Die Illusion der fairen Filmkritik

Immer wieder habe ich mir gesagt, dass ich zu diesem Thema die Klappe halten will. Aber jetzt sitze ich doch hier und tippe, weil sich Leute, die ich eigentlich schätze, auf Twitter regelmäßig angiften. Und das alles nur, weil in einer vielleicht sogar lohnenswerten Debatte mehrere völlig unterschiedliche Themen in einen Topf geworfen werden.

Was ist passiert? Im August 2015 haben sich Antje Wessels und Sidney Schering, die beide im Netz sowohl privat als auch beruflich über Film schreiben (Sidney war damals einer meiner Interviewpartner für den Blogosphären-Post), vorgenommen, eine ihrer Meinung nach überfällige Diskussion über die Qualität von Filmkritik und Filmkritiker_innen loszutreten. Was als einigermaßen unkoordinierte Ventilation von persönlichem Frust begann, mündete schließlich in einem Plädoyer von Antje auf ihrer Website, in dem sie sich für “Faire Filmkritik” einsetzt. Diskutiert wurde dieses Plädoyer nach meiner Wahrnehmung vor allem unter Blogger_innen, weniger unter anderen professionellen Filmkritiker_innen, zum Beispiel im Verband der deutschen Filmkritik, der ja selbst vor zwei Jahren ein Flugblatt zur Lage der Filmkritik veröffentlicht hat.

Das Plädoyer

Genau genommen besteht das Plädoyer aus zwei Kritikpunkten, die für Antje aber unmittelbar miteinander zusammenzuhängen scheinen. Der eine ist, dass viele Filmkritiker_innen sich laut Antje in ihrem Beruf wie Idioten verhalten. Obwohl sie in der privilegierten Situation sind, Filme gesondert vorgeführt zu bekommen, Interviews mit inspirierenden Menschen führen zu dürfen und dafür bezahlt zu werden, ihre Meinung zu äußern, beschweren sie sich ständig über ihre Arbeitssituation, sind faul und ätzend im Umgang. Ihren persönlichen Frust und ihre persönlichen Vorlieben auch für Dinge, die wenig bis gar nichts mit den Filmen zu tun haben, die sie besprechen sollen, gießen sie in ihre Kritiken. Kurzum: Sie entsprechen genau dem Klischee des Filmkritikers, dass Jesse Eisenberg jüngst für den “New Yorker” aufgeschrieben hat.

So weit so gut. Diesem Kritikpunkt kann ich – auch wenn ich persönlich bisher nur wenige Vertreter_innen dieser Spezies erlebt habe – zustimmen. Ich habe mich oft genug selbst mit dem merkwürdigen Dünkel auseinandergesetzt, den ein Teil der Kolleg_innen an den Tag legt und ich habe eine klare Position dazu: Wer sich selbst für zu wichtig hält, um seinen Job ordentlich zu machen, gehört kritisiert, gekündigt und im besten Fall außerdem ausgelacht. Einen Film kritisieren, den man nicht oder nur halb gesehen hat; persönlichen Ärger an denen auslassen, die nichts dafür können; die Menschen, die hinter einem Film stehen, persönlich zu beschimpfen, statt sich mit ihrer Kunst auseinanderzusetzen – das ist schlicht und einfach unprofessionell.

Nervig und Lächerlich

Sich pausenlos darüber beschweren, dass der Markt die eigene Arbeit nicht wertschätzt und die Arbeitsbedingungen besser sein könnten, ist meiner Meinung nach nicht das gleiche. Es ist nervig, oft genug lächerlich, aber auch menschlich und nicht auf die Filmkritik-Branche beschränkt. So lange solche Menschen am Ende trotzdem ordentliche Arbeit abliefern, sollte man da als ebenfalls professionell arbeitender Mensch einfach drüberstehen oder eine vergnügliche Kolumne drüber schreiben.

Für Antje – und Sidney, der sie mal mehr, mal weniger sachlich auf Twitter verteidigt (Anmerkung: Sidney sieht sich hier außer Kontext zitiert Ich habe Sidneys als zweiten verlinkten Tweet augenscheinlich falsch verstanden. Er war, wie er in den Kommentaren erläutert, als humorvolle Aufspießung der ganzen Debatte gemeint, ich empfand ihn als passiv-aggressive Nonmention von wem auch immer. Es war wahrscheinlich dumm, ihn hier auf ähnlich raunende Weise und außer Kontext aufzugreifen. Wir haben das besprochen.) – sind beide Fälle allerdings Ausprägungen des gleichen Missstandes. Dies ist der zweite Kritikpunkt des Plädoyers: Die gescholtenen Kritiker_innen haben keinen “Respekt” vor den Filmen, über die sie schreiben, und sie haben nicht verstanden, welchen Zweck Filmkritik hat. Dieser ist laut Antje: “Filmkritiken sollten im Idealfall als Atlas für all jene Zuschauer fungieren, die mit dem Gedanken spielen, ins Kino zu gehen.”

A Little Respect

Über diesen Satz und seine Implikationen, die im Plädoyer auch noch weiter aufgefächert werden, schreibe ich gleich etwas und komme damit zum Herz dieses Posts. Aber um das Ganze noch etwas weiter in die Länge zu ziehen, will ich nur noch kurz etwas zu der Sache mit dem Respekt sagen. Ich höre dieses Argument öfter und ich habe es am Rande in meinem “Filme normal gucken“-Post gestreift. Ich halte es außerdem für gefährlich. Natürlich sollte man als Kritiker_in grundsätzlich erstmal jedem Film so unvoreingenommen entgegentreten, wie das eben geht, in einem Strudel von Vorwissen und PR. Aber genauso sollte man sagen dürfen, dass man persönlich einen Film “schlecht” findet. Nicht nur “am Publikum vorbeiinszeniert”. Dass ehrliche Arbeit und Mühe in ein Projekt geflossen ist, kann trotzdem bedeuten, dass das Ergebnis nicht überzeugt.

(Anmerkung: Ich sehe ein, dass dieser Absatz und der davor missverstanden werden können. Was er nicht bedeutet: Dass Sidney alles, was Antje schreibt, exakt genau so sieht. Dass Sidney oder Antje denken, dass Kritiker Filme nicht mögen dürfen.)

Jetzt sind wir endlich am Knackpunkt der ganzen Diskussion angelangt. Für Antje hat “persönlicher Filmgeschmack (…) in einer Pressevorführung nichts zu suchen”. Die wahre Kunstfertigkeit der “fairen” Filmkritik liegt darin, “sich in die Erwartungen der unterschiedlichen Zielgruppen hineinzuversetzen”. Das ermöglicht “unabhängige Berichterstattung”, denn die Annahme “Filmkritiken könnten niemals objektiv sein (…) [ist] schlicht und ergreifend falsch.”

Ehrenwert und tragisch, aber falsch

Antjes Argumentation geht also in die exakt entgegengesetzte Richtung des weiter oben erwähnten Flugblatts des VDFK. Ihrer Meinung nach ist es der explizite Zweck von Filmkritik, sich in jede_n einzelne_n mögliche_n Zuschauer_in hineinzuversetzen und eine Empfehlung auszusprechen, ob diese_r Zuschauer_in sein sauer verdientes Geld und seine knappe Zeit in diesen Film investieren sollte. Sie glaubt nicht nur, dass das möglich ist, sie hält es sogar für die einzig richtige Art der Filmkritik. Winston Roundtree gibt ihr recht. Ich nehme vorweg: Ich halte beide Annahmen für falsch. Die erste für ehrenwert aber falsch, die zweite für tragisch und falsch.

Ich möchte kurz versuchen, die erste Annahme zu entkräften, es sei möglich, Filme objektiv zu bewerten, indem man versucht vorherzusehen, ob sie einem bestimmten Publikum gefallen könnten. Es ist ja nicht so, dass ich mit den gesammelten Werken von Pauline Kael und Michael Althen in der Wiege geschlafen habe. Ich habe meine Filmbildung auch jahrelang aus “TV Movie” und anderen Zeitschriften gezogen, die genau diese Art der Filmbewertung vornehmen (“Cinema” zufällig nicht, aber “Cinema TV”). Ich halte sie für eine legitime Form des Servicejournalismus, aber sie ist nicht “objektiv”. Sie versucht, sich in eine begrenzte Zahl (!) bestimmter Zielgruppen hineinzuversetzen, aber sie ist nicht “unabhängig”. An die Stelle der persönlichen Meinung eines Autors tritt das behauptete Expertentum des Mediums. Das ist aber genauso ein Konstrukt wie Aggregatskritik und kann höchstens eine relative Meinung vermitteln. Keine Wahrheit, so schön das wäre.

Wichtig ist meine eigene Meinung

Die zweite Annahme ist aber die unangenehmere. Ich kann einfach nicht zustimmen, dass diese Art von Filmkritik die einzig richtige ist, im Gegenteil. Filmkritik sollte persönliche Meinung enthalten und zwar viel davon. Weil Filmkritik nicht nur Serviceempfehlung ist, sie ist Teil des kulturellen Diskurses. Was Filmkritik alles kann, welche Aufgaben sie wahrnehmen kann, das muss ich hier nicht alles noch einmal aufzählen. Dafür kann man das Flugblatt lesen, oder Rajkos Text oder Lucas’ Text oder A. O. Scotts Buch (das ich noch nicht gelesen habe) oder einen der dutzenden anderen Texte, die zu diesem Thema bereits aufgesetzt wurden, auch in den letzten paar Jahren.

In einer Sache gebe ich Antje Recht: Ich finde auch, dass es in einer guten Filmkritik um eine Beziehung zwischen Autor_in und Leser_in geht. Diese wird aber zunächst einmal von Leser_innenseite aus initiiert. Ich lese einen Text zu einem Film und die dort vertretene Meinung entspricht meiner oder nicht, auf jeden Fall aber regt sie mich im besten Fall zum Nachdenken an. Später lese ich einen weiteren Text, der von derselben Person geschrieben oder am selben Ort publiziert wurde und irgendwann habe ich vielleicht eine Beziehung zu Person oder Ort, die unabhängig vom konkreten Text existiert. Ich weiß, wenn ich kluge Dinge über Comicfilme lesen möchte, lese ich Matt Singer; wenn ich in meiner landläufigen Meinung herausgefordert werden möchte, lese ich Rajko Burchardt; wenn ich wissen möchte, wie ein intimer Kenner des Disney-Kanons denkt, lese ich Sidney Schering; wenn ich tendenziell linksliberale, intelligente amerikanische Kulturkritik lesen will, schaue ich mal, was bei “Slate” steht. Wichtig ist aber am Ende meine eigene Meinung, die durch die Beschäftigung mit den Meinungen anderer entsteht. Nicht, ob irgendjemand recht hatte, dass ein Film gut oder schlecht ist. Das alles kann Filmkritik leisten.

tl;dr?

Dieser Text ist sehr lang und womöglich hat jemand, der bis hier gelesen hat, schon wieder vergessen, was am Anfang stand. Deswegen möchte ich meine Kernthesen noch einmal zusammenfassen. Ich bin der Meinung, dass

  1. Filmkritiker_innen, die unprofessionell arbeiten, einen anderen Beruf haben sollten,
  2. Filmkritiker_innen, die nervige Zeitgenossen sind, ausgelacht werden sollten, aber ansonsten genauso toleriert werden müssen, wie andere nervige Menschen auch, so lange sie niemandem wehtun,
  3. Servicekritik, die an den Ansprüchen eines vorgestellten Publikums ausgerichtet ist, legitim, aber weder “objektiv” noch besonders “fair” ist,
  4. Filmkritik im Idealfall zu einem kulturellen Gespräch beiträgt und es Konsument_innen ermöglicht, sich eine eigene Meinung zu bilden und ebenfalls Teil dieses Gesprächs zu werden.

Diese Thesen zeigen, dass die Diskussion vielschichtig ist und mehrere Themen beinhaltet. Es ist sehr schwierig, sie in 140-Zeichen-Schüben, am besten noch auf Englisch (mit anderen Nicht-Muttersprachler_innen), zu führen. Aber sie ist es durchaus wert, geführt zu werden.

Drei Ergänzungen noch zum Schluss:

Ich habe einen Punkt versucht, so gut es geht auszusparen, und das ist Antje Wessels Person – obwohl diese im Zentrum des Textes steht und obwohl sie ihr Plädoyer aus ihrer eigenen Biografie herleitet. Wie auch immer diese Diskussion weitergeführt wird, ich finde es sehr wichtig, dass dies auch alle anderen Diskutant_innen tun. Es ist egal, ob euch Antje und ihre Art, Kritiken zu schreiben oder auf Twitter aufzutreten, sympathisch ist oder nicht. Wenn ihr sie persönlich angreift, verhaltet ihr euch exakt so unprofessionell, wie sie das ihren Kolleg_innen vorwirft.

Weil der Artikel sonst noch ein paar Schlaufen hätte drehen müssen, habe ich auch das größere Thema “Journalismus” ausgespart. Ich habe große Probleme mit einem Satz wie “Wenn ich heute ein Interview mit einem Schauspieler führe, empfinde ich das nach wie vor als große Ehre”. Journalismus kann im Gegensatz zu Kritik sehr wohl unabhängig (also nicht von fremden Interessen geleitet) sein, und wer für die reine Möglichkeit, sich in die PR-Maschinerie von Firmen einzuklinken, die etwas verkaufen wollen schon so dankbar ist, sollte meiner Ansicht nach noch einmal über seine Funktion in der Gesellschaft nachdenken. Damit meine ich nicht, dass niemand Fan von Künstler_innen sein darf oder sich nicht freuen darf, diese etwas zu fragen. Aber wenn man es als Ehre begreift, macht man sich damit selbst unnötig klein.

Schließlich bitte zu beachten, dass ich mich bemüht habe, in diesem Text an vielen Stellen hervorzuheben, dass er nur meine eigene Meinung in einer Diskussion wiedergibt. Eine Eigenschaft von Antjes Text, an der sich vielleicht auch andere bewusst oder unbewusst gestört haben, ist, dass er so absolut ist. Eine spöttische Überschrift “gehört sich einfach nicht”, eine überhaupt nicht faktisch überprüfbare Annahme ist “schlicht und ergreifend falsch”. Das mag einer journalistischen Zuspitzung geschuldet sein. Hilfreich in einem Gespräch gerade mit Kolleg_innen ist es aber nicht.

Außer den markierten Korrekturen, habe ich im Laufe des Abends noch ein paar Tippfehler in diesem Text korrigiert.

Essentialismus ist die falsche Waffe gegen YouTube

Erinnert sich noch jemand an Fappygate? Ein völlig bescheuerter und unnötig eskalierter Netzstreit von vor einem Jahr, in dem Sascha Pallenberg und Yasmina Banaszczuk auf Twitter aneinander gerieten und der darin endete, dass Yasmina sich vollständig aus Twitter zurückzog?

Weil der ausufernde, ätzende Sexismus am Ende das wahre Problem war, kann sich wahrscheinlich kaum noch jemand erinnern, worüber die beiden gestritten hatten. Banaszczuk hatte vermutet, dass sich Andreas Rickmann in einem Blogpost an einer ihrer Thesen bedient hatte, ohne sie zu erwähnen. Die These: Bei YouTube passiert Personality-Zeugs, das wir als erste Netzgeneration gar nicht wirklich mitbekommen und das wir nicht ernst genug nehmen.

LeFloid ist ihr Sascha Lobo

Das war vor einem Jahr. Seitdem ist viel passiert. Eine größere Gruppe YouTuber hat sich von ihrem Management losgesagt. Der YouTuber LeFloid hat die Kanzlerin interviewt und bekommt eine eigene Fernsehsendung. YouTube fährt derzeit eine riesige Werbekampagne in Deutschland, in der zwei Gesichter im Vordergrund stehen und nicht das Medium. Kurz: Was Rickmann und Banaszczuk vor einem Jahr noch beklagt haben, dürfte im kollektiven Gedächtnis angekommen sein. YouTuber sind die neuen Blogger. LeFloid ist ihr Sascha Lobo.

Lucas Barwenczik hat auf kino-zeit.de gerade darüber geschrieben, wie YouTuber Filmkritik machen. So, wie sie alles andere auch machen. Sie setzen sich vor eine Kamera und reden drauflos. Und weil Filmkritik für die meisten Menschen nicht gerade Kulturpraxis ist, wie Lucas kurz zuvor in einem anderen Artikel beschrieben hat, besteht diese Kritik vor allem aus der heiligen Dreifaltigkeit Inhaltsangabe, Bewertung, Konsumempfehlung.

Lucas kritisiert, dass die Kritiker auf YouTube ihr Medium nicht besser nutzen. Da haben sie schon Video zur Verfügung, könnten den Film zeigen, statt ihn wie wir Textknechte nur zu beschreiben, und sie machen es nicht. Stattdessen filmen sie sich beim Labern, ergeben zusammen ein “visuelles Vuvuzela-Konzert” – Flachheit, wo Tiefe möglich wäre. (Ich spare den Punkt, dass es in Deutschland keine Fair use-Gesetzgebung gibt und daher das Arbeiten mit Ausschnitten, zum Beispiel für Essay-Kritiken, immer mit deutlich mehr Abmahn-Risiko verbunden ist als anderswo, hier mal bewusst aus.)

Ich kann doch auch nichts damit anfangen

Es ist nicht so, dass ich Lucas’ Sorgen nicht nachvollziehen könnte. Nicht nur, was die Qualität der Filmkritik angeht, obwohl er dort ja nur in einen Chor einstimmt, dem ich als Wiederholer des Mantras “Wenn ihr gute Filmkritik wollt, macht sie selber, aber erhebt keinen Anspruch darauf, dass euch jemand dafür bezahlt” nur bedingt zuhören möchte. Aber ich kann mit YouTube-Vlogging auch überhaupt nichts anfangen.

Und zwar ebenfalls, weil ich es für eine schrecklich inneffiziente Nutzung eines visuellen Mediums halte, sich selbst beim Reden zu filmen. Einen Blogpost kann ich auf dem Handy lesen, während ich im Bus sitze. Einen Podcast kann ich hören, während ich zur Bushaltestelle laufe. Aber um ein YouTube-Video zu sehen, brauche ich sowohl eine Internetverbindung als auch ungeteilte Aufmerksamkeit. Und wenn der Informationsgehalt dann der gleiche wie bei einem Audio- oder Textformat ist, frage auch ich mich: Lesen geht schneller, Hören erlaubt Multitasking. Wann und warum soll ich das gucken?

Beautiful Faces statt Beautiful Minds

Mal ganz abgesehen davon, dass ich alter Sack natürlich keinen Bezug zu den Personen habe, die da reden. Aber in mir glüht auch noch dieser Funke des Blogzeitalters, der mir sagt: Ja ja, damals, als Blogs noch die Revolution waren, da standen noch die Texte im Vordergrund und eben nicht die Persönlichkeiten. Ich lese Blogtexte von Leuten, zu denen ich auch keinen vorherigen Bezug habe oder die hinter einem Pseudonym verschwinden, und ich finde sie trotzdem interessant, weil mich die Argumentation oder der Schreibstil überzeugt. Auf YouTube muss man jetzt plötzlich doch wieder irgendwie attraktiv sein. Statt “beautiful minds” sind jetzt doch wieder oberflächliche “beautiful faces” ein Kriterium.

Doch zum Glück hat das Altesacktum auch Vorteile. Zum Beispiel, dass es einen hoffentlich vor bestimmten Fallstricken bewahrt, über die man zuvor schon mal gestolpert ist. Und es sind diese Fallstricke, die in meinem Denken über YouTube plötzlich in meiner Erinnerung wieder laute Signaltöne abgeben und mich bitten, sie zu beachten.

Kids these Days

Da wäre einmal das “Kids these days”-Phänomen. Jede Generation beschwert sich über diejenige, die ihr nachfolgt. Jede ist der Meinung, dass sie alles selbst besser konnte und dass das, was nachkommt eine verwässerte/pervertierte Version dessen ist, wofür sie noch kämpfen musste/das hart Erarbeitete wieder zunichte macht/die Dinge, die bei uns ja noch einen Sinn hatten, jetzt ins Absurde weiterentwickelt. Manchmal reichen schon zehn Jahre Altersunterschied, um sich so zu fühlen – wie ich immer wieder feststelle, wenn ich Menschen Anfang 20 gegenüberstehe (Als Jahrgang 1983 gehöre ich zu denen, die als letzte in Deutschland noch einen Magister-Abschluss machen konnten, zum Beispiel).

Aber eben weil es ausnahmslos jeder Generation so geht, ist es Quatsch zu denken, dass es genau dieses Mal anders ist (obwohl es immer wieder auch gute Argumente genau dafür gibt). Wer bin ich, dass ich heutigen Jugendlichen vorwerfen darf, dass sie ihr ureigenstens Medium nicht so nutzen, wie ich das gerne hätte? Was unterscheidet mich von den Leuten, die zehn, zwanzig Jahre älter sind als ich und behaupten, Filmkritik in Blogs wäre keine echte Filmkritik? Leuten, die ich gerne zum Ice Bucket Challenge zwangsnachverpflichten würde.

Der zweite Fallstrick ist die Gefahr des Essentialismus. Ich habe eine Magisterarbeit darüber geschrieben, dass manche Filme, die im Computer erschaffene und bearbeitete Bilder nutzen, irgendwie interessanter sind als andere, weil sie die Möglichkeiten der Technologie stärker ausnutzen. Ich persönlich finde diese Filme auch heute noch interessanter, weil ich mich an den Beziehungen zwischen Kunst, Welt und Technik totfaszinieren könnte, aber ich würde nie wieder behaupten, dass sie anderen Filmen überlegen sind. Wenn man einmal damit anfängt, zu glauben, dass man weiß, welche essenziellem Eigenschaften ein Medium, eine Technik, ein Mensch, eine Nation hat, ist man ganz schnell am Rand von sehr tiefen normativen Abgründen, manche von ihnen durchaus gefährlich.

Eigenschaften, die wir gar nicht sehen

Könnte es nicht zum Beispiel sein, dass die Abgefilmter-Rant-Filmkritiken auf YouTube eine Eigenschaft aufweisen, die andere Medien nicht haben? Nämlich dass ich demjeningen, der mir da etwas erzählt, dabei in die Augen sehen kann? “Authentisch” ist das schlimme Wort, das jeder benutzt, wenn er über diese neue Generation von Nischenstars spricht oder schreibt, aber es muss irgendwas dran sein.

In einer wahnsinnig tollen Kritik eines Helene-Fischer-Konzertes tauchte mir mal dieser Gedanke auf, dass die Art von neuartiger Authentizität dazu führt, dass wir als Kulturkritiker diese Gebilde nicht mehr dekonstruieren können. Sie sind so echt und so roh, dass sie sich eigentlich jeder Kritik entziehen. Jede Kritik der Inszenierung wäre eine unfaire Ad-Hominem-Kritik. Und vielleicht ist genau das, was uns so unruhig macht, was uns sagen lässt “Was tun die da eigentlich und warum finden wir keine Maßstäbe dafür?” genau jenes, was ihre Fans mögen. Wir sind nicht diese Fans. Das müssen wir aber auch nicht sein.

Bild via Wikimedia Commons

Filme “normal” gucken

Als ich 2002 mein Studium mit dem Hauptfach Filmwissenschaft begann, wurde mir eine Frage immer wieder gestellt. “Kannst du denn jetzt Filme noch normal gucken?” Die Frage ist so beständig, dass sie selbst vor einem halben Jahr in David Streits Intervievv wieder auftauchte – was mich dazu brachte, noch einmal systematischer über das Thema nachzudenken.

Was Menschen, die diese Frage stellen, damit wohl meistens meinen ist: Ist es möglich, sich eine Art Unschuld beim Filme gucken zu bewahren, auch wenn man vielleicht mehr über Filme weiß, als vorher. Die Frage lässt sich sicher auf fast jeden anderen Beruf ummünzen. Kann ein_e Botaniker_in durch einen Park gehen, ohne überall Pflanzen zu identifizieren? Kann ein_e Architekt_in eine Stadt besuchen, ohne aus dem Augenwinkel die Statik der ihn oder sie umgebenden Häuser abzuschätzen? Das Eigentümliche bei Filmen ist wohl, dass sie ein allgegenwärtiges Konsumgut sind, über deren Hintergründe allerdings die wenigsten Menschen genauer nachdenken (wollen). Ich habe beobachtet, dass Ernährungswissenschaftler_innen gerne ähnliche Fragen gestellt bekommen.

1,6 mal pro Jahr ins Kino

Natürlich muss man die Frage zunächst umdrehen, das heißt: Wie schaut man einen Film denn “normal”? Was ist ein “normaler” Zuschauer? Jemand, der 1,6 mal pro Jahr ins Kino geht, 2014 in Monsieur Claude und seine Töchter und die Hälfte vom dritten Hobbit? Ich denke in diesem Zusammenhang oft an meine Eltern, die noch seltener ins Kino gehen, aber dennoch seit mittlerweile über 50 Jahren Filme schauen – jene Filme eben, die ihnen die großen Fernsehsender jeden Abend um 20.15 Uhr vorsetzen. Mit gewissen Abstrichen natürlich, meine Mutter mag zum Beispiel, ohne so genau sagen zu können warum, keine französischen Filme. Aber wie weit reicht die Spanne? Wann hört Filmkonsum auf, seine Unschuld zu verlieren?

Einer der Unterschiede, die ich zwischen “normalen” und “fortgeschrittenen” Filmguckern festgestellt habe, ist die Art und Weise, wie Filme kategorisiert werden. Meine Eltern wissen bei einem Film wahrscheinlich das grobe Genre, vielleicht noch, wer die Hauptrollen gespielt hat – falls die Schauspieler bekannt genug sind. Als ich ihnen vor kurzem Midnight in Paris ans Herz gelegt habe, ging ein großer Teil des Charmes an ihnen verloren, weil sie die vielen kleinen Filmstars nicht kannten, die sich dort in Minirollen tummeln. Filmliebhaber sortieren Filme stärker nach Regisseuren, nach Generationen oder “Schulen”, falls es diese gibt. Ausnahmen wie Tom Cruise, der jeden Film dominiert, in dem er mitspielt, bestätigen die Regel.

Die unsichtbare Linie

Aber fügt solches Zusatzwissen dem Filmgenuss wirklich so viele Dimensionen hinzu, dass “Normalität” beim Schauen verlorengeht? Diese Frage hat mich auch in meiner Filmblogosphären-Diskussion immer wieder beschäftigt, wo ich ja auch – vielleicht zu unrecht – darüber sinniert habe, ob es eine unsichtbare Linie zwischen Filmprofis und Filmamateuren gibt.

Wenn ich an mein Studium zurückdenke, sehe ich vor allem drei Dinge, die meinen Blick auf Filme verändert habe. Ich vermute, dass es anderen Menschen auch so geht, die Film – egal ob an einer Hochschule oder privat – intensiv studieren. Als erstes die Erweiterung des filmischen Vokabulars. Nachdem ich im ersten Semester Einstellungsgrößen, Montagetechniken, Beleuchtungsstile und andere Dinge gelernt hatte, die zur Filmanalyse gehören, war es mir viel besser möglich, präzise zu benennen, was einen Film in meinen Augen ausmachte.

Film-Traditionen und Denk-Traditionen

Zweitens haben sich mir historische Zusammenhänge erschlossen, die ich zuvor nicht kannte. Ich gebe gerne zu, dass ich vor meinen ersten Vorlesungen noch nie von der Nouvelle Vague gehört hatte. Jemand, der etwas älter ist als ich, kennt die Nouvelle Vague vielleicht, aber hat er mal die Werke der russischen Revolutionsfilmemachern gesehen? Nur wenige Menschen beschäftigen sich filmisch mit Epochen oder Genres, die für sie nicht irgendeine persönliche Bedeutung haben (vor meinen Studium hatte ich immerhin Metropolis gesehen, weil ich mich für Science Fiction interessierte). Aber zu wissen, auf welche Traditionen moderne Filmemacher zurückgreifen, wenn sie heute ihre Filme machen; welche Revolutionen es im Laufe der Filmgeschichte gab, das hat meinen Blick entscheidend geweitet.

Drittens schließlich führt ein Film-Studium dazu, dass man viel darüber erfährt, welche Gedanken sich andere Menschen bereits zu Filmen gemacht haben. Dabei ist es unerheblich, ob man tatsächlich – wie ich – Gefallen an Filmtheorie und an den Grundfragen dessen, was Film ausmacht, findet oder einfach nur viel Filmkritik liest. Der Punkt ist, dass man irgendwann feststellt, dass es viele verschiedene Arten gibt, Filme zu sehen und über Filme nachzudenken. Und dass somit reine Filmempfehlungen, jener “Service”, den etwa das Flugblatt zur aktivistischen Filmkritik so verschreit, nur ein kleiner, wenig ergiebiger Aspekt der Beschäftigung mit Film ist.

Das alles ist aber, wie gesagt, nur reines Wissen, dass sich jeder aneignen kann, der genug Zeit darin investieren möchte. Einige Menschen tun das zu unterschiedlichen Graden und wahrscheinlich werden sie dennoch nur selten gefragt, ob sie Filme noch “normal” schauen können. Sie schauen Filme eben informierter, sie können sie besser kontextualisieren und genauer benennen, was sie an ihnen mögen, oder eben nicht.

Sichten statt sehen

Meiner Ansicht nach kommt ein gewisser “Unschuldverlust” eher in dem Moment, wenn dieses Wissen zum Beruf wird. Wer als Filmkritiker_in arbeitet, als Redakteur_in für einen Fernsehsender, als Mitarbeiter_in einer PR-Agentur, wer ein Kino betreibt oder für ein Festival oder einen Verleih Filme sucht, für den wird ein Film von einem kulturellen Gut – egal wie sehr man es künstlerisch zu schätzen weiß – zu einem Broterwerb. Man “sichtet” statt zu “sehen”. Muss man nach dem Film eine Kritik schreiben oder diesen später verkaufen, denkt man vielleicht schon während des Films darüber nach, welche Momente man hervorheben möchte und mit welchen Formulierungen. Soll man den Film für eine Auswertung in einem anderen Kontext bewerten, prüft man schon während des Sehens, ob der Film für diesen Kontext passend ist. Wenn nicht, und falls man die Kontrolle darüber hat, bricht man die Sichtung vielleicht frühzeitig ab, weil die Zeit zu kostbar ist. (Eine der Erfahrungen, die mir als Mensch, der Dinge gerne zu Ende bringt am Anfang meiner Zeit bei 3sat am meisten das Herz gebrochen hat.)

Und noch über einen weiteren Aspekt denken Film-Amateure wahrscheinlich selten nach. Film-Profis sehen viele Filme. Und im Gegensatz zu Filmnerds, die dagegenhalten könnten, dass sie vielleicht sogar noch viel mehr Filme schauen, wählen Film-Profis diese Filme in der Regel nicht selbst aus. Diese Abwesenheit eines “selection bias” führt automatisch dazu, dass man seinen eigenen, filmischen Horizont noch einmal enorm erweitert, ob man will oder nicht.

Ein gigantischer Sumpf an schlechten Filmen

Zum Thema “oder nicht”: Sowohl als etwas-auf-sich-haltende_r hauptberufliche_r Filmkritiker_in als auch als jemand, der für ein Festival oder einen Lizenzgeber arbeitet, watet man regelmäßig durch einen gigantischen Sumpf an mittelmäßigen und wirklich schlechten Filmen. Und ich meine nicht Michael-Bay-schlecht oder Meine-Erwartungen-wurden-enttäuscht-schlecht. Ich meine abgrundtief, warum-hat-jemand-diese-Menschen-in-die-Nähe-einer-Kamera-gelassen-schlecht.

Die schlechten Filme sind aber nicht einmal das größte Problem. Viel erstaunlicher ist es, festzustellen, wie unfassbar viel Mittelmaß produziert wird. Filme, an denen nichts direkt falsch ist, aber die einfach nichts Besonderes an sich haben. Anschließend wird aber trotzdem von einem erwartet, dass man zu diesen Filmen eine Meinung hat – und diese Meinung kann anderswo in einer betriebswirtschaftlichen Entscheidung münden. Das verändert die Art, wie man Filme schaut.

Echter Genuss geht nicht verloren

Das Gute ist, dass selbst die Abgebrühtheit, die man in so einer Profession entwickelt, einem in der Regel echten Genuss nicht verderben kann. Sehr gute Filme stechen heraus, sie machen wach – meistens, damit man dann hinterher feststellen kann, dass alle anderen auch dieser Meinung sind und damit die eigene Meinung entweder wenig zählt oder der Film unerreichbar geworden ist. Ganz selten nur stehen die Sterne in einer Reihe und man gehört zu den ersten, die das Außergewöhnliche in einem Film erkennen, den andere vielleicht als belanglos abgetan haben. Zum Verfechter eines solchen Films zu werden und zu sehen, wie der Rest der Welt schließlich reumütig seine Sicht der Dinge ändert, für solche Momente lebt man als Film-Profi.

Der wahre Hirnfick, man möge mir mein Französisch verzeihen, kommt dann erst noch eine Stufe später – und er ist für mich der entscheidende Punkt in der endlosen und leider nur selten fruchtbaren Diskussion zwischen Kritiker_innen und Filmemacher_innen. Sobald man nämlich Teil der Industrie wird, die Filme tatsächlich regelmäßig und professionell herstellt, also wirklich hauptberuflich und nicht nur ab und zu, ist der Unschuldsverlust komplett. Ich schreibe hier spekulativ, weil ich selber nie Filmemacher war, aber ich habe es bei anderen beobachtet.

Soll man einen IKEA-Tisch kritisieren?

Der Punkt ist auch hier nicht der Verlust der Wertschätzung für gute Filme. Jeder Profi weiß gute Arbeit zu schätzen. Das Problem ist, dass er oder sie jetzt weiß (und nicht nur ahnt), wie viel gute Arbeit auch in mittelmäßigen und misslungenen Filmen steckt. Die oben erwähnten un-besonderen Filme, die nichts falsch machen – auch für sie haben jede Menge hart arbeitende Menschen viel Schweiß gelassen. Wahrscheinlich haben viele von ihnen mit Herzblut an ihr Projekt geglaubt. Und in so vielen anderen Lebensbereichen ist “gut genug” auch tatsächlich gut genug. Sollte man einen Standard-IKEA-Tisch dafür kritisieren, dass er formell nicht besonders innovativ ist? Dass er nicht aus der Masse von Tischen heraussticht?

Und selbst wenn man einen Film vielleicht nicht außergewöhnlich findet – die Filmbranche ist nicht groß und die Chancen stehen gut, dass man einen der Menschen kennt, die an diesem Film beteiligt waren. Dass man weiß, dass dieser Mensch sein Bestes gegeben hat. Immer wieder sind auch Filmkritiker_innen in diese Falle hineingezogen worden, wenn sie im Laufe ihrer Zeit persönliche Beziehungen zu Filmemacher_innen aufgebaut haben, am prominentesten vielleicht Pauline Kael, ein jüngeres Beispiel ist der abscheuliche Vorwurf, der die Gamergate-Debatte losgetreten hat. Als Kritiker_in kann man in so einem Fall wenigstens noch sagen, dass man einen bestimmten Film nicht besprechen möchte, aber sollte diese “Menschen haben hart dafür gearbeitet”-Argumentation wirklich für alle gelten, die über den Film urteilen sollen? Oder verdirbt man nicht gerade dadurch die Fähigkeit, Filme “normal” zu gucken.

Der Durchschnitt als Maßstab

Weil ich gerade in der Anfangszeit meines Studiums so oft gefragt wurde, ob ich Filme noch normal gucken kann, hatte ich mir irgendwann eine Standardantwort zurechtgelegt. Sie lautete: Durch zusätzliches Hintergrundwissen werden für mich gute Filme besser und schlechte Filme schlechter. Wahrscheinlich ist das eine Form von “nicht mehr normal”. Aber da fast jeder von uns irgendeine Form von besonderem Wissen hat, die einem manchmal hilft und manchmal im Weg steht, gibt es diese mythische Normalität vielleicht auch gar nicht, außer eventuell im rein statistischen Durchschnitt. Der jedoch sollte meiner Ansicht nach nie als Maßstab herhalten. Sonst würden wir uns doch alle viel zu sehr der persönlichen Erfahrung berauben, die wir jedes Mal machen, wenn wir überhaupt einen Film sehen dürfen.

Wie sind eure Erfahrungen mit dem Sehen von Filmen? Wie beeinflusst euer Vorwissen die Filme, die ihr schaut? Für die Antworten auf diese Fragen besitzt dieses Blog eine Kommentarfunktion.

Bildquelle

In eigener Sache: Podiumsdiskussion beim FILMZ Festival Mainz

Am 30. November werde ich auf dem FILMZ Festival in Mainz an einer Podiumsdiskussion “Zur Lage der Filmkritik in Deutschland” und zum Flugblatt für aktivistische Filmkritik teilnehmen. Mit mir sitzen einige alte Bekannte auf dem Podium: Norbert Grob hat meine Magisterarbeit betreut, Rudolf Worschech ist mein Chef bei “epd film” und Dennis Vetter hat mit mir studiert. Mit Marli Feldvoß war ich immerhin schon in Pressevorführungen, glaube ich.

Hier ist der Text aus dem Programmheft:

Lesen Sie Filmkritiken noch in gedruckten Fachzeitschriften oder informieren Sie sich über aktuelle Kinostarts über Blogs im Internet? Reicht Ihnen vielleicht schon der Trailer oder das Staraufgebot für Ihre Entscheidung ins Kino zu gehen? Oder schauen Sie Filme sowieso nur noch auf dem Tablet? Um für ihre Rezipienten auch im 21. Jahrhundert attraktiv zu bleiben, müssen Filmkritiker_innen auf diese Fragen Antworten finden. Der Verband der deutschen Filmkritik hat mit ihrem „Flugblatt für aktivistische Filmkritik“ ein Zeichen gesetzt: Um gesellschaftlich relevant zu bleiben, soll sich die Filmkritik gegen eine Anpassung an die Marktlogik und einem Eigenverständnis als Dienstleister für Filmverleiher und Programmkinos stellen. Stattdessen sollen Filmkritiker_innen wagemutige Positionen einnehmen und dabei ästhetisch wie kulturpolitisch Stellung beziehen. Auf Basis des Flugblatts diskutieren einige der renommiertesten Filmkritiker_innen über die Potentiale einer „aktivistischen“ Filmkritik unter Berücksichtigung neuer Rezeptionsbedingungen des Publikums:
Dennis Vetter (Vorstand im Verband der Deutschen Filmkritik VDFK)
Marli Feldvoss (Publizistin, Filmkritikerin und Lehrbeauftragte für Filmgeschichte)
Prof. Dr. Norbert Grob (Wissenschaftler, Autor, Essayist / Professur für Mediendramaturgie und Filmwissenschaft in Mainz)
Alexander Matzkeit (Freier Journalist und Blogger)
Rudolf Worschech (Verantwortlicher Redakteur epd film)
Moderation: Andreas Heidenreich (Vorstandsmitglied im Bundesverband kommunale Filmarbeit, Programmgestalter beim Kommunalen Kino Weiterstadt und der Caligari FilmBühne, Leiter des Filmfests Weiterstadt u.v.m.)

Ich bin explizit als Blogger geladen, werde mich also bemühen, die Rolle gut zu spielen. Das heißt, ich werde einen Kapuzenpulli tragen, vom Podium twittern und generell eher pöbeln als argumentieren. Logo.

Das ganze findet statt in meinem alten Hörsaal
im Mainzer Medienhaus, Wallstraße 11, am 30. November 2014, um 11 Uhr.
Der Eintritt ist frei.
Mehr Infos zu FILMZ auf deren Homepage.

Quotes of Quotes (XXIV) – Glenn Kenny on the Film Criticism Landscape

But in terms of the film critic landscape, it’s just weird that these people get into these arguments. There’s all this weird drama. Like, people are talking about being afraid to say bad things about “Boyhood?” Who the fuck is afraid to say bad things about “Boyhood?” Who gives a shit? People say, “We need a culture that embraces dissent.” It’s not dissent! Dissent is… (impersonates old Russian Grandmother) “Dissent is when you’re living in Soviet Russia and you’re put under house arrest!” Big fucking deal, you have a different opinion. We don’t have to embrace different opinions, it’s called arguing. It’s what we do. “Oh, poor me, I’m the only person who didn’t like ‘Boyhood.’” Just get the fuck off the cross, man, we need the wood.
– Glenn Kenny, Film Critic, interviewed by Greg Cwik for “Criticwire“,
probably inspired by Kenneth Turan

Wenn die Filmkritik das Gespräch sucht

The Wolf of Wall Street war nicht jedermanns Sache. Meine zum Beispiel nicht. Doch da ich die Gelegenheit hatte, nach dem Kino noch mit zwei Kollegen kurz über den Film zu sprechen, wusste ich direkt, dass ich mit dieser Meinung nicht überall auf Zustimmung stoßen würde. Lukas Foerster und Ekkehard Knörer ging es anscheinend ähnlich. Die beiden fingen auf Facebook an, ihre konträren Meinungen zum Film auszutauschen und entschieden sich schließlich, ihre Diskussion in Gänze bei “Cargo” zu veröffentlichen. Das Ergebnis ist faszinierend zu lesen: Zwei Menschen wechseln höchstkluge Argumente – und am Ende darf man sich selbst irgendwo dazwischen positionieren.

Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob das so selbstverständlich ist. Kritik, so scheint es mir doch meistens, ist traditionell nach wie vor etwas, was alleine geschmiedet wird. Der Kritiker, die Kritikerin erfassen das Objekt, das sie konsumieren wollen, sie ordnen es ein, bilden sich eine Meinung und gießen diese Meinung dann in Worte. Diese Worte werden dann auf die Welt losgelassen, man darf dann auch auf sie reagieren – aber es ist nicht selbstverständlich, dass ein Kritiker oder eine Kritikerin sich die Blöße gibt, noch nicht in Stein gemeißelte Ideen in den Ring zu werfen, um sie mit anderen zu diskutieren.

Ein Mehrwert für alle

Kritikerinnen und Kritiker, die den Mut haben, ihre Ideen anderen im Gespräch gegenüberzustellen und damit im Zweifelsfall Gefahr laufen, von den Ideen ihres Gegenübers erdrückt zu werden, schaffen für alle Beteiligten einen Mehrwert. Sie selbst werden gefordert, ihre Eindrücke gegenüber Fachgenossen zu verteidigen. Und die Lesenden bekommen auf einen Schlag gleich ein Spektrum von Meinungen, in dem sie sich orientieren können.

Ich will dem Internet nicht die Ehre zuschieben, in diesem Bereich irgendetwas erfunden zu haben. Die Fernsehsendung “At the Movies” — für US-Amerikaner, die in den 80ern und 90ern groß wurden quasi die filmische Früherziehung — hat in dem Format Geschichte geschrieben. Auch Podiumsdiskussionen und andere Dialogveranstaltungen haben Tradition. Und Dialoge als Textform gehören mit ihren antiken Vorbildern schließlich an den Anfang aller westlichen Gedanken.

Ich glaube aber doch, dass die vernetzte Welt ihren Teil dazu beigetragen hat, der dialogischen Kritik neuen Antrieb zu geben. Denn schließlich ist das Internet, das “Web 2.0” allemal, im Grunde eine einzige “Conversation”, wie schon das Cluetrain-Manifest behauptete. Es lebt davon, dass man aufeinander reagiert, ins Gespräch kommt, Impulse abgibt und anderswo aufnimmt. Das kann nebenbei geschehen – in Kommentarthreads unter Blogs oder auf Facebook, in Twitter-Hin-und-Hers – oder ganz geplant, wie im Ur-Webformat Podcast, aber es zeigt auf jeden Fall Wege auf, auf die sich gerade die Filmkritik meiner Ansicht nach ruhig viel öfter verirren könnte.

Kleine Topologie des Filmgesprächs

Wie kann ein Filmgespräch praktisch aussehen? Für den Anfang ist der oben genannte Foerster/Knörer-Weg vielleicht der einfachste. Treibt einen ein Film oder ein Thema um, suche man sich einen Kollegen oder eine Kollegin, der man vertraut und auf deren Meinung man etwas gibt und tauscht Argumente aus. Ich habe das hier im Blog auch schon versucht – allerdings waren die Meinungen in diesen Gesprächen weniger konträr. Es gibt auch ein deutschsprachiges Blog, dass sich nur dieser Form verschrieben hat.

Hat man mit einem Gleichgesinnten erstmal eine gewisse Sicherheit im Gespräch erlangt, kann ein Gast das ganze sehr gut aufmischen. So funktionieren nicht wenige Podcasts, nicht zuletzt die Folge von “Kontroversum”, die mich auf den “Cargo”-Artikel gebracht hatte. Auch der “/filmcast” oder “The Golden Briefcase” arbeiten gerne mit dem “Zwei plus Eins” Prinzip.

Die nächste Stufe ist dann eine größere Runde, in der das Thema reihum gereicht wird. Hier ist schon etwas mehr Konzentration vonnöten, weil am Schluss des eigenen Beitrags möglichst immer noch ein Anknüpfungspunkt für den nächsten Redner gegeben werden sollte, um es der Leserin leichter zu machen. Das regelmäßige Feature The Conversation von “The Dissolve” funktioniert so und auch mein filmjournalistisches Highlight eines jeden Jahres, der “Slate” Movie Club, in dem vier Journalisten jeweils vier Beiträge schreiben und in diesem Reigen versuchen, die kritische Beurteilung des vergangenen Jahres Revue passieren zu lassen.

Und schließlich ist da die freie Gesprächsrunde mit mehr als drei Teilnehmenden. Wiederum das Feld vieler Podcasts, aber nicht unbedingt derer, die ich persönlich am liebsten höre. Hier ist gute Moderation vonnöten und die Gefahr, dass einzelne Meinungen untergehen, wächst mit jedem zusätzlichen Teilnehmer, ebenso wie bei Podiumsdiskussionen. Im besten Fall entsteht natürlich völlig unabhängig von der Anzahl der Mitredenden brillanter Denkstoff.

Beispiele für weitere Gesprächsformate gerne in die Kommentare!

Bild: Flickr Commons/Arsene Paulin Pujo (1861-1939), Representative from Louisiana (1903-1913)

“Ich bin Produkt der Möglichkeiten von Online-Filmkritik” – Interview mit Kracauer-Preisträger Nino Klingler

Der Babo: Siegfried Kracauer

Am Wochenende wurde in Berlin zum ersten mal der Siegfried Kracauer Preis für Filmkritik verliehen – von der MFG Filmförderung Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Verband der deutschen Filmkritik (VdFk). Den Preis für die beste Filmkritik gewann Cristina Nord für einen Beitrag in der “taz”, doch mit dem Jahresstipendium über 12.000 Euro wurde ein Online-Schreiber ausgezeichnet: Nino Klingler, der regelmäßig für “critic.de” Rezensionen und Artikel verfasst. Freundlicherweise war Nino gestern zu einem kurzen E-Mail-Interview bereit.

Herzlichen Glückwunsch zu diesem Preis. Ich weiß, es ist eine blöde Frage, aber wie fühlt es sich an, ein Preisträger-Pionier zu sein?

Hm. Gut, denke ich. Ist ja auch ein feiner Preis.

In deiner Biografie auf “critic.de” steht, dass du Filmwissenschaft und Philosophie studierst. War der Weg zur Filmkritik für dich ein logischer oder wie bist du dahin gekommen, wo du jetzt stehst?

Nein, logisch im Sinne von zwangsläufig oder selbstverständlich war das ganz und gar nicht. Aus eigenen Antrieb wäre ich womöglich niemals zur Filmkritik gekommen, dafür fehlt mir so einiges. Ich wurde allerdings einmal nach einem Seminar angesprochen, ob ich nicht Lust hätte, probeweise einen Text bei “critic.de” zu veröffentlichen. So hat das angefangen. Also: Das Studium war insofern wichtig, als es die Verbindung ermöglicht hat. Am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin geht es ja durchaus familiär zu. Aber ein logischer Schritt aus Perspektive meines Studienerlebens war es nicht, Kritiken zu schreiben. Ich war lieber allein mit Buch und Filmen und streitbar abends mit meinen Freunden.

“Ich lasse mich vom Film anstoßen”

Was ist dir wichtig, wenn du einen Text schreibst? Worauf versuchst du zu achten?

Ein System habe ich nicht. Deswegen sitze ich ziemlich oft ziemlich lange vor einem weißen Bildschirm, was durchaus quälerisch sein kann. Wenn ich derart bei Null anfange, fühle ich mich gezwungen, woanders anzufangen als bei mir. Heißt: beim Film und bei meinen Notizen und Erinnerungen an die Seance. Ich lasse mich letztlich immer vom Film (oder was auch immer) anstoßen, versuche, allem so vorurteilsfrei wie möglich zu begegnen. Auch, wenn ich dann manchmal ziemlich weit weg vom Terrain des Filmes lande. Das ist die Gefahr.

Du hast den Preis für deine Texte auf “critic.de” bekommen, was ja auch für eine gewisse Wertschätzung der Online-Filmkritik seitens des VdFk spricht. Macht es für dich einen Unterschied, ob du für eine Online-Publikation oder eine Print-Publikation schreibst? Hast du eine grundsätzliche Meinung zur Lage der Filmkritik im deutschsprachigen Internet?

Zuallererst: Der Preis wurde nicht von der VdFk vergeben, sondern von einer unabhängig besetzten Jury, die nach eigener Aussage die Texte anonym gelesen hat. (Das stimmt natürlich. Eine schlechte Recherche meinerseits und ein gutes System. – Alex) Dass ich online veröffentliche, sollte also keinen Einfluss auf die Entscheidung gehabt haben. Davon abgesehen bin ich sicherlich zu hundert Prozent Produkt der Möglichkeiten von Online-Filmkritik. Ich wäre ja angesichts meiner schwach ausgeprägten Ambitionen niemals an ein Printmedium heran getreten. Nur durch die vergleichsweise niedrige Eintrittsschwelle ins Netz konnte ich überhaupt anfangen. Ich sehe das absolut positiv. Niedrige Eintrittsschwelle bedeutet für mich eben nicht, dass das Niveau leidet, sondern dass der Zugang freier wird. Und die Stimmen diverser. Ich habe bisher vielleicht vier Texte auf Papier veröffentlicht, das heißt so gut wie gar nicht. Aber es fühlt sich schon fein an, definitiver irgendwie. Ich kann ja nicht verhehlen, dass ich den altgedienten Anerkennungsstrukturen noch anhänge.

“Ich mag Diskutieren unglaublich gerne”

Hast du das Gefühl, gut mit anderen Online-Filmkritikern und Bloggern vernetzt zu sein? Oder ist das überhaupt notwendig und wichtig?

Oh … Ich bin sehr, sehr schlecht vernetzt. Das liegt an mir. Im digitalen wie im materiellen Leben gehört das Kontaktaufbauenundpflegen nicht gerade zu meinen Stärken. Hier in Berlin kenne ich schon einige meist ganz famose Kritiker, da begegnet man sich von Zeit zu Zeit. Ansonsten bin ich eher auf Tauchstation, allerdings ohne Überzeugung. Ich mag ja Diskutieren unglaublich gerne. Ich will meine Position da schon lange mal überdenken, gerade was Social Media angeht hänge ich zu innig an meinen Skrupeln.

Du hast jetzt zwar selbst einen Nachwuchspreis bekommen, aber gibt es trotzdem etwas, was du angehenden Filmschreibern mit auf den Weg geben würdest?

Oh Gott, nein. Oder doch: Vermeidet den Nominalstil! Und bringt mir bei, wie das geht …

Weißt du schon, wie es weitergeht mit dir und der Filmkritik?

Ich habe mir vorgenommen, da Anfang nächstes Jahr mal im Sinne von Planung drüber nachzudenken. Jetzt lasse ich alles, wie es ist.

“Ich bin ein verwerflicher Opportunist”

Letzte Frage: Dein Preis ist nach Siegfried Kracauer benannt. Bist du Fan von Kracauers Sichtweise auf Film als “Errettung der äußeren Wirklichkeit”? (Ich persönlich bin ja eher ein Anhänger der Arnheim-Balazs-Tradition)

Oh, ich bin kein Schul-Anhänger. Ich bin ein wahrscheinlich recht verwerflicher Opportunist. Die Sache mit der Errettung erklärt eben einiges ziemlich gut. Vor allem aber lässt sich mit diesem Gedanken eine bestimmte Art, sich filmisch mit der Welt auseinanderzusetzen, gut beurteilen. Aber das ist keine Glaubenssache für mich. Und auf Balazs wollte ich deswegen schon gar nicht verzichten. Ansonsten halte ich es eher mit dem frühen Kracauer. Wenn ich den Photographie-Aufsatz von 1927 lese, wird mir jedes Mal wieder schwindelig. Da bin ich dann schon Fan.

Danke für deine Mühen und viel Erfolg in der Zukunft.

Ninos “Chef” Frédéric Jaeger habe ich Anfang des Jahres interviewt.

Gefühlte Gemische II

In “Gefühlte Gemische” erzähle ich, basierend auf einer Idee von Christoph Hochhäusler, von meiner Filmsozialisation und von Filmsichtungen, die mein späteres Leben geprägt haben. Im ersten Teil habe ich mich mit meiner Kindheit befasst. Die Resonanz war so positiv, dass ich mich entschieden habe, eine Fortsetzung zu schreiben.

Mit ungefähr 15 Jahren, ich lebte inzwischen wieder in Deutschland und besuchte ein Gymnasium in Wiesbaden, veränderte sich etwas in meinem Selbstbild. In den Jahren zuvor hatte ich automatisch gefolgert, dass ich – weil ich Computer spannend fand – irgendwann Informatik studieren würde. Doch irgendwann sah auch ich ein, dass ich mit Sprache wesentlich besser umgehen konnte als mit logischen Operatoren. Schließlich hatte ich meine BASIC und Turbo-Pascal-Kenntnisse auch bisher hauptsächlich dafür genutzt, Textadventures und ähnliche narrative Programme zu erschaffen. Als in der elften Klasse die Wahl der Leistungskurse anstand, entschied ich mich sehr bewusst für Deutsch und Englisch. Und wo immer ich konnte, begann ich zu schreiben.

copy; Kinowelt

Meine erste veröffentliche Filmkritik erschien in einer kurzlebigen Schülerzeitung. Der besprochene Film hieß Lost in Space, ein wohl fast vergessenes Remake der gleichnamigen Fernsehserie mit William Hurt, Gary Oldman und Matt LeBlanc in den Hauptrollen, und er kam bei mir nicht gut weg. Die Kritik endet mit dem denkwürdigen Satz: “Wer eine effektlastige Space Opera mit mäßiger Story sehen will, für den ist ‘Lost in Space’ das Richtige. Wer anspruchsvolle Science-fiction gewöhnt ist sollte meiner Meinung nach lieber auf ‘Star Wars: Episode 1’ warten.” Wie das dann ausging, ist ja bekannt. Weitere Kritiken veröffentlichte ich auf meiner ersten eigenen Internetseite, lange bevor es Blogs gab.

Ungefähr zur gleichen Zeit veränderte sich auch mein Verhältnis zu Filmen. Meine Freizeit verbrachte ich zwar immer noch hauptsächlich mit Karten- und Rollenspielen wie “Magic: The Gathering”, doch zum Glück verschlang ich auch die dazugehörige Fachliteratur. Die inzwischen eingestellte Zeitschrift InQuest, die ich mit religiöser Anbetung las, hatte eine Liste mit den 100 besten fantastischen Filmen veröffentlicht und ich machte mich immer stärker systematisch, in Bibliotheken und der Fernsehzeitschrift, auf die Suche nach den dort erwähnten Klassikern. Inzwischen hatte ich sogar einen eigenen Fernseher im Zimmer. Ich sah Escape from New York und Jason and the Argonauts, Zardoz und Metropolis, Planet of the Apes, Conan the Barbarian und einiges mehr. Bis heute habe ich noch nicht alle Filme der Liste gesehen, hole aber immer noch nach.

Screenshot: DVD "2001: A Space Odyssey"

Mein Fernseher hatte etwa eine Bilddiagonale von 30 Zentimetern. Meistens machte mir das nichts aus, doch die erste gespannte Sichtung von 2001: A Space Odyssey endete im Disaster. Als ich völlig entnervt am “Beyond the Infinite”-Punkt angelangt war, griff ich zur Fernbedienung und spulte die gesamte Sequenz vor. Zusätzlich hatte die VHS-Aufnahme aus dem Fernsehen etwas zu früh aufgehört, so dass das finale Bild von “Star Child” fehlte. Ich war, gelinde gesagt, sehr verwirrt. Zum Glück kam der Film im Jahr 2001 noch einmal ins Kino – und dann begriff ich ihn. Inzwischen ist 2001 der Film, bei dem ich mit dem besten Gewissen sagen kann, dass er mein Lieblingsfilm ist.

Parallel zu Zeitschriften und Büchern nahm auch das Internet eine immer dominantere Rolle in meinem Leben ein. Ich baute weitere eigene Webseiten zu Bands und Fantasy-Welten, trat Mailinglisten bei und traf mich mit Gleichgesinnten aus ganz Deutschland. Parallel dazu bekam ich einen Job in unserem örtlichen Kino. Mein großartiger Chef ließ mich nicht nur kostenlos in aktuelle Vorstellungen, er nahm mich sogar mit auf Branchen-Tradeshows, wo ich erstmals Filme sah, die noch gar nicht im Kino liefen.

© New Line Cinema

Die Kombination aus beiden Faktoren habe ich wohl nie wieder so intensiv erlebt wie im Vorfeld von The Fellowship of the Ring. Auf Stefan Servos’ Seite verfolgte ich jeden Nachrichtenschnipsel zur Verfilmung meines damaligen Lieblingsbuchs. Den ersten Teaser-Trailer habe ich sicherlich 20 Mal gesehen. Und dann konnte ich auf einer Tradeshow ganze drei Monate vor Kinostart die 20-minütige Sizzle Reel sehen, die Peter Jackson für Cannes zusammengestellt hatte. Ich war begeistert. Und noch heute sind die Herr-der-Ringe-Filme die einzigen Filme, die ich in regelmäßigen Abständen immer wieder sehen muss.

In der zwölften Klasse, im Jahr 2000, hatte ich die Gelegenheit, an der Uni Mainz einen ausführlichen Informationstag zum Filmwissenschaftsstudium zu besuchen. Marcus Stiglegger, damals noch mit langen Dreadlocks, setzte sich vor einen Raum voller Schüler und bat jeden, einen Film zu nennen, der ihn in jüngerer Zeit beeindruckt hatte. Er ordnete den Film dann historisch und phänomenologisch ein. Die Gruppe besuchte eine Vorlesung zum deutschen Film und Norbert Grob sagte, es gäbe eigentlich keine großen deutschen Autorenfilmer mehr. Ich dachte: “Und was ist mit Tom Tykwer?”. Jemand meldete sich und fragte: “Und was ist mit Tom Tykwer?” Zähneknirschend gab Grob zu, dass Tykwer sich wohl qualifizierte. Ich wusste, dass ich dieses Fach studieren würde.

Screenshot: Blu-ray "The Apartment"

An The Apartment habe ich im ersten Semester Filmanalyse gelernt. All den Dingen, die ich bisher nur unterbewusst wahrgenommen hatte – Einstellungsgrößen, Kamerawinkel, Schnittfolgen – konnte ich nun plötzlich Namen geben. Billy Wilders bittersüße Komödie, mit ihren klaren Bildern und präzisen Kadrierungen und Charakterzeichnungen, eignete sich perfekt als Anschauungsobjekt. Mein Blick auf Filme änderte sich für immer und ich wusste, dass ich das richtige Fach gewählt hatte. Zuletzt habe ich The Apartment vor zwei Jahren im “Babylon” in Berlin gesehen – ich musste ihn einfach mit der Frau sehen, die ich in zwei Wochen heiraten werde.

Wenn man Filme durch ein Studienfach – und später durch die Wahl des Arbeitsplatzes – zum Beruf macht, bekommen sie einen anderen Platz im Leben. Sie werden manchmal Mittel zum Zweck, manchmal Ware, manchmal Notwendigkeit. Obwohl einen gute Filme noch immer sehr beeindrucken können – das naive Staunen früher, “ungelernter” Filmerfahrungen kehrt leider nicht mehr zurück. Wer weiß, vielleicht ist aber doch noch irgendwann Raum für eine dritte Folge. In diesem Sinne:

Fortsetzung folgt – vielleicht

In semi-eigener Sache: “Close up”

Screenshot: ZDF

Seit nun ziemlich genau einem Jahr bin ich, neben meiner Superhelden-Identität als Blogger, im bürgerlichen Leben Mitglied der Filmredaktion ZDFkultur/3sat. Dort gehöre ich unter anderem auch zu dem Team, dass das monatliche Kinomagazin “Close up” produziert – für das ich nun, da die Sendung ein gutes halbes Jahr existiert, an dieser Stelle einmal Werbung machen möchte.

“Close up” läuft einmal monatlich auf ZDFkultur, samstags (zum Beispiel morgen) um 22:15 Uhr, und mit gleichem Inhalt aber anderem Layout danach dienstags auf 3sat – und steht anschließend zum Abruf in der Mediathek. Die Sendung hat drei Teile – zwei aktuelle Filmkritiken und eine “Gastkritik”, in der deutsche Filmemacher von ihren Lieblingsfilmen erzählen dürfen.

Dass vielleicht der ein oder andere meinen könnte, die Filmkritiken seien eben der Standard, den man aus EPK-Schnipseln und Interviews im Fernsehen ständig zu sehen bekommt; dass vielleicht manche meinen möchten, andere hätten das sogar schon besser/zeitgemäßer gemacht – geschenkt. Wir geben unser Bestes und versuchen uns stetig weiterzuentwickeln!

Das allerbeste an “Close up” aber, sind wahrscheinlich die Gastkritiken. Hier lassen wir Regisseure, Schauspieler und andere Filmschaffende Filme vorstellen, die ihnen persönlich am Herzen liegen. Und das geht, so finde ich zumindest, oft genug ziemlich unter die Haut und ich kann jedem nur empfehlen, sich diese Fünf-Minuten-Segmente einmal genauer anzugucken, denn so viel Raum wird “alten” Filmen im Fernsehen heute nur noch sehr selten gegeben.

Da erzählt zum Beispiel der Schauspieler Lars Eidiniger, wie für ihn Lars von Triers Antichrist mit der Geburt seines Sohnes zusammenhängt. Christian Petzold referiert beeindruckend über die Verfolgungsjagd in French Connection. Der Doku-Kameramann Thomas Plenert schwärmt über die Plansequenzen in den Filmen von Sergej Urussewski. Und Anna Brüggemann gibt zu, wie neidisch sie ist, wenn sie Sandra Hüller in Über uns das All spielen sieht.

Zusätzlich zu den Segmenten in der Sendung gibt es als Bonus online immer noch ein “7 Fragen an …” Video-Interview mit den Filmemachern, das sich immer ebenfalls lohnt. Und wann immer wir können: zusätzlichen Content, wie Interviews, die wir nicht in der Sendung unterbringen konnten oder sogar eine zusätzliche Gastkritik. Ich hoffe, wir werden noch lange die Gelegenheit dazu bekommen, dieses Prinzip immer weiter zu verbessern.

In der August-Sendung sagen wir unsere Meinung zu Magic Mike (mein erster eigener Beitrag, ich hatte mich bisher auf die Online-Aufbereitung konzentriert) und This Ain’t California. Und der Regisseur Matthias Luthardt spricht über Sidney Lumets Dog Day Afternoon. Schaut doch mal rein – und gebt mir ruhig auch Feedback hier im Blog.

Kritiker bei der Arbeit

Ich mag es ja, wenn Filmkritiker zwischendurch in ihren Artikeln mal von ihrer Arbeit berichten, weil es meine beiden Hauptinteressenfelder, Film und Medien, so schön zusammenführt. Ich fand schon Peter Bradshaws Artikel über kreative Zwischenrufe sehr amüsant. Und diese Woche ließ sich “Guardian”-Kritiker Jason Solomons in meinem Pflichthörprogramm Film Weekly ebenfalls zu einem kleinen Exkurs hinreißen. Es ging um die kritische Rezeption von Jacques Audiards Film Un Prophète. Jason erzählt (bei 19:15 im Podcast):

I was sitting in Brothers this week, the press screening of Brothers. Mark Lawson, “Front Row”, was, in fact, behind me in the back row, and Chris Tookey the critic of the “Mail” wandered in and went: “Oh, I see…” And then he said to Henry Fitzherbert of the “Daily Express” and Cosmo Landesman of the “Sunday Times”: “Well, it’s only us three, who don’t like A Prophet, then.” Henry said: “Yes, it’s a bit overrated…” And Chris said: “Yeah, it just doesn’t make any sense.The screenplay makes no sense.” And I just put down my notes and said: “Chris, what are you on about? In what way does the screenplay of this not make any sense?” “Well, you never knew why he was doing, what he was doing…” “It’s perfectly clear. I’ve seen the film three times and I knew from the off that he’s doing it for…” such and such reasons, don’t want to spoil it for the listeners. I nearly stabbed the man with my biro!

Seit ich meinen day job bei epd medien begonnen habe, war ich leider nicht mehr auf vielen Pressevorführungen (und um ehrlich zu sein auch davor nicht so wahnsinnig oft, denn Kritiker bin ich ja eher in zweiter Linie), aber man konnte auch hier schon immer erkennen, dass ein Teil der Anwesenden ein ziemlich eingeschworener Club ist, dessen Mitglieder sich kannten und vermutlich auch teilweise gegenseitig lasen (die Pressereferenten der Verleiher gehörten natürlich auch zu diesem Club).

Nach den Vorstellungen unterhielten sich die Clubmitglieder gerne mal über ihre Eindrücke vom Film, aber jeder war immer vorsichtig, nicht zu viel zu erzählen, um den anderen keine zu guten Ideen zu geben. Ich fand es immer faszinierend, zuzusehen, was für eine inzestuöse Branche die große demokratische Welt der Medien dann im Endeffekt doch ist – das muss wohl doch in allen Branchen so sein, wo man eben gleichzeitig Konkurrent und Kollege sein kann. Und Medienjournalisten sind natürlich noch viel schlimmer. Wer ein Jahr lang den Tagungs-Circuit mitgemacht hat, trifft eigentlich kaum noch neue Gesichter.

Amüsant können solche Geschichten aus dem Hinterzimmer natürlich trotzdem sein, weil sie jene ungekannte, mondäne Seite eines Berufs zeigen, der darin besteht, der Welt eine wohlgeformte Version der eigenen Erfahrungen zu präsentieren