Die Zukunft des Lesens, des Schreibens und des In-die-Sonne-Schauens (Unsortierte Gedanken #4)

Ich war letzte Woche im Literatur-Podcast „Gelesen.“ zu Gast, um mit Lucas Barwenczik über Christoph Engelmanns Buch Die Zukunft des Lesens zu sprechen. Engelmanns These: Die Menschen lesen weniger, vor allem lange Texte, dafür hat sich aber eine „Plattform-Oralität“ entwickelt, in der uns Menschen in Podcasts und Videos erzählen, was sie an unserer Stelle gelesen haben. 

Das war schon das zweite Mal, dass ich in „Gelesen.“ zu Gast war. Im August haben Lucas und ich über LitRPG und Dungeon Crawler Carl gesprochen. 

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Im Podcast probiere ich unter anderem einen Gedanken an Lucas aus, der aber eigentlich nicht so gut zum Thema passt und deswegen dort auch nicht weiter verfängt. 

Vor einigen Wochen wurde in meiner Medienblase das Thema „Google Zero“ heftig diskutiert: Wenn Menschen zunehmend KI-Anwendungen, egal ob Chatbots wie ChatGPT oder Gemini-Zusammenfassungen über den Google-Suchergebnissen, nutzen, geht dem Online-Journalismus eine weitere Traffic- und damit Einnahmen-Quelle verloren. Die User kommen mit null Klicks zum gewünschten Ergebnis ohne jemals auf der Seite des journalistischen Angebots zu landen.

Mein Gedanke dazu: Ein derart parasitäres Modell ist langfristig, in einer Welt, in der Wissen nicht statisch ist, eigentlich nicht nachhaltig. Sicher werden noch eine Menge Journalismus-Angebote (leider) dran glauben müssen, aber es ist auch ein anderer Pfad denkbar, den ich mal als das “Netflix-Modell” bezeichnen will.

Auch Netflix hat damit angefangen, nur Filme und Serien anderer Anbieter “durchzureichen” und sie haben in ähnlicher Art dafür gezahlt wie OpenAI inzwischen für die Nutzung von Axel-Springer-Material zahlt. Um sich aber irgendwann für Nutzer:innen interessant zu halten, fing Netflix 2013 an, eigenen Content zu produzieren. Heute bemisst sich fast jede Streamingplattform an der Qualität der “Originals”, die man dort schauen kann.

Ist es also abwegig, zu glauben, dass in der Zukunft journalistischer, wissenschaftlicher etc. Content direkt für die KI fabriziert wird? Content, den das LLM direkt in seine Trainingsdaten einarbeiten und nach Bedarf ausspucken kann. Zumindest bis die KI in der Lage ist, selbstständig Ereignisse wahrzunehmen, einzuordnen und zu verarbeiten. Welche Form müsste dieser Content haben, damit er möglichst LLM-tauglich ist? Ein Datenaggregat aus Fakten und reproduzierbaren Formulierungen? Welche Journalist:innen bräuchte es, um solchen Content zu fabrizieren?

Ich gebe zu: die dystopische Lesart ist eine Art Moloch-Szenario, in der Menschen nur noch direkt für die Maschine arbeiten, die sie am Ende des Tages durchgewalkt wieder ausspuckt. Auf der anderen Seite hat nichts die Film- und Fernsehbranche in den letzten zwölf Jahren so befeuert wie die Produktionsbudgets der Streamer. Who knows.

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Ich habe den weit und breit gefeierten Film In die Sonne schauen von Mascha Schilinski gesehen und mich danach wie schon lange nicht mehr in der (für mich) unangenehmen Situation befunden, mit meinem Eindruck gegen den kritischen Konsens zu stehen. Ich fand In die Sonne schauen, in dem es um transgenerationale (und auch einfach allgemein verbreitete) Traumata von Frauen auf einem Bauernhof von der Kaiserzeit bis heute geht, eine gute Stunde lang ziemlich gut.

In den restlichen anderthalb Stunden verspielte der Film sein Karma bei mir allerdings Stück für Stück, weil ich immer mehr das Gefühl hatte, dass eine Behauptung von Bedeutsamkeit und künstlerischem Eigensinn an die Stelle der eigentlichen Dinge trat. Im Laufe der Zeit ging mir in dem, was andere Beobachter:innen als geniale Verknüpfung begriffen, zunehmend die Nuance verloren, dazu kamen recht plakative Symbole und Erklärungen, zu viele Enden. Die letzte Handlung, die eine der Hauptfiguren vollzieht, erschloss sich mir gar nicht mehr.

Andere mögen sich mit einer solchen Dissonanz zum Kritik-Mainstream bestätigt fühlen, in mir löst es meist doch Unbehagen aus. Einmal mehr natürlich, weil ich ein Mann bin und es im Film um die Erfahrungen von Frauen und Mädchen geht. Geholfen hat mir wie so oft der Podcast “Fashion the Gaze“. Wenn Vera und Freya berichten, welche Teile des Films in ihnen wiedergeklungen haben, kann ich zumindest nachvollziehen, warum andere Leute den Film mochten. Auch Thomas Grohs Formulierung “Weird hypnagogic ambient cinema” hat mir eröffnet, wie man den Film begreifen kann. Vielleicht passten Sonne und ich einfach nicht zusammen.

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Ich habe im Sommer Jane Austens Emma gelesen und anschließend die Verfilmung mit Gwyneth Paltrow von 1996 und mit Alicia Silverstone von 1995 geschaut. Ich war erstaunt, wie sehr die Lebendigkeit und zeitlose emotionale Resonanz eines Romans verloren gehen kann, wenn man ihn relativ “werktreu” verfilmt, während seine komische und beißende Essenz in einer modernisierten Adaption viel besser erhalten bleibt.

Foto von Birgit Steven-Lahno auf Unsplash

Höreindrücke: Tech Bro Topia, Vier Töne gegen Stalin, Nicht mehr mein Land, Azizam

Tech Bro Topia (DLF)

Es muss nicht immer Storytelling mit Reporter-Protagonist sein. „Tech Bro Topia“ hört sich, als würde man ein Sachbuch lesen, das einen kompakten Überblick über die ideologischen Hintergründe einer ganzen Kaste an Personen gibt. Expert:innen, Fakten, Erklärungen. Hinterlegt allerdings mit bombastischem Sounddesign, das mir anfangs etwas zu grandios war, das ich im Laufe der Folgen aber zu schätzen gelernt habe. Bisher einer meiner Lieblingspodcasts des Jahres.

Vier Töne gegen Stalin – Der Fall Schostakowitsch (SWR)

Dass Musikanalyse im Podcast gut funktioniert, beweist Malte Hemmerich seit Jahren in den von mir sehr geschätzten „Score Snacks“. Hier kombiniert er diese Elemente mit einer historischen Nacherzählung und Reflexionen aus heutiger Sicht, die sich sehr organisch in die Gesamt-Story einfügen. Enttäuschend fand ich, dass der am Anfang von Folge 3 erwähnte Sample aus Peter Fox’ „Alles Neu“ später nicht mehr kontextualisiert wird.

Nicht mehr mein Land (BR)

Was Alexander Gutsfeld auszeichnet, ist, dass er Reportage nicht nur perfomt, um Ton-Elemente für die Verknüpfung seiner Storyblöcke zu haben. Sein Podcast ist gut, weil er sich wirklich anfühlt, als wäre hier jemand rausgegangen und hätte mit Menschen in lebendigen Settings gesprochen. Die persönliche Ebene des Identitäts-Switchens ist ein guter Hook und die herausgearbeiteten Thesen erscheinen relevant. Ich stecke derzeit in Folge 4 und bin gespannt, welche Bilanz am Ende rauskommt.

Azizam – Die Revolution meiner Mutter (ACB Stories/funk)

Aida Amini gelingt es enorm gut, ihre persönliche Geschichte so zielgruppengerecht und ehrlich zu erzählen, dass die größere, gesellschaftliche Geschichte, die sich darin spiegelt, ganz ohne Didaktik mittransportiert wird. Mehr dazu in der nächsten Folge von LÄUFT am 9. September.

Second Screen Murderbot, Panems Historie mit KI, Superhelden im Rückspiegel (Unsortierte Gedanken 3)

Ich habe in der ersten Jahreshälfte die ersten vier Bände von Martha Wells’ Murderbot-Buchreihe gelesen. Angeregt natürlich durch die Serienadaption, die auf Apple TV+ läuft, die ich aber noch nicht gesehen habe. Die Bücher sind so gut wie ihr Ruf, insbesondere das erste, All Systems Red. Murderbot ist eine neue und gut eingefangene Erzählstimme einer introvertierten Mensch-Maschine, die nach Persönlichkeit jenseits von Pinocchio-Klischees sucht, wie im Laufe der Reihe auch immer klarer wird.

Ein in der Kritik eher unterbelichteten Aspekt, den ich faszinierend finde, ist die Art und Weise, wie die Handlung der Murderbot-Bücher eigentlich pausenlos in zwei Sphären stattfindet. Murderbot hat einen Körper, mit dem sich die SecUnit durch die Welt bewegt und der Dinge tut wie kämpfen, gucken oder sprechen. Die meiste Action der komplexen Situationen, in die Murderbot sich immer wieder hineinmanövriert, findet aber virtuell statt. In einem Podcast habe ich gehört, dass Autorin Martha Wells von Ann Leckies Roman Ancillary Justice inspiriert wurde, den ich ebenfalls vor einigen Jahren gelesen habe und dessen Hauptfigur eine virtuelle Intelligenz ist, die anfangs sowohl ein Raumschiff als auch mehrere Bot-Körper besitzt. 

Murderbot hackt sich pausenlos in Sicherheitssysteme und Datenstreams, beobachtet die Welt durch Kameras und Drohnen, kommuniziert per Text und mit Dateien, sowohl mit Menschen als auch mit anderen Maschinen. Er schreibt im Hintergrund Code, den er zu geeigneten Zeiten deployt und bevorzugt in der Regel sogar die virtuelle Interaktion gegenüber dem Meatspace. Die virtuellen Handlungen benötigen allerdings keinerlei räumliche Repräsentationen, wie sie etwa im Cyberpunk üblich sind. Murderbot muss sich nicht „in die Matrix“ begeben und von Knoten zu Knoten reisen, um mit Daten zu interagieren. Die SecUnit macht es einfach, während sie parallel andere Dinge in der physischen Welt tut. Dies entspricht ja längst unserer Realität, wenn wir Textnachrichten schreiben, während wir durch die Stadt laufen, beim Putzen einen Podcast hören, oder die Kollegen in der Zoom-Konferenz anlächeln, während wir parallel eine Slack-Nachricht beantworten.

Zugegeben: In manchen Bänden nimmt die schiere Menge an Datenmanipulation, die den Vorteil hat, das sie nicht plausibel erklärt werden muss (Murderbot „hackt“ einfach drauflos) etwas überhand. Sie erlaubt Murderbot, ständig überall seine Spuren zu verwischen, Systeme nach Belieben zu verwirren und zu deaktivieren und so die Regeln der Welt, in der sich die SecUnit bewegt, so zu verändern, wie es am besten zum Plot passt. Am besten funktioniert die „Second Screen“-Action in relativ isolierten Settings, etwa auf einer verlassenen Raumstation in Band 3.

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Aktuell lese ich Sunrise on the Reaping, den fünften Band und das zweite Prequel der Hunger Games/Tribute von Panem-Reihe von Suzanne Collins. Collins’ Young-Adult-Dystopien waren von Anfang an immer auch große Kommentare auf die Medienwelt, besonders auf Reality TV und Propaganda, und auch wenn Collins darin nie sehr subtil war, fand ich das immer gut.

Sunrise on the Reaping ist 17 Jahre nach dem ursprünglichen Roman The Hunger Games erschienen, spielt aber 24 Jahre vor dessen Zeit. Die gesamte Welt von Panem liegt so weit in der Zukunft, dass diese Verschiebungen kaum einen Unterschied machen sollten. Trotzdem scheint Collins mitten im Buch das Bedürfnis zu haben, die Tatsache anzusprechen, dass die reale technische Entwicklung seit ihrer ersten Buchtrilogie ein paar Sprünge gemacht hat. In einer Szene, in der die Hauptcharaktere kleine Propaganda-Videos drehen, heißt es plötzlich:

He sighs when he [der Kameramann/Regisseur Plutarch Heavensbee] mentions the tools that were abolished and incapacitated in the past, ones deemed fated to destroy humanity because of their ability to replicate any scenario using any person. “And in mere seconds!” He snaps his fingers to emphasize their speed. “I guess it was the right thing to do, given our natures. We almost wiped ourselves out even without them, so you can imagine. But oh, the possibilities!”

Soso. Auch in Panem gab es also irgendwann mal generative KI. Die wurde aber wieder abgeschafft. Weird retcon, but ok.

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Es sind wieder mal Superheldenfilme im Kino, James Gunns Superman und The Fantastic Four: First Steps. Ich habe nicht das geringste bisschen Lust, einen dieser Filme zu sehen, auch nicht den viel diskutierten Superman. Ich bin dieses Genres nach fast 30 Jahren Dauerbombardement etwa genauso müde, wie ich einst von ihm fasziniert war (wie dieses Blog beweist). 

Was ich dabei eigentlich am traurigsten finde: Keiner der Filme, die insbesondere seit dem Start des MCU hoch- und runtergehypt wurden, wird jemals wieder irgendeine Relevanz haben, so wie wir etwa dieses Jahr 50 Jahre Jaws feiern. Die ganze Franchise-Brühe, die ja durchaus eine erzählerische Innovation ins Kino gebracht hat, ist jetzt schon und wird in Zukunft noch viel mehr höchstens noch generische Zeitgeisttapete sein – genau wie es die Mainstream-Erfolge rund um Jaws aus den 1970ern (etwa The Towering Inferno) heute sind. 

Oder gibt es irgendeinen Superhelden-Film, der wirklich noch in zwanzig bis dreißig Jahren als herausragender Film gelten könnte? The Dark Knight natürlich. Spider-Man 2 vielleicht. Aber ich würde mein Geld weder auf The Avengers noch auf Guardians of the Galaxy setzen, obwohl das vielleicht die besten MCU-Filme sind. Schade eigentlich.

Sollte ich diese Einträge zu mehreren Themen lieber in einzelne Blogposts gießen?

Foto von Olivier Miche auf Unsplash

Unsortierte Gedanken – Juni 2025 (2)

Blog as if no one is watching

In Arbeitskontexten wird viel Material produziert. Als jemand, der viel im öffentlichen Sektor gearbeitet hat, kenne ich vor allem die Textschlachten von Anträgen und Projektberichten. Vor kurzem habe ich aus dem Beratungsbereich den gräßlichen Ausdruck “Slides schrubben” gelernt, also das Produzieren von vielen Folien für Powerpoint-Decks.

Dahinter steckt leider ganz oft die Simulation von Produktivität, um Rechenschaft abzulegen. Es wird viel Zeit und werden viele Phrasen darin versenkt, dem Geschäftspartner zu beweisen, dass sein Geld sinnvoll angelegt ist, weil ja viel produziert wurde, und seien es nur Worte.

LLMS erleichtern genau diese eigentlich leere Arbeit. Sie können aus Stichpunkten und anderem Rohmaterial viel schneller Texte in der verlangen Form produzieren als ein Mensch das könnte. Meine These ist aber: Die genannten Texte und Präsentationen werden genauso ungerne gelesen wie sie geschrieben werden. Es ist also davon auszugehen, dass die Empfänger die erhaltenen Dokumente ihrerseits wieder in ein LLM werfen und sie sich von diesem zusammenfassen lassen.

Die eine Seite lässt schreiben, die andere lässt lesen. Ist das die Zukunft des Berichtswesens? Oder war das im Grunde schon immer so, es wird nur jetzt erst sichtbar. Ich frage mich vor allem: Was sagt es über die “wahre” und “notwendige” Form von Informationen aus? Wann werden wir aufhören, Informationsgehalt durch Masse zu ersetzen?

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Ich habe festgestellt, dass ich eine merkwürdige Liebe für Songs habe, die sich selbst beschreiben. Meine früheste Erinnerung ist “Memphis Soul Stew” von King Curtis (wenn auch in der Version “Springfield Soul Stew” vom kuriosen Musikalbum der Simpsons), das seine Instrumentalparts wie Zutaten in einem Kochrezept beschreibt (“give me about half a teacup of bass”). Ich höre auch immer wieder gerne Music Instructor’s Cover von Ultravox’ “Hymn”, das genau beschreibt, wie es gemacht ist (“Let’s see how it sounds when we pitch it five notes up”).

Ein weiteres Beispiel: der Song “Poppa’s Blues” aus Andrew Lloyd Webbers Starlight Express, dessen erste zwei Zeilen “The first line of the blues is always sung a second time” lauten. Oder auch den großartigen “Fountains of Wayne Hotline” von Robbie Fulks, in dem der Erzähler die titelgebende Nummer anruft, um sich bei der Komposition helfen zu lassen (“Get a split bar of 4 in there, and push the one. and then we’ll slather the holy hell out of the thing with a semi-ironic Beach Boys vocal pad”). Die Ärzte spielen mit diesem Werkzeug auch immer mal wieder, zum Beispiel im Song “Richtig schön evil” (“Lass dich nicht so häng’ / dies ist der Refrain / richtig schön evil, abartig und pervers / wird’s erst wieder im Vers”).

Kennt ihr noch mehr solche Songs? Es gibt sicher dutzende.

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Ich habe Alanis Morissette live gesehen, Open Air in der Zitadelle in Berlin Spandau. Das Konzert war sehr schön, denn Alanis Morissettes Musik bedeutet mir viel, aber ich habe auch wieder mal gemerkt, dass ich Konzerte dieser Größe nicht leiden kann, insbesondere Open Air. In der Rückschau (Queen bei Live Aid, Robbie Williams in Knebworth) wirken sie immer beeindruckend, aber vor Ort bekommt man, wenn man nicht ewig vor Beginn da ist, einfach nur matschigen Sound mit wummernden Bässen und fehlenden Mitten und keinerlei echte Verbindung zwischen Künstler:in und Publikum, was nach meinem Dafürhalten immer noch der Zweck von Konzerten sein sollte.

Das liegt nicht nur an den Künstler:innen, die mit Kameras statt mit Menschen interagieren und auf ihren riesigen Bühnen so verloren wirken, dass jede Menge Visuals im Hintergrund aufgefahren werden müssen, um von dieser Tatsache abzulenken. Auch Teile des Publikums sind (vor allem bei Mainstream-Künstlern, wenn sie nicht gerade ihre drei größten Hits spielen) zwischendurch über lange Strecken mit anderen Dingen beschäftigt. Irgendwie schade.

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Ich habe Aiki Miras (gerade noch) neuesten Roman Proxi gelesen, eine “Endzeit-Utopie”, jüngst ausgezeichnet mit dem Kurd-Laßwitz-Preis, die mir wie schon zuvor bei Neongrau auf der Ideen-Ebene sehr gut gefallen hat, aber mit deren Sprache ich gekämpft habe.

Unsortierte Gedanken – Juni 2025 – LitRPG, Kinder des Rock‘n‘Roll, Sams-Franchise

Seit ich entschieden habe, im September nach mehreren Jahren mal wieder auf ein LARP zu fahren, habe ich mich wieder mehr mit Rollenspielen beschäftigt und bin dabei auf ein interessantes Rabbithole gestoßen: das Literaturgenre „LitRPG/Progression Fantasy“. Es ist noch relativ jung (10-15 Jahre), lebt besonders auf Self-Publishing-Seiten wie Royal Road und scheint mir eine logische Fortsetzung von ergodischer Literatur wie den Choose-your-own-adventure und Fighting-Fantasy-Büchern zu sein, in die ich vor ein paar Jahren wieder eingetaucht war. 

LitRPG (Literary Role Playing Games) oder Progression Fantasy zu lesen, fühlt sich an, als würde man einer anderen Person beim Videospielen zusehen. Die Bücher speisen sich aus Videospiel-Logiken und haben Protagonisten, die gewollt oder ungewollt in diesen Logiken gefangen sind – also im Spiel vorankommen müssen (daher: Progression), damit es weitergeht (einer der Vorläufer-Texte ist natürlich Ready Player One). Manche Handlungen haben sogar knallhart Videospiel Stats und Skill Trees, die sich im Laufe der Handlung weiterentwickeln. Die Bücher sind in der Regel stark auf Serialität angelegt. 

Die Fanszene rund um LitRPGs ist alles andere als klein, die populäre Buchreihe Dungeon Crawler Carl wird demnächst als Fernsehserie adaptiert. Trotzdem ist das Genre noch eine ziemliche Nische. Ich habe ein paar populäre Titel angelesen und war so fasziniert wie irritiert. Die Spiele-Logik entfaltet sofort einen Sog, weil man wissen will, wie es weitergeht. Gleichzeitig empfinde ich es als enorm frustrierend Protagonisten dabei „zuzusehen“, wie sie ständig Rätsel lösen müssen, aber nicht selbst eingreifen zu können wie bei den oben erwähnten „Du bist selbst der Held“-Büchern. (Ich gebe an dieser Stelle gerne zu, dass ich auch „Actual Play“ Rollenspiel-Videos ziemlich langweilig finde.)

Nichtsdestotrotz: Es ist spannend zu sehen, wie hier auf ganz andere Art als zuvor Spiel und Literstur aufeinandertreffen, und ich glaube, dass diese Art von gamifizierten Geschichten noch viel kommerzielles Potenzial haben. Könnte eigentlich auch ganz gut als Podcast funktionieren. 

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Magda Birkmann hat vor kurzem auf BlueSky angemerkt, dass sie alt genug ist, um die Originaltitelmusik der Serie Die Kinder vom Süderhof zu kennen, die früher im Tigerentenclub lief. Was mich dazu bewegte anzumerken, dass ich sogar noch das Originallied kenne, von dem der Süderhof-Song adaptiert wurde. Es heißt „Die Kinder des Rock‘n‘Roll“ und war auf dem Album Starke Kinder von Rolf und seinen Freunden, das ich als Kind als MC besaß. 

Im Lied geht es darum, dass die Eltern der besungenen Kinder mit dem Rock‘n‘Roll der 50er und 60er aufgewachsen sind („Die Rolling Stones war‘n für die heißen langen Nächte gut“) und sie deswegen sein Vermächtnis weitertragen werden („Der Rock‘n‘Roll lebt weiter, denn wir haben ihn im Blut“). Starke Kinder erschien 1989 – die Zeit, die mir damals schon ewig weit weg vorkam, war also bei Veröffentlichung des Songs weniger weit weg, als der Song von heute aus gesehen zurückliegt. 

Ich weiß, dass „Die Millennials werden alt“ inzwischen längst ein Meme ist, aber es ist schon immer wieder schräg, dass man tatsächlich erst selbst älter werden muss, um überhaupt ein Gefühl für solche Zeiträume zu bekommen. Wenn ich meinem Kind heute also Songs aus den 90ern vorspiele und es zu „Coco Jamboo“ und „Wannabe“ durchs Wohnzimmer tanzt, ist das wirklich das gleiche, wie damals, als mein Vater mir Beatles-Platten ans Herz legte. Obwohl es sich ganz anders anfühlt. (Eventuell auch, weil ich ein deutlich größerer Musiknerd bin als mein Vater, der zur Musik seiner Eltern, soweit ich weiß, keine große Beziehung hatte.)

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Im immer noch relativ neuen Literaturpodcast „Gelesen.“ von meinem Freund und alten „Kulturindustrie“-Kollegen Lucas Barwenczik, ging es vor kurzem mit Co-Host Fynn Benkert über die eigene Lesesozialisation. Lucas erwähnt dort, dass er etwas schockiert war, als Paul Maar im vierten „Sams“-Band „Ein Sams für Martin Taschenbier“ von 1996 plötzlich die bis dahin relativ lineare zeitliche Abfolge der Bücher verlässt und etwa 10 Jahre in die Zukunft springt, zum Sohn des ursprünglichen Protagonisten, der dann ebenfalls Besuch vom Sams bekommt. 

Ich erinnere mich, dass es mir damals ähnlich ging, aber aus heutiger Sicht finde ich den Schritt nachvollziehbar. Das erste Sams-Buch erschien 1979. Die Geschichte seiner Hauptfigur, des schüchternen Buchhalters Bruno Taschenbier, war zum Ende des dritten Bandes endgültig auserzählt – er hatte sein Gleichgewicht (natürlich in einer heterosexuellen Beziehung) gefunden und das Sams hatte sich deswegen verabschiedet. Somit erreichten die Sams-Romane den Punkt jedes erfolgreichen, langlebigen Franchises, dass der Geschichte in ihrer Fortsetzung irgendwie ein neuer Drall gegeben werden musste (ganz abgesehen davon, dass das Setting an die fortgeschrittene Zeit angepasst werden musste.)

„Ein Sams für Martin Taschenbier“ war der letzte Sams-Band, den ich gelesen habe, aber mein Kind entdeckt die Sams-Geschichten gerade und ich musste mit Erstaunen feststellen, dass die Marvel-Universifizierung der Sams-Bücher in der Zwischenzeit nur noch weiter vorangeschritten ist. Seit 1996 erschienene Sams-Bände spielen unter anderem in alternativen Timelines und zuvor nicht ausgefüllten Lücken der Ursprungs-Story, genau wie wir es aus Comics und mittlerweile auch Film-Franchises inzwischen reihenweise kennen. 

Wenn fiktionale Universen über Jahrzehnte fortbestehen, ist es doch kurios, dass viele von ihnen irgendwann an diesem Punkt landen. Die einzige Alternative scheint zu sein, eine „Illusion of Change“ zu erhalten, in der die Charaktere einfach dauerhaft in der gleichen Lebenssituation gefangen sind – wie etwa bei den „Simpsons“ oder „Bibi und Tina“. 

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Ich hoffe, in Zukunft öfter solche kleineren Gedanken und Beobachtungen hier im Blog festzuhalten.

New Work, Powered by the Apocalypse

Ich spiele Rollenspiele (TTRPGs) seit ich Kind bin. Seit einigen Jahren tue ich das nicht mehr regelmäßig, aber ich versuche, mich auf dem Laufenden zu halten und neue Entwicklungen zu verfolgen. Ich finde es interessant, wie sich diese Form des gamifizierten gemeinsamen Geschichtenerzählens seit ihren Ursprüngen in den 1970er Jahren stetig weiterentwickelt.

Dabei sehe ich auch Parallelen zur Arbeitswelt. In den 90ern, als ich angefangen habe, hieß die Spielleitung noch “Game Master” oder “Meister”. Die Spieler:innen waren ihrem Spielstil und ihren Launen für die Gestaltung des Spiels ausgeliefert. Im schlimmsten Fall zogen sie in unterschiedliche Richtungen und spielten teilweise sogar gegeneinander – was im Rollenspiel eigentlich nie das Ziel sein sollte.

Ein neueres System aus den 2010er Jahren, mit dem ich mich gerade beschäftige, klingt da ganz anders. Die Spielleitung heißt jetzt “Master of Ceremonies” (MC), im Regelwerk ist immer wieder von den unterschiedlichen Verantwortungen von MC und Spieler:innen die Rede. “Be a fan of your players” steht da. Umgekehrt haben die Spieler:innen die Aufgabe, dem MC anzuzeigen, welche Dinge ihnen wichtig sind (“Flags”). Ein zentrales Spielelement sind “Directives”, die Ausgestaltungsmöglichkeiten der Story vorgeben. Erfahrungspunkte sammelt man auch dann, wenn die Mission fehlschlägt.

Das erinnert mich doch alles sehr an diverse New-Work-Ideen. Verantwortungs- und visionsgetrieben gemeinsam an einer größeren Geschichte arbeiten. Bedenklich finde ich nur, wie das System heißt, das 2010 für das Spiel “Apocalypse World” entwickelt wurde: “Powered by the Apocalypse“. Andererseits, im Spätkapitalismus vielleicht auch passend?

(zuerst auf LinkedIn veröffentlicht)

Höreindrücke: War da was?, The German Wiedergutmachung, OZ, Der Sophie Passmann Podcast

In den letzten Wochen haben sich bei mir mal wieder einige Höreindrücke angesammelt, es wird also Zeit für einen neuen Post.

War da was? (Zeit Online)

Diesen Podcast habe ich für LÄUFT besprochen, als er noch recht frisch war. Inzwischen habe ich fast alle Folgen gehört. Ich applaudiere der Innovation, zwei sehr unterschiedliche Formate, die sich ergänzen (lange Interviews und kurze Chroniken), in den gleichen Feed zu packen. Ich fand die Fach-Interviews und die thematisch ausgerichteten Chronikfolgen am besten, die “menschlichen” Interviews hatten mir manchmal zu viel Nähe und taugten oft auch nur bedingt als Fallstudien. Die Sound- und Schnittqualität war zudem insgesamt sehr durchwachsen – und den flapsigen Titel finde ich nach wie vor nicht gut.

The German Wiedergutmachung (Bundesarchiv)

Hier bleibe ich bei meinem Urteil aus LÄUFT Folge 59. Ein lohnenswertes und informatives Projekt, gut umgesetzt, das ein klein bisschen weniger Abstraktion vertragen hätte. Als jemand, der selbst oft in staatlich finanzierten Kontexten arbeitet, meine ich, das Knarzen der Vorgaben und Abnahmeschleifen öfter gehört zu haben, vor allem in der Sprache. Selbst bei einem guten Podcast wie diesem zeigt sich also: Es ist immer ein Unterschied, ob man einem journalistischen Impetus folgt, oder für die eigene Arbeit werben will.

OZ. Graffiti-Künstler. Schmierfink. Rebell. (ARD Kultur u.a.)

Ich plädiere bei jeder Gelegenheit für weniger Formatierung und mehr Autor:innen-Stil auch in Storytelling-Formaten, und das war hier definitiv spürbar, in Ansprache und Aufbau genau wie in Sound-Design und Musik. Mir persönlich war das Erzähltempo zu langsam und das Sujet, die Hintergrundgeschichte des Hamburger Graffiti-Künstlers OZ, nicht spannend genug, um mich länger zu fesseln. Die Inhalte hätte ich lieber in einem kompakteren Radiofeature vermittelt bekommen (das es auch gab, aber das ich nicht gehört habe).

Der Sophie Passmann Podcast (Studio Bummens)

Auf die Gefahr hin, wie ein Papagei zu klingen, feiere ich auch hier den Mut zum (nicht neuen aber noch immer seltenen) Format. 50 Minuten in Sophie Passmanns Stream of Consciousness zu verbringen, sogar ohne Intromusik, finde ich gut – es ist quasi die reinste Form des Podcastens. Ob man das, was Sophie Passmann sagt, besonders interessant findet, hängt dann aber logischerweise auch stark davon ab, wie interessant man Sophie Passmann findet. Und hier habe ich festgestellt, dass ich nicht zur Kernzielgruppe gehöre.

Die “Höreindrücke” sind eine unregelmäßig erscheinende Kolumne über neue Podcasts, von denen ich in der Regel zwei bis drei Folgen gehört habe.

Der Denkfehler, den wir bei Sternewertungen machen

Zum Anfang: zwei Anekdoten.

Erste Anekdote: Vor langer. langer Zeit, in den Anfangstagen von eBay, nutzte ich die Plattform ab und zu, um mir gebrauchte CDs zu kaufen. Die ersten paar CDs, die ich dort schoss, wurden alle von Privatpersonen angeboten, und ich, der ich gerade auch angefangen hatte, in Mailinglisten und Foren aktiv zu werden, liebte den Gedanken, wildfremden Menschen anderswo in der Republik die Dinge abzukaufen, die sie nicht mehr brauchten, und dadurch kurz eine Verbindung mit ihnen einzugehen. Ich fand diese Möglichkeit einfach großartig.

Meine dritte oder vierte CD kaufte ich dann von einem Anbieter, der eBay bereits als kommerzielle Plattform nutzte. Die CD war voll okay, aber die Magie war verschwunden. Deswegen gab ich in der Sternewertung nach Ende der Transaktion am Ende einen Stern weniger und kommentierte “unpersönliches Massengeschäft”. “Was für ein Spinner”, kommentierte die Gegenseite zurück, “Internet ist nunmal unpersönlich.”

Ein Missverständnis auf vielen Ebenen. Zum Beispiel zur Vision des Internets. Aber vor allem: Ein Missverständnis über den Zweck von Sternewertungen.

Wie lauwarm darf es sein?

Zweite Anekdote: Der Drehbuch- und Kinderbuchautor John August, im Internet vor allem bekannt als einer der zwei Hosts des Podcasts “Scriptnotes”, twitterte vor einigen Jahren, nachdem sein erstes Buch erschienen war, dass er nicht kapiere, warum Leute Büchern auf Bewertungsplattformen wie Amazon oder Goodreads (also auch Amazon) zwei Sterne geben würden. Für ihn als Autoren würde sich das wie Hohn anfühlen. Es wäre ja okay, wenn man ein Buch nicht möge, aber dann könnte man ja entweder einen Stern geben oder, noch besser, das Buch einfach nicht bewerten. Aber zwei Sterne wären so lauwarm, dass doch niemand sonst etwas damit anfangen könne.

Und erneut würde ich sagen: August sitzt einem fundamentalen Missverständnis darüber auf, was der Zweck von Sternewertungen ist. Für die, die sie verteilen, und für die, die sie empfangen.

Sternewertungen, also: das Bewerten eines Produkts oder einer Dienstleistung auf einer Skala von (meistens fünf, oft zehn (vor allem, wenn es auch halbe gibt)) Sternen, gehören inzwischen fest zum Repertoire der User Experiences im Internet. Von Podcast-Hosts bis Rideshare-Fahrern bitten alle darum, dass man ihnen fünf Sterne dalässt, und für jedes Stück Kultur, was man konsumiert, kann man anschließend eine Bewertung auf einer Plattform seiner Wahl loggen. 

★★★★★ Meisterwerk

Gerade letzteres ist nicht bei allen Menschen gleich beliebt. Ich kenne zum Beispiel mehrere Filmliebhaber, die sich weigern, auf dem Film-Netzwerk Letterboxd Sterne zu hinterlassen, weil sie ihren Kulturgenuss nicht auf diese Art einer kapitalistischen Wettkampf-Logik unterwerfen wollen. Film X hat mehr Sterne als Film Y, deswegen ist Film X besser? Das wäre ja Quatsch, denn Qualität ist viel komplexer und lässt sich nicht auf einer Punkteskala messen. Andere Nutzer:innen erklären ihre Sternewertungen gerne in ihrem Profil, weil sie doch ein sehr starkes Bedürfnis zu haben scheinen, ihre Bewertungen so präzise zu systematisieren wie möglich. Die maximale Sternezahl ist hier oft gleichbedeutend mit einem Etikett wie “Meisterwerk”. 

Was das Bewerten von Qualität angeht, neige ich der ersten Gruppe zu. Und trotzdem verteile ich gerne Sterne. Denn was ich bewerte, ist nie das Buch oder der Film selbst, sondern seine Wirkung auf mich. Ich bewerte meine persönliche Erfahrung beim Lesen oder Schauen. Hat der Film für mich funktioniert? Hat das Buch mich bewegt? Fand ich es spannend, lustig oder anders emotional berührend? Ich habe vor über 20 Jahren ebenfalls mal Labels an meine Punkteskala geschrieben, und bei mir war die maximale Punktzahl gleichbedeutend mit dem Satz “Haut mich total aus den Socken”.

Diese Bewertung ist wichtig für mich, vor allem, wenn ich mich später erinnern will, wie meine Seh- oder Leseerfahrung war. Vor allem bei Filmen ist es interessant zu sehen, ob sich meine Wahrnehmung ändert, wenn ich einen Film erneut sehe. (Oft ist sie auch über Jahre erstaunlich konstant.) Wichtig ist aber: Die Wertung gebe ich für mich selbst ab. Sie ist wie Tagebuch schreiben. Vielleicht ist sie noch relevant für andere Menschen, mit denen ich verbunden bin, die mich und meinen Geschmack kennen, und die es deswegen interessiert, wie ich etwas fand. Aber eins sind meine Sterne ganz sicher nicht: Eine Feedback-Transaktion gegenüber den Personen, die das Stück Kultur, das ich bewertet habe, verantwortet haben.

I really liked it

Goodreads hat bei seinen Sternewertungen kleine Textlabels beigefügt, die diese Lesart eigentlich unterstützen. Sie reichen von “did not like it” (ein Stern) über “it was okay” (zwei Sterne) und “liked it” (drei Sterne) bis zu “really liked it” (vier Sterne) und “it was amazing” (fünf Sterne). Im Zentrum steht also die Erfahrung der Leserin, nicht eine wie auch immer geartete objektive Qualität des Buchs. Wenn ich also einem Buch zwei Sterne gebe, sage ich damit: Ich fand es in Ordnung. Es hat mir nicht aktiv Unbehagen bereitet, aber ich würde auch nicht so weit gehen, zu sagen, dass ich es mochte. Das bedeutet auch: Wenn ich viele Bücher lese, sind die meisten vermutlich Kandidaten für drei Sterne. Man kann ja nicht alles super finden.

Komplett anders ist es bei Sternewertungen für Dienstleistungen, von Taxifahrten bis zu Käufen im Internet. Die Skala sieht identisch aus und sie bewertet sogar genauso die Erfahrung, aber sie ist komplett anders geeicht. Hier sind nicht drei Sterne der Standard, aus dem es auszubrechen gilt, sondern fünf. Fünf Sterne bedeutet: Alles war gut, es lief wie geplant, keine Beanstandungen. Man gibt also standardmäßig fünf Sterne und zieht nur etwas ab, wenn man unangenehme Erfahrungen macht. Ein direktes Feedback an die Dienstleistungserbringerin, die dieses Feedback wiederum als Währung benutzt, um bei anderen Kunden um Vertrauen zu werben: Hier werdet ihr nicht betrogen.

Der Autor Django Wexler hat mich in einem Twitter-Thread erstmals auf die unterschiedliche Eichung dieser gleich aussehenden Sterneskalen aufmerksam gemacht, und ich finde, sie ist der Schlüssel zu vielen Konflikten. Die nämlich entstehen, wenn die beiden Eichungen durcheinandergeraten.

Kunst ist keine Taxifahrt

Wenn ich zum Beispiel, wie in meinem eBay-Beispiel, der Meinung bin, dass es fünf Sterne nur für Transaktionen geben sollte, die für mich über einen erfolgreichen, reibungslosen Kauf hinausgehen, und mir auch noch einen flüchtigen, persönlichen Kontakt mit einem Fremden ermöglichen, dann lege ich an einen eBay-Kauf die gleichen Maßstäbe an, wie an eine kulturelle Erfahrung. Dort würde ich fünf Sterne eben nur an ein Werk vergeben, das mich wirklich nachhaltig beeindruckt hat. Ähnlich wie bei Trinkgeld oder anderen Service-Transaktionen gibt es sicher Menschen, deren Motto ist: Bei mir bekommt man standardmäßig vier Sterne, fünf gibt es nur für Erfahrungen, die über das gewohnte Maß hinausgehen. (Siehe auch: Lehrer:innen, die keine Einser vergeben.)

Der umgekehrte Fall birgt aber ebenfalls einen Konflikt. Denn ich habe einen Aspekt bisher ausgelassen: Es mag zwar für mich so sein, dass ich meine Sternebewertungen bei Büchern oder Filmen als nicht-transaktionell und rein tagebuchmäßig, eventuell noch als Diskussionsansatz für Peers betrachte. Für viele Kunstschaffende ist das aber nicht der Fall. Gerade bei Goodreads, wo auch viele Autor:innen selbst vertreten sind, sind positive Sternewertungen durchaus eine Währung, auf die sie verweisen können. Wenn ihr jüngstes Buch also im Durchschnitt drei Sterne bekommen hat (das heißt: viele Leute sagten “Ich mochte es”), ist das für sie eventuell nicht ausreichend, um als Pfund bei den Verhandlungen um den nächsten Vertrag zu gelten. Sie wünschen sich, ähnlich wie ein eBay-Händler, fünf Sterne als Ausdruck von: Alles perfekt, nichts ändern. Lauwarme Durchschnittsbewertungen bringen ihnen nichts, ähnlich wie John August es in meinem Beispiel oben formuliert hat.

Ich bin trotzdem nicht der Meinung, dass ich als Sterne vergebender Kritiker, egal ob professionell oder laienhaft, mich diesem transaktionellen Modell nicht beugen sollte. Der Kapitalismus und seine kompetitive Struktur sind Teil des Kulturbetriebs. Das wird sich auch nicht ändern. Aber Kunst ist keine Taxifahrt. Kultur Erfahrende sollten für ihre Bewertung dieser Erfahrung weiterhin eine Eichung anlegen, die sich auf ihr persönliches Empfinden bezieht. Nicht auf eine Abweichung von einem zufriedenstellenden Fünf-Sterne-Standard. Nicht im Hinblick auf einen aggregierten “Score”.  Diesem Denkfehler sollten wir nicht erliegen. Sonst haben wir uns tatsächlich der kapitalistischen Logik unterworfen, die viele bereits im Akt der Sternevergabe erkennen.

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Raum und Flow

Vor rund zehn Jahren, als das Second Coming von 3-D im Kino gerade abflaute und das Second Coming von VR durch Facebooks Kauf von Oculus gerade in vollem Lauf war, war ich für eine kurze Zeit neu begeistert vom Konzept des endlosen filmischen Tiefenraums. Ich hatte mich lange schon gefragt, warum so wenige Filme im digitalen Zeitalter die Möglichkeit nutzten, die Zuschauenden mit auf eine Reise in ihren Raum zu nehmen.

Immer wieder sah ich Versuche, mit dem Gedanken eines dreidimensionalen Raums und einer wahrhaft entfesselten Kamera im Kino zu arbeiten, die ich jedes Mal faszinierend fand, egal ob in Gravity (2013) oder in der Eröffnungssequenz von The Revenant (2015). Selbst in den wenigen VR-Experiences, die ich erlebt hatte, war das Gefühl, tatsächlich einen Raum zu erleben, in dem Ereignisse stattfanden, um die man herumfließen konnte, wie in einem Open World Videospiel oder einem immersiven Theaterstück, extrem selten. Stattdessen regierte durch die Bank extrem konventionelle filmische Raumauflösung durch Montage und “digitaler Realismus“, selbst in vollständig im Computer entstandenen Filmen, was ich immer extrem schade fand.

Zu meiner großen und unerwarteten Begeisterung habe ich am Wochenende im Kino die beste Umsetzung meines Wunsches seit vielen Jahren erlebt, im lettischen Oscar-Gewinner Flow, einem mit der Open-Source-Software Blender gestalteten, dialoglosen Animationsfilm über eine Katze in einer südostasiatischen Landschaft, die langsam überflutet wird. “Flow”, das scheint sich natürlich auf den Fluss des Wassers und des Lebens zu beziehen, aber es könnte auch genauso die Kamera- und Raumarbeit des Films bezeichnen, die von einer erdrückenden Schönheit und Stringenz ist. Gints Zilbalodis’ Kamera schwebt leicht schaukelnd in langen Sequenzen neben seinen tierischen Protagonisten her, mal schneller, mal langsamer, stößt unter Wasser, nur um kurz darauf wieder in Vogelflug-Höhen aufzusteigen. Und warum? Weil sie es kann! Diese Art der Bildgestaltung gibt dem Film einen magischen Rhythmus, der den sense of wonder, der Flow als Leitmotiv ebenfalls durchströmt, noch verstärkt. Danke, Gints Zilbalodis! Der Rest darf sich gerne ein Beispiel daran nehmen.

Höreindrücke: Berlin Code, Our Ancestors Were Messy, Durchgefallen, SWF3 – Das Phänomen

Berlin Code (ARD)

Wie in Folge 54 von LÄUFT besprochen, klang “Berlin Code” für mich nach den ersten Folgen ein bisschen zu sehr wie “Hauptstadtjournalismus: Der Podcast”, mit allem, was das so mit sich bringt. Mein Eindruck: Er konnte sich nicht entscheiden, wo er den Schwerpunkt setzen will (Meinung, Information, Gossip, Analyse), aber das halte ich für ein typisches Findungsproblem neuer Gesprächspodcasts – der “Über Podcast” kam vor zwei Wochen zu einem ähnlichen Ergebnis. Ich schließe nicht aus, dass das schon jetzt besser geworden ist.

Our Ancestors Were Messy (Indie)

So viele gute Ideen in einem Projekt. Black History, vermittelt durch die Klatschkolumnen der Zeit nach dem Bürgerkrieg, in einem Dialog zwischen perfekt vorbereiteter Host und schlagfertiger Gästin. So viele verschiedene Reflexionsebenen, historisch wie aktuell, die auf wirklich tolle Art aufeinandertreffen. Und das ganze völlig unabhängig gestemmt. Respekt!

Durchgefallen (SWR)

In diesem Podcast fallen meine zwei beruflichen Welten zusammen, weswegen ich in seiner Bewertung ganz sicher nicht unabhängig bin. Aber ich finde, Lisa Graf hat die aktuelle Situation im Schulsystem in fünf Folgen sehr gut und kompakt zusammengefasst, und ich würde diesen Podcast allen Eltern von Schulkindern sehr ans Herz legen. Was mir aufgrund meines Backgrounds am Ende fehlte, war ein Ausblick auf mögliche Lösungen für die systemischen Probleme jenseits des Startchancen-Programms. Vielleicht etwas für die Fortsetzung?

SWF3 – Das Phänomen (Indie)

Eins meiner Seifenkisten-Themen ist ja die Nützlichkeit von Podcasts als mündliches Archiv, und ich finde es super, dass Gregor Glöckner sich dieser Aufgabe für den Radiosender SWF3 (für dessen heiße Phase ich etwas zu jung bin) angenommen hat. Ohne viel redaktionellen Schnickschnack drumherum, einfach in einer ausführlichen Sammlung von Interviews mit den damals Beteiligten konserviert er so die Erinnerungen an eine mediale Entwicklung. Das ist natürlich schrecklich nischig, aber es zeigt, was Podcasts alles leisten können.

Die “Höreindrücke” sind eine unregelmäßig erscheinende Kolumne über neue Podcasts, von denen ich in der Regel zwei bis drei Folgen gehört habe.