdenklich.

Klar, “Wired” ist, in erster Linie, eine Marke. Diese Marke kann man natürlich in verschiedenen Ländern unterschiedlich besetzen und vielleicht hat der Verlag Condé Nast für Deutschland etwas anderes geplant als das amerikanische Mutterblatt. Sollte das jedoch nicht so sein und falls die deutsche “Wired” tatsächlich irgendwann so gut sein möchte, wie ihr Vorbild, hat sie noch einen langen Weg vor sich.

Euer technophober Determinismus kotzt mich an (I)

Schlagzeilen. Titelgeschichten. Man kann nicht mit’se, man kann nicht ohne’se. Und immer wenn Hitler grad nicht geht, kann man ja immer gut auf neueren technischen Entwicklungen rumhauen. Schließlich war früher alles besser.

Dabei sind manche alarmistischen Schlagzeilen so leicht zu entschärfen. So wie die des aktuellen “Stern”, der mir gerade an einem Zeitschriftenkiosk auffiel:

Screenshot: stern.de

Durch das simple Hinzufügen eines Halbsatzes nämlich ist jeder unbescholtene Bürger beruhigt. Immer online, aber sprachlos: Wie die digitale Welt unser Familienleben verändert, wenn wir uns wie komplette Deppen benehmen, was wir aber natürlich nicht tun.*

Echt jetzt. Ist doch ganz einfach.

* Wobei, “Stern”-Leser, …. Hm.