Höreindrücke: Nein to Five, Lösch alles, Bro!, German Dreams, Becoming The Beatles

Willkommen zu den vermutlich letzten Höreindrücken für dieses Jahr! Es geht um New Work, Deutschland und die Beatles. Und wer mir übrigens schon immer mal ins Gesicht sagen wollte, was von meinen Kurzkritiken zu halten ist: ich bin am 22. und 23.11. auf dem “So Many Voices” Podcastfestival in München. Sehen wir uns?

Nein to Five (Fora/brandeins)

Wer sich Plakatwerbung für seinen Podcast an jeder Litfaßsäule in Berlin leistet, dachte ich mir, muss schon sehr davon überzeugt sein, dass er gut ist. Ich fand aber eher, dass es sich um ein mittelmäßiges Interviewformat mit mittelmäßigem Sound handelt, in dem man nie den Namen des Hosts erfährt, auch wenn die Themen gar nicht so uninteressant sind. Mich würde wirklich interessieren, wie der ROI für die Plakatkampagne war.

Lösch alles, Bro! (ZDF Frontal/hauseins)

Hier haben mir viele Einzelteile gefallen: Musik und Sound Design (bin aber gegenüber Joscha Grunewald auch immer biased), die ganze Idee, Textnachrichten dramatisch von guten Schauspielern einsprechen zu lassen und auch die Inszenierung als ein bisschen cooles Gangsterdrama (statt als Investigativ-Pose) mochte ich eigentlich. Nur dramaturgisch fiel alles für mich ein bisschen auseinander. Ich musste mich hart motivieren, Folge 2 überhaupt zu hören, in der es dann aber plötzlich viel interessanter wurde, und der wahre Kern der Story rund um Crypto-Messenger, Datenschutz und europäische Polizeiarbeit zum Vorschein kam, in dem die Bros eigentlich nur Nebencharaktere sind.

German Dreams (DLF)

Migrantische Erfahrung in Deutschland erzählt anhand von einzelnen Geschichten, dramaturgisch durchdacht, sympathisch und nahbar, mit Hosts, die angenehm persönlich sprechen. Manchmal ein bisschen viel Händchenhalten durch Fakten-Wiederholung und am Ende oft ein merkwürdiger Werbeblock für’s deutsche Sozialsystem, aber insgesamt ein schönes Projekt, dem ich viele Hörende wünsche.

Becoming the Beatles – Die Hamburger Jahre (NDR Kultur)

Ich hatte keine hohen Erwartungen für etwas, das so aussieht, als wollte noch mal jemand zwanghaft den “regionalen Dreh” für eine tausendfach erzählte Geschichte ansetzen. Aber heidewitzka! hat mich Ocke Bandixen überzeugt. Aus seiner Narration spricht so viel persönliche Leidenschaft, dass ich nach wenigen Minuten hooked war. Es ist so angenehm, wie transparent er seine Motivation, seine Materiallage, seine Arbeit macht, während er das Hamburg von 1960 lebendig werden lässt. Belohnt wird er dann auch gleich in Folge 1 mit einer Knaller-Zufallsszene. Große Empfehlung für alle, die ein Herz für die Beatles haben, auch sie glauben, alles schon zu wissen (wie ich).

Höreindrücke: Lost im Bundestag, Hyperfixed, Question Everything, Zufälle gibt’s

Diesmal mit amerikanischen Independents, Marshall McLuhan und konfusen Zufällen.

Lost im Bundestag (ARD)

Ein Podcast, der in seiner Gesamtheit nur wenige Minuten mehr hat, als ein einstündiges Radiofeature, beweist einmal mehr, dass Marshall McLuhan mit “The Medium is the Message” recht hatte. Und die Rezeption passt sich an. Ich mochte an Bianca Schwarz’ Projekt das Gefühl der Handgemachtheit und Unmittelbarkeit, gerade innerhalb einer so großen Institution wie der ARD. Ausführlicher habe ich das in der letzten Folge von “LÄUFT” beschrieben.

Hyperfixed (Radiotopia)

Nun meldet sich also auch Alex Goldman aus den Trümmern von “Reply All” zurück. Und sein neues Format, von dem zunächst zwei Pilotepisoden veröffentlicht wurden, hat durchaus Ähnlichkeiten mit “Search Engine” von seinem ehemaligen Co-Host PJ Vogt: Vogt beantwortet Fragen, Goldman hilft beim Lösen von Aufgaben. Das ist … kompetent gemacht, aber bisher nichts, was man nicht schon mal gehört hätte. Bei “Search Engine” haben sich in jüngster Zeit Vogts essayistische Gedanken als die eigentliche Stärke erwiesen. Es wird sich zeigen, ob Goldmans Hostpersona ebenfalls ein so starkes Profil entwickeln kann.

Question Everything (Placement Theory/KCRW)

Und noch ein berühmter US-Podcaster mit einem neuen, persönlichen Projekt. Brian Reed (“S-Town”) ringt in “Question Everything” damit, was Journalismus heute leisten soll und kann. In der ersten der drei bisher veröffentlichten Episoden stellt Reed sich seiner eigenen Kritikerin, in der jüngsten (die ich stark fand) spricht er mit einem Ex-Kollegen, der nun für einen Thinktank arbeitet, weil er dort glaubt, mehr erreichen zu können. Das alles ist suchend und forschend, ohne zurechtgelegte These, funktioniert aber trotzdem. Vielleicht kann ich Brian Reed auch demnächst selbst fragen, was er bisher gelernt hat. Stay Tuned.

Zufälle gibt’s (Deutschlandfunk)

Ich habe diesen Podcast nicht verstanden. Auch nicht, nachdem Host Julius Stucke im “Über Podcast” zu Gast war. Es geht um Zufall, aber auch nicht so richtig. Die Geschichten, die erzählt werden, sollen mit Absicht nicht außergewöhnlich sein. Und der Fokus, mit dem sie erzählt werden, bleibt auch sehr unscharf. In der zweiten Folge taucht dann mal eine Expertin auf, die das Gehörte etwas einordnet, aber so richtig schlau war ich danach immer noch nicht. Ich will nicht ausschließen, dass das an mir liegt.

Bonus-Tipp: Die neue Staffel von “Slow Burn” (Slate) erzählt die Entstehungsgeschichte von Fox News, was sich für alle Medienschaffenden alleine aus politischem Interesse lohnen dürfte.

Die “Höreindrücke” sind eine alle zwei bis drei Wochen erscheinende Kolumne über neue Podcasts, von denen ich in der Regel zwei bis drei Folgen gehört habe.

Höreindrücke: Bücher in Asche, Enden, Changemakers, Broomgate

Bücher in Asche (MDR/Good Point)

Ich hatte “Bücher in Asche” auf LinkedIn gesehen und entschieden, reinzuhören. Nachdem ich das bereits getan hatte, hat mich eine der Beteiligten auch per DM um Feedback gebeten. Das hat mir fast ein bisschen leid getan, denn die Anfrage war sehr nett, aber ich war leider kein Fan des Podcasts, obwohl oder gerade weil ich das Thema (Brand in der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek vor 20 Jahren) sehr interessant fand. Entscheidender Faktor war für mich der Ton, der mir etwas zu feuilletonistisch-betulich und damit streckenweise einfach zu langweilig war. Die Scherze sind nicht gelandet, die Spannung hat sich nicht aufgebaut und ich hatte bis zum Ende von Folge 2 noch immer kein Gefühl für die Geografie des Ortes. Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt: Ist die Geschichte dieses Brandes wirklich in erster Linie ein Kulturthema?

Enden: Pleasant Island (Futurium/Undone)

Manchmal fühle ich mich bei Podcasts an die Peak TV-Zeit vor zehn Jahren erinnert. “Wurde diese Geschichte nicht schon öfter erzählt?” – “Ja, aber noch nicht als Streamingserie qualitativ hochwertiger Storytelling-Podcast.” Nichts an “Pleasant Island” ist schlecht, vieles ist sehr gut. Ich finde besonders das Scoring mal wieder hervorragend. Aber es ist (zumindest nach zwei Folgen) auch wenig daran neu oder überraschend. Mir wurde nicht klar (so ging es mir schon bei “Amanda Knox”), warum diese Geschichte jetzt noch einmal erzählt werden muss. Und ich habe nicht ganz verstanden, warum das Futurium einen sicher nicht unerheblichen Betrag dafür ausgibt.

Changemakers (WDR/Sportschau)

Podcast als Sachbuch-Hörspiel. Dynamische Texte über Sportler:innen, die über ihren Sport hinaus gewirkt haben. Toll interpretiert von Henriette Schreurs (mir bekannt aus “Score Snacks”) mit einem beeindruckenden Bett aus Soundeffekten und Musik. O-Töne tauchen auf, aber nur selten, wenn sie der Geschichte nicht im Weg stehen. Lieber werden Schauspieler:innen benutzt. Trotzdem wird mit journalistischer Sorgfalt darauf geachtet, dass alles nicht zu sehr biopic-isiert wird. Das Format ist nicht völlig neu, aber es ist noch viel zu selten und hier wirklich auf höchstem Niveau umgesetzt.

Broomgate: A Curling Scandal (CBC/USG Audio)

Ich finde ja, dass es kein besseres Medium gibt, um solche Nerd-Nischen-Geschichten zu erzählen, die gleichzeitig ein bisschen albern, aber journalistisch dennoch hochinteressant sind. Wer 2,5 Stunden Zeit hat, sollte sich dieses Reporterstück über den größten Skandal der Curling-Welt vor rund 10 Jahren mal anhören. Auch wenn der Host seine eigene Rolle in der Geschichte vielleicht etwas zu sehr hochjazzt.

Mein Workflow zum Hören und Neuentdecken von Musik

Es scheint gerade wieder en vogue zu sein, auf Musikstreaming zu schimpfen. Zumindest, wenn man Tiffany Ng in der “MIT Technology Review” folgt und dem Slate Culture Gabfest, das auf dem Artikel aufsetzt. Nicht aus den guten Gründen, natürlich, dass Künstler:innen von Streamingdiensten nach wie vor nicht ausreichend entlohnt werden und es immer noch nicht wenigstens ein User Centric Payout-Modell gibt.

Vielmehr geht es mal wieder um die Lieblings-Hassliebe kultureller Snobs: den Algorithmus. Einerseits bietet er einem ja die Möglichkeit, automatisch immer mehr Sachen zu entdecken, die man mag. Aber wo bleibt dann die Neugier, die Entdeckung, die Serendipity? Ich komme aus dem Gähnen schon gar nicht mehr wieder raus. Und Ngs Schlussfolgerung, für die sie einen 20.000 Zeichen langen Artikel braucht, ist dann auch entsprechend banal: Man muss halt manchmal auch Musik hören, die einem nicht vom Algorithmus vorgeschlagen wurde. No Shit, Sherlock.

Phasen

Als Elder Millennial und lebenslanger Musiknerd habe ich all die Phasen mitgemacht, die Ng in ihrem Artikel beschreibt: Ich habe lange vor allem CDs gehört, dann habe ich meine Musiksammlung vor einem Auslandsaufenthalt in mp3s umgewandelt, mp3-Alben mit Freunden getauscht und illegal heruntergeladen. 2015 bin ich auf Streaming umgestiegen, und ich habe nicht zurückgeblickt. 

Ich würde behaupten: Mein Musikgeschmack war noch nie so vielfältig, und ich habe noch nie so viele neue Künstler entdeckt wie heute. Immer wieder stehe ich auf Konzerten und fühle mich wie ein alter Sack, weil 80 Prozent der mich umgebenden Personen knapp 20 Jahre jünger sind. Aber ja, natürlich darf man sich dafür nicht zu hundert Prozent einem statistischen Modell überlassen, genau wie man früher™ nicht nur “die größten Hits der 80er, 90er und das beste von heute” hören konnte, wenn man seinen musikalischen Horizont erweitern wollte. 

Man muss den Algorithmus für sich arbeiten lassen, nicht umgekehrt.

Workflow

So mache ich das (übrigens, ich nutze Apple Music, nicht Spotify, aber ich bezweifle, dass es einen Unterschied macht):

Ich habe eine Playlist namens “Heavy Rotation”. Diese Playlist ist so eingestellt, dass sie Songs, die darin sind, automatisch aufs Handy runterlädt. Auf diese Songs habe ich also immer Zugriff, selbst in Funklöchern. Alle neue Musik, die ich auch nur vage interessant finde, wandert als erstes in diese Playlist. Neue Songs können aus verschiedenen Quellen kommen. Am häufigsten aus den Musikpodcasts, die ich höre (Switched On Pop, All Songs Considered, Song Exploder, Hit Parade, Soul Music), aber auch Empfehlungen von Freund:innen, Syncs in Serien oder Filmen, und manchmal auch immer noch Radiofetzen in der Öffentlichkeit.

Nicht wenige neue Songs kommen auch aus meiner “Neue Musik für dich”-Playlist, die jeden Freitag neu erscheint, und die ich meistens im Laufe der Woche durchhöre. In einer guten Woche sind vielleicht vier oder fünf der 25 automatisch ausgewählten Titel ein näheres Reinhören wert. In schlechteren Wochen vielleicht nur ein oder zwei. Vielleicht ist es das, was Leute meinen, wenn sie sagen, dass der Algorithmus nichts taugt. Ja, über 80 Prozent der Vorschläge landen nicht bei mir, aber für die 20 Prozent, die es tun, lohnt sich das Hören. Manche von ihnen sind fantastisch.

Und bei den anderen 80 Prozent denke ich mir zumindest oft: “Ok, ich kann verstehen, warum man denken könnte, es würde mir gefallen, aber wer kann schon vorher sagen, ob mir hier wirklich die Stimme des Sängers gefällt oder die Harmoniefolge gerade meine Laune diese Woche trifft.” In einem fast unendlichen Meer an neuer Musik kann man es sich erlauben, hart in seinem Urteil zu sein. Das genaue Gegenteil von früher, wo man sich irgendwann jeden Song auf der CD schöngehört hatte.

Ins Regal stellen

Die “Heavy Rotation” Playlist (und meist zusätzlich heruntergeladene neue Alben) höre ich zwischendurch immer wieder im Shuffle, wann immer mir danach ist, und sortiere während des Hörens weiter. War der Song vielleicht doch nicht so gut? Dann wird er wieder komplett aus der Mediathek gelöscht. Möchte ich ihn aktuell weiterhören, bleibt alles wie es ist. Möchte ich ihn behalten, aber aus der Rotation nehmen, sortiere ich ihn auf eine oder mehrere meiner thematischen Playlists und lösche ihn aus der “Heavy Rotation”. Ich stelle ihn sozusagen ins Regal.

Diese thematischen Playlists sind eine wilde Mischung aus Genres, Stimmungen und anderen Eigenschaften von Musik. Sie heißen “Hoedown” oder “Midtempo Afternoon”, “Only Forward” (Uptempo-Songs, die “nach vorne gehen”) oder “Spaß mit Guitars”, “Mostly Grooving Drums” oder “Instrumentale Instruktionen”, “Melancholie” oder “Summerland”, “Crash and Burn” oder – meine beliebteste Liste, die oft bei uns zu Hause läuft: “That Sunday Feeling”, eine eklektische Mischung aus seichten Popsongs unserer Kindheit, Kaffeehaus-Folk und Pianoballaden. Wenn ich mal keine Lust auf die “Heavy Rotation” habe, kann ich immer eine dieser Playlists auswählen. Dazu habe ich Künstler-Playlists meiner Lieblingsbands, “Best of”-Playlists für jedes Jahr und “Snapshots”, die ich ad hoc zusammenbaue, indem ich mich durch meine Gesamt-Mediathek skippe und mich spontan inspirieren lasse. Das geht, weil Apple Music noch meine gesamte iTunes-Mediathek von früher gespeichert hat, die wiederum auf meiner gerippten CD-Sammlung von davor basiert.

Es funktioniert

Dieser Workflow stellt sicher, dass ich, wann immer ich will, neue Musik entdecken kann, aber immer auch viel Vertrautes höre. Dass er funktioniert, merke ich immer wieder. Als ich etwa vor kurzem, angeregt durch das Saisonfinale von Search Engine, doch mal Lust hatte, elektronische Musik (jenseits des Eurodance) näher zu erforschen, habe ich mit der von PJ Vogt angelegten Playlist begonnen (importiert von Spotify via SongShift) aber nur etwa fünf Tracks gehört. Den Rest hat der Algorithmus gemacht und mir konsequent ab der darauffolgenden Woche Techno-Tracks empfohlen, von denen mindestens einer bereits große Chancen hat, auf meiner “Best of 2024”-Liste zu landen.

Eigentlich geht der Workflow übrigens noch über den Streamingdienst hinaus. Wie ich für das Techniktagebuch schon mal aufgeschrieben habe, ist die App “Songkick” mit meiner Musik-Mediathek verknüpft und checkt für mich, welche Bands aus dieser Mediathek in meiner Nähe Konzerte geben. Und da gerade die jüngeren, neueren Künstler:innen meistens günstig zu sehen sind, gehe ich immer öfter hin. Dort höre ich dann oft Songs, die ich noch nicht kenne, aber mag. Und die kommen dann zunächst wieder in die “Heavy Rotation”.


tl;dr: Ich habe einen komplizierten und wahrscheinlich auch etwas bescheuerten Workflow, um mein Musik-Menü beständig frisch zu halten. Der Algorithmus spielt dabei eine wichtige Rolle, aber er muss auch regelmäßig mit frischem Input gefüttert werden. Wer sich nur auf automatisierte Vorschläge verlässt, wird wenig wirklich neue Musik entdecken, will das aber vielleicht auch gar nicht!

Bild: Midjourney – “a platypus wearing sunglasses playing a keytar and singing, bathed in rainbow lights, dynamic framing, pop photography, –ar 2:1”

Das Raygun-Dilemma

Ich bin so fasziniert wie überfordert vom Fall der olympischen Breakdancerin Rachael “Raygun” Gunn aus Australien. 

Falls irgendjemand nicht online genug ist, um es mitbekommen zu haben: Raygun hat beim olympischen Breakdance-Wettbewerb der Frauen am vergangenen Freitag eine eigenwillige Performance hingelegt, in der sie im Gegensatz zu ihren Gegnerinnen kaum klassische Breakdance-Moves zeigte. Stattdessen glich ihr Auftritt einer merkwürdigen Parodie von Breakdance, in der Gunn zeitweise ungelenk auf dem Boden herumrutschte und wie ein Känguru durch die Gegend hüpfte. Sie erhielt für ihre Darbietung nachvollziehbarerweise keine Punkte der Richter:innen und schied in der Vorrunde aus.

Die Reaktion auf Social Media ließ nicht lange auf sich warten. Rayguns Moves wurden nach einem kurzen WTF-Moment quasi sofort zum Meme. Ihre Boden-Bewegungen dienten als Bebilderung für alles Zappelige, etwa “Wenn ich denke, mein Kind würde ruhig in seinem Bett schlafen”. Ein Move, der vor allem deutsche Zuschauer eventuell auch an Otto Waalkes’ klassische Gangart erinnern dürfte, in dem Gunn die Hände wie Pfoten in die Höhe reißt und große Schritte macht, ließ sich hervorragend mit Labels wie “Ich, wenn das Buffet eröffnet wird” versehen. Soweit, so normal. Siehe auch: Schießwettbewerb

Interessant und verwirrend wurde es für mich in der zweiten Diskussionsrunde, die im Internet ja immer folgt. Vor allem in Kommentaren unter den ersten Posts, aber dann auch in späteren Beiträgen, in denen Gunn ihren “Main Character”-Status bereits angenommen hatte, schälten sich zwei Narrative heraus, die meiner Ansicht nach beide eine gewisse Validität für sich beanspruchen können.

Narrativ 1: “Dabei sein ist alles”

In dieser Version der Geschichte ist Raygun eine Art positive Ikonoklastin, die sich nicht scheut, anders zu sein und damit die Herzen der Menschen erobert hat. Gunn selbst hat diese Botschaft nach dem Wettbewerb auf ihrem Instagram-Kanal geteilt. In einem Interview sagte sie sinngemäß: Sie wusste vorher, dass sie in Sachen Athletik nicht mit ihren deutlich jüngeren Konkurrentinnen mithalten konnte, daher habe sie versucht, originell zu sein. Der oberste Preisrichter Martin Gillian hat in einem Statement nach dem Wettbewerb gesagt, Originalität wäre eins der Kriterien beim Breakdance, Rayguns Auftritt wäre nicht schlecht gewesen, aber halt nicht so gut, wie die der anderen Breakdancer. 

Unterm Strich also: Schön, dass sie dabei war und das Feld ein bisschen aufgemischt hat. Sie hat sich ordnungsgemäß für den Wettkampf qualifiziert, ist dort aber auf bessere Athleten gestoßen und entsprechend auch ausgeschieden. Aber wie cool, dass jemand den olympischen Gedanken des “Dabei sein ist alles” so selbstbewusst vertritt. Wir brauchen mehr Rachael Gunns.

Aber Moment: “Dabei sein ist alles” ist, wenn man Wikipedia glaubt, nur der zweitbeste olympische Gedanke. An dieser Stelle setzt das zweite Narrativ an.

Narrativ 2: “Eine Schande für den Sport”

Das olympische Motto nämlich lautet nicht “For the Memes!”, sondern “Höher, schneller, weiter”. Es geht darum, sportliche Exzellenz zu feiern und athletische Höchstleistung zu bieten. Raygun habe mit ihrer Interpretation von Breakdance dieses Motto verraten, sich durch eine merkwürdige Mischung aus Glück, Status und Selbstüberschätzung einen Platz erschlichen, der anderen Menschen zugestanden hätte, und die Disziplin, in der sie angetreten ist, zum Gespött gemacht, lautet die Aussage.

Diesem Narrativ spielt die Tatsache in die Hände, dass die 38jährige Gunn hauptberuflich promovierte Cultural-Studies-Dozentin ist, die sich neben ihrer sportlichen Betätigung auch aus theoretischer Sicht mit Breakdance beschäftigt hat. Ihre Biografie scheint geradezu prädestiniert dafür, als Paradebeispiel für Weißes Privileg und kulturelle Aneignung herzuhalten. Eine Weiße Theoretikerin, die den von Marginalisierten entwickelten Tanzsport vor allem aus Büchern kennt, stolpert Forrest-Gump-mäßig irgendwie in die olympischen Spiele, gewinnt dort natürlich nicht, bietet aber anderen Weißen eine willkommene Projektionsfläche, so die Lesart. Cool Runnings, aber auf den Kopf gestellt.

Muss man sich für eine der beiden Erzählungen entscheiden? Können beide ein bisschen wahr sein? Liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen? 

Die merkwürdige Qualifikation

Ich habe versucht, mir durch viel Lesen ein Bild zu machen, bin aber nach wie vor nicht sicher, wo ich stehe. Kaum ein Artikel scheint mir wirklich fundiert Stellung zu beziehen, selbst die australischen Medien lassen sich nur zu einem sehr langen “Einerseits, andererseits” in Stellvertreter-Gesprächen hinreißen.

Wichtig finde ich zunächst, die Sache mit Gunns Qualifikation klarzustellen. Sie scheint sich den Platz tatsächlich ordentlich erkämpft zu haben. Der Breaker Lucas Marie, der auch ein Paper mit Rachael Gunn geschrieben hat, wird von der australischen ABC folgendermaßen zitiert:

“There was an Oceania qualifier in which any B-boy or B-girl from Australia [or] New Zealand could enter, and that was in Sydney in October 2023,” he told ABC News.

“And leading up to that, there were a lot of other events in which breakers were competing. “She won those battles fair and square and won the qualification in Sydney. And it wasn’t really a surprise to anyone. She’s been fairly consistent, winning or coming second or third at a lot of breaking events in Australia for the last five to 10 years.”

Klingt eindeutig. Die Gegenstimmen, etwa der deutsche Breaking-Pionier Niels Robitzky im “Spiegel”, halten entgegen, dass dieses Qualifikationsturnier es unbekannten und weniger privilegierten Talenten nicht unbedingt leicht gemacht hat, teilzunehmen:

Der [Tanz-]Weltverband hat einerseits ein sehr undurchsichtiges Punktesystem zur Qualifikation geschaffen und andererseits Kontinentalmeisterschaften in Afrika, Europa, Asien, Amerika und Ozeanien organisiert. Hier konnten sich die Gewinner direkt einen Platz in Paris bei Olympia sichern. Aber um an diesen teilzunehmen, musste man auf eigene Kosten anreisen und übernachten, was in ärmeren Gegenden eine große Hürde ist. In Afrika gibt es zum Beispiel herausragende Tänzerinnen und Tänzer im Breaking. Besonders in Kamerun und im Senegal. Aber weil der Qualifikationswettbewerb für Afrika in letzter Sekunde nach Marokko verlegt wurde, haben viele daran gar nicht teilgenommen. Ozeanien ist riesig. Dass bei dem Qualifikationswettbewerb in Sydney niemand besser war als Raygun, heißt nicht, dass sie die beste Tänzerin aus ganz Ozeanien ist.

Auch das klingt für mich einleuchtend, aber nicht als Argument gegen Rachael Gunn, sondern eher gegen die sportliche Organisation einer so undergroundigen Disziplin wie Breakdance. Ich befürchte aber, dass es einfach der Realität des Sport nicht nur im Vereinswesen sondern auch im Kapitalismus entspricht.

Taugt Breakdance als Sport?

Dahinter steckt, soweit ich das sehe, eine größere Debatte, inwiefern Breaking sich überhaupt als olympische Sportart eignet. Es war in Paris das erste Mal überhaupt Teil der Olympischen Spiele und Los Angeles hat für 2028 bereits letztes Jahr dankend abgelehnt. 

Ausgerechnet Planet Money hat dazu vergangene Woche eine hervorragende Episode veröffentlicht, in der sie (völlig unabhängig von Raygun) den langen Weg nachzeichnen, den Breaking nehmen musste, um überhaupt mal ein (in der Szene sehr umstrittenes) einheitliches Bewertungssystem zu bekommen, das nicht auf reiner Subjektivität beruht. Heute wird eine Performance nach fünf Kriterien beurteilt (Technik, Vokabular, Ausführung, Musikalität und Originalität). Hier stehen also sportliche Meriten relativ gleichberechtigt neben künstlerischen – es braucht aber auf jeden Fall beides, um gut zu sein. Bisher hat sich Breaking noch einem Punktesystem verweigert, in dem es für bestimmte Moves feste Punktzahlen gibt.

Denn, und das macht der Planet Money-Beitrag besonders gut klar, andere künstlerisch und kreativ geprägte Sportarten wie Synchronschwimmen und Eiskunstlauf sind diesen Weg gegangen, und es hat sie nachhaltig verändert. Sobald es ein Zahlensystem gibt, gibt es auch Wege, es auszunutzen. Die Wertungen, die man durch gezieltes Punktesammeln erzielen kann,  lassen sich mit den künstlerischen Wertungen – die es auch im Synchronschwimmen zum Beispiel noch gibt – nicht mehr ausgleichen. Daher sind all diese Sportarten in den letzten Jahrzehnten deutlich athletischer geworden. Vielleicht besser vergleichbar für Wettkämpfe, aber schlecht für alle, die eine Sportart vor allem wegen ihrer kreativen Komponente geschätzt haben.

Merkwürdige Linienverläufe

Ob die “Versportung” von Breakdance also so eine gute Idee war, steht allgemein zur Debatte. Was mir im Diskurs um Raygun aber die meisten Kopfschmerzen bereitet, ist die merkwürdige Art, wie dort die Linien verlaufen. Denn die gleiche Seite, die die Seele des Breakdance als Underground-Kunstform ohne Sportverbände bewahren will, argumentiert damit, dass Rachael Gunn nicht athletisch genug performt und die Kunstform somit beschädigt hat. Obwohl genau die mangelnde Athletik sie ja knallhart aus dem Turnier gekegelt hat, das “versportete” System also funktioniert hat, wie es soll.

Ironischerweise ist genau diese Spannung Teil von Gunns akademischer Arbeit. Das Paper, das sie mit dem oben erwähnten Lucas Marie geschrieben hat spricht von den “Möglichkeiten und der Politik der sportification” speziell in der australischen Breaking-Szene. Zitat aus dem Abstract:

While some breakers see the Olympics as an opportunity and space for wider recognition, many have expressed concerns with the growing influence (and embrace) of transnational commercial organizations and institutional governing bodies in shaping and managing breaking’s future. Alongside concerns of an increasing sportification of breaking, this trajectory points towards an increasing loss of self-determination, agency and spontaneity for local Australian breakers (…). Australia’s breaking scene is marked by distinct, self-determined localized scenes separated from each other by the geographic expansiveness of this island-continent. Here, breaking is a space for those ‘othered’ by Australian institutions to express themselves and engage in new hierarchies of respect. We argue that breaking’s institutionalization via the Olympics will place breaking more firmly within this sporting nation’s hegemonic settler-colonial structures that rely upon racialized and gendered hierarchies. (Meine Hervorhebungen)

Es scheint mir also stark so, als würde die Debatte eigentlich entlang zwei separater Achsen geführt, die aber typischer Internet-Öffentlichkeit miteinander vermischt werden.

Hiphop-Alphabetisierung

Da ist einmal die Diskussion um Breaking als Sport versus Breaking als selbstbestimmte Ausdrucksform. Hier ist klar, auf welche Seite Rachael Gunn steht, und sie hat nach allem, was ich inzwischen erfahren konnte, nicht nur selbstverständlich das Recht dazu, sondern steht so auch in der Tradition des Breakdance als Kunstform außerhalb der Institutionen. Dass sie das Ansehen des Breakings durch ihren Auftritt beschädigt hat, halte ich für Quatsch. 

Den Vergleich mit einer Breakdance-Sendung des ZDF von 1984 den Niels Robitzky im “Spiegel”-Interview bringt, nach der sich angeblich “niemand mehr getraut [hat], Breaking auf dem Dancefloor zu zeigen, weil die Sendung den Tanzstil peinlich gemacht hat”, finde ich sehr weit hergeholt. Denn: Aller Spott, den das Internet verlässlich ausgoss, richtete sich genau nicht gegen Breakdance als olympischen Sport, sondern nur gegen Gunn als Person. Mit anderen Worten: Das Publikum ist 40 Jahre nach der ZDF-Sendung Hiphop-alphabetisiert genug, um gutes von schlechtem Breaking zu unterscheiden.

Die andere, wahrscheinlich wichtigere, Diskussion ist die um Sichtbarkeit. Robitzky sagt weiter: “Jetzt ist überall in den sozialen Medien Breaking zu sehen – aber nur der eigenartige Auftritt von Raygun und nicht die Performances von Ami und Nicka, den beiden Finalistinnen, die wirklich herausragend getanzt haben.” Damit hat er Recht und ich kann den Frust derjenigen, die sich vielleicht seit Jahrzehnten für die Sichtbarkeit von Breaking einsetzen, verstehen. 

Robitzky sagt weiter: “Tanz ist eine Körpersprache, und die des Breaking ist seit 50 Jahren gewachsen. Um mitreden zu können, muss man diese Körpersprache beherrschen, man muss gewissermaßen die Grammatik und das Vokabular kennen. Erst dann kann man etwas Neues hinzufügen.” Das kann man auch anders sehen, aber ich kann seine Haltung zumindest nachvollziehen.

Mehr Sensibilität

Es ist also die Frage, ob ein aus marginalisierter Kultur gewachsener, künstlerischer Sport, der zum ersten Mal auf diese Art auf der Weltbühne präsentiert wird, wirklich sofort auch Ikonoklast:innen braucht, die selbst tendenziell aus dem “Außen” stammen und allem Anschein nach mal zeigen wollen, dass es “auch anders geht”. Und damit ähnlich wie selbsternannte “white saviors” selbstverständlich viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 

Hier hätte man von Rachael Gunn mehr Sensibilität erwarten können, insbesondere in der Nachbetrachtung ihres Auftritts. Statt das Narrativ weiter um sich selbst und ihren individuellen Weg kreisen zu lassen, hätte sie ihren Fame mit ihren Konkurrentinnen teilen und im Sinne einer Ethik der Appropriation auf die Wurzeln ihres Sports verweisen können, mit dem sie sich ja bestens auskennt. Dass sie es nicht getan hat und sich stattdessen für ihren Auftritt hat feiern lassen, ist menschlich vielleicht verständlich, aber eben nicht sachdienlich. Das Gebot des Privilegien-Checkens endet halt leider nie, selbst wenn man gleichzeitig für sein Verhalten in der Luft zerrissen wird.

Nachtrag, 15.8.: Aja Romano hat auf Vox.com gestern nachmittag einen Artikel veröffentlicht, der gerade die Themen Qualifikationsprozess, Punktewertungen und Breaking-Szene in Australien noch einmal ziemlich genau unter die Lupe nimmt. Er behandelt auch das Thema, welche Absicht Raygun mit ihrer Technik eventuell verfolgt, zu der man sicher geteilter Meinung sein kann. Lohnt sich auf jeden Fall, ihn zu lesen. Auf diese Art von Analyse hatte ich die ganze Zeit noch gewartet.

Foto von Ilja Tulit auf Unsplash

Thüringen 2024, Shell Game, Judging Amanda Knox, 130 Liter: Vier Podcast-Kurzkritiken

Eigentlich wollte ich im Sommer keine Höreindrücke schreiben, aber dann kamen doch ein paar neue Produktionen des Wegs. Heute geht es um Explainer, KI und True Crime.

Thüringen 2024: Was wäre, wenn? (Hauseins/Verfassungsblog)

Ein brennendes Thema. Eine sehr gute Herangehensweise, die Gefahren in Thüringen über Bedrohungsszenarien greifbar zu machen. Mit Steffi Groth eine erfahrene und sehr sympathische Host. Klingt aber trotzdem hart nach Hausaufgaben. Ich sehe zwei Gründe: Erstens geskriptete Interviews mit den Co-Hosts vom Verfassungsblog, die dadurch, dass sie Ablesen, leicht ins Leiern kommen (Mein Vorschlag: Entweder echte Co-Moderation oder echte Interviews). Zweitens sehr lange O-Töne von Expert:innen (oft dazu noch im Konjunktiv!) ohne einordnende oder zusammenfassende Einschübe. Alles keine Dealbreaker, erhöht aber die Komplexität und Trockenheit.

Shell Game (Evan Ratliff)

Indieproduktion des Journalisten (Wired, Longform), in dem er seine eigene Stimme klont, in diversen Experimenten auf die Welt (bisher: Kundenservice, Scammer, Selbstgespräche) loslässt und laut über seine Beobachtungen nachdenkt. Dicht und unterhaltsam erzählt. Hat die persönliche Komponente, die ich für solche Formate unerlässlich finde, wie schon öfter an dieser Stelle erwähnt. Vergegenwärtigt noch mal, wie weit KI im Audio-Bereich schon gekommen ist.

Judging Amanda Knox (Undone/Der Spiegel)

Ich habe Khesrau Behroz ja letzte Woche für LÄUFT interviewt, und alles was in dem Gespräch steckt, ist im Grunde auch mein Eindruck. “Judging Amanda Knox” ist, wie immer bei Undone, erzählerisch auf höchstem Niveau. Khesrau und Alexandra Berlin ergänzen sich auch sehr gut. Die Musik ist diesmal wirklich ein deutlicher Charakter. Aber ich finde diese Meta-Reflexion (diese Woche erscheint Episode 4, in der über True Crime reflektiert wird, in den freien Feeds) nicht so tugendhaft, wie sie tut, weil mir eine klare These oder ein Richtungsvorschlag an ihrem Ende fehlt. Khesrau hat Großes für den Schluss in Episode 8 angekündigt. Ich werde auf jeden Fall noch dranbleiben.

130 Liter: Streit um unser Trinkwasser (DLF)

Ein großes Thema mit moderner Haltung aber zeitlosen Mitteln erklärjournalistisch heruntergebrochen. Mir haben vor allem die Reportage-Elemente gefallen, in denen Protagonist:innen vor Ort zu Wort kommen und Reporter:innen auch DInge berichten können, die sie sehen oder erleben. Das macht alles viel greifbarer, gibt einem dieses Radio-Gefühl und hat bei mir viele positive Erinnerungen etwa an “Planet Money” geweckt. Ein bisschen traurig finde ich das allgemeine Musik- und Sounddesign, aber so isses halt: Deutschlandfunk’s gonna deutschlandfunk.

Wild Crimes, Animal, Weird Animals, Die Anschlags – vier kurze Podcastkritiken

Für die Höreindrücke habe ich diese Woche drei Podcasts gehört, die mit Tieren zu tun haben, und einen über Spionage.

Wild Crimes (ARD)

Ich finde, dass hier ein journalistisch gut aufbereitetes und spannend genug erzähltes Thema völlig dadurch ruiniert wird, dass es unnötigerweise in den True-Crime-Frame gestellt wird. Mir hätte es völlig gereicht, zu erfahren, wie schwierig die Abwägung zwischen Tierschutz, Menschenschutz und Wirtschaftsschutz in einer Welt ist, in der die Zivilisation die Wildnis fast völlig zurückgedrängt hat. Als zentrales Mysterium zu postieren, wer einen Bären tatsächlich erschossen hat, fand ich ein zu großes Zugeständnis an ein ohnehin überstrapaziertes Genre, auch wenn ich vor der Marketing-Idee dahinter knirschenden Respekt habe.

Wild Crimes in der Audiothek

Animal (New York Times)

Ich wiederhole mich, aber von solchen Podcasts wünsche ich mir auch in Deutschland viel mehr – das Personal dafür gäbe es im Feature-Bereich auf jeden Fall. Einzelne Personen, die auf eine persönliche Erkenntnmission gehen und die Geschichte auch durch ihre Brille erzählen. Hier: Was verbindet uns mit Tieren, was trennt uns? Die erste Episode ist nur 15 Minuten lang und erzählt die Geschichte von zwei Haustieren des Autors, in Folge 2 geht es 45 Minuten nach Island, um Papageientauchern beim Erwachsenwerden zu helfen. Das geht zusammen und es klingt toll. Podcasts sind ein sehr gutes Medium für den Personal Essay.

Animal hören

Weird Animals (Undone/ARD)

Uff. Ich glaube, das Format kann funktionieren, wenn es sich ein bisschen eingegroovt hat. Die Hosts sind auf jeden Fall die richtigen (auch wenn ich Robinga Schnögelrögel persönlich nicht sympathisch finde) und die größeren Themen, die sich andeuten, klingen relevant. Aber mir hat das Gespräch in Folge 1 noch zu viel Mischung aus Trockenheit, gequältem Humor und “Das habe ich leider auch nicht rausfinden können”. Die Chemie und der Rhythmus passt noch nicht ganz. Das kann man als “authentisch” feiern, aber ich finde immer noch, dass ein (auch komisches) Wissensvermittlungsformat die Zeit seines Publikums wertschätzen sollte.

Weird Animals in der Audiothek

Die Anschlags (WDR)

Mir sind zwei Dinge aufgefallen: Erstens, wie gekonnt die Doku mit verschiedenen Zeit- und Erläuterungsebenen jongliert, ohne dass man den Faden verliert (auch wenn es zwischendurch wirklich recht kompliziert ist). Zweitens, dass sie ihre Geschichte fast konsequent linear erzählt und man nur deswegen dranbleibt, weil man wissen will, wie es weitergeht, auch ohne dass ständig lautstarke Ankündigungen gemacht werden, wie krass diese Recherche ist – das merkt man nämlich von selber. Habe ich abonniert und werde ich fertighören.

Die Anschlags in der Audiothek

Row Zero, Feuerzone, 15 Minuten, Fur and Loathing: Vier Podcast-Kurzkritiken

Zweimal Rammstein, ein neuer Daily-Podcast der Tagesschau und ein True-Crime-Fall im Furry-Milieu. Höreindrücke sind schnelle Meinungen von mir zu vier neuen Podcasts nach dem Anhören weniger Episoden. Alle zwei Wochen (meistens) neu, hier und auf LinkedIn.

Rammstein – Row Zero (NDR) und Feuerzone: Das System Rammstein (SZ)

Kulturelle Artefakte wie dieses sind ein Geschenk: Zwei Medien recherchieren gemeinsam, veröffentlichen gemeinsam, gehen dann aber auseinander und bereiten ihr Rohmaterial, angereichert durch zusätzlichen Kontext, noch einmal separat als Podcast auf. Als Kritiker kann man sich so zwischen zwei alternativen Universen der Rammstein-Podcasts bewegen und feststellen: Beide sind in ihrer Unterschiedlichkeit gut geworden. An Row Zero fand ich beeindruckend, wie konsequent der Podcast in der Perspektive der mutmaßlichen Opfer bleibt und ihr auch Erläuterungen (etwa des Rechtssystems oder der Historie von Rammstein) gegenübergestellt, die Synthese beider Elemente aber den Hörenden überlässt. Von Feuerzone habe ich bisher erst eine Folge gehört und ich finde den Ansatz interessant, auch einen kulturjournalistischen Rundumschlag zu wagen und die Rolle der Medien zu beleuchten. Eine ausführlichere Kritik und hoffentlich ein paar Hintergründe gibt es dann in der nächsten Ausgabe von Läuft.

Row Zero

Feuerzone

15 Minuten (Tagesschau)

What if Nachrichten but angekumpelt. Dass hier “Tagesschau” draufsteht ist eigentlich irreführend, denn 15 Minuten ist mit seiner Mischung aus eher weichen News, Servicejournalismus und Anekdotenanreicherung durch die Hosts eigentlich viel eher ein “Morgenmagazin” in Podcastform als eine “harte” Nachrichtensendung. Für alle, die sowas gerne als täglichen Begleiter haben möchten, ist es solide gemacht, vor allem in seiner Auswertung der restlichen ARD-Berichterstattung. Aber ich finde nicht, dass es einen Mehrwert zu ähnlichen Formaten oder einfach gegenüber morgendlichem Radiohören bietet.

15 Minuten

Fur and Loathing (Brazen)

2014 gab es einen mutmaßlichen Giftgasanschlag auf eine Convention der Furry-Subkultur in den USA, der nie ordentlich aufgeklärt wurde. Klingt nach einer guten Mischung für einen Podcast. Ist es auch. Ich sehe allerdings Probleme mit der journalistischen Haltung des Reporters, der von Anfang an klarmacht, dass er hier vor allem den Marginalisierten zur Seite springen will. Das führt gelegentlich zu Verzerrungen in der Perspektive und Formulierungen, wie sie öfter im “aktivistischen” Journalismus zu erleben sind, etwa das wiederholte Betonen der Wichtigkeit des eigenen Falls im Vergleich zu anderen Themen. Die Geschichte hat mich aber genug gehookt, dass ich wissen will, wie es weitergeht. Noch eine interessante Formatbeobachtung: Ein Interview mit dem Verantwortlichen vor dem Start des Podcasts in den Feed zu packen, das die Mission erklärt und den Inhalt teast, finde ich eine super Idee.

Fur and Loathing

Wer? Wie? Buzz?, I Will Survive, Systemeinstellungen, Milli Vanilli – Vier Podcast-Kurzkritiken

Ein neuer Kinderpodcasts. Drei neue Dokus aus ganz unterschiedlichen Häusern.

Wer? Wie? Buzz! (Spiegel)

Total super finde ich die Idee, die Zielgruppe (Kinder im Mittelschulalter) selbst an den Drücker zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, Themen abzuwählen oder Nachfragen zu stellen. Merkwürdiger finde ich den Wettstreit zwischen den Moderator:innen um Redezeit (mit reinrufendem Schiedsrichter und sehr dehnbaren, unsichtbaren Regeln) – aber eventuell ist genau sowas ein Feature, was langfristig die parasoziale Beziehung zum Podcast sicherstellt. Wer gewinnt wohl diese Woche? Was ist der Wetteinsatz? Zu lernen gibt es, wie immer, auch viel für Erwachsene. In meinem Fall hat es außerdem zwei Tage gedauert, bis ich das Wortspiel im Titel kapiert habe.

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I Will Survive – Der Kampf gegen die AIDS-Krise (BR)

Was gibt es hier noch zu erzählen, möchte man meinen. Doch das Team hat mehrere sehr gute Protagonisten gefunden, einen starken, sogar regionalen Hook (Freundschaft mit Freddie Mercury in seiner Münchner Zeit) für den Anfang und eine klar formulierte Haltung des Hosts Phillip Syvarth, der selbst zu wenig weiß und erfahren will, auf wessen Schultern er als schwuler Mann heute steht. Durch die persönlichen Geschichten wird das ganze Grauen und die Angst der Zeit gut erlebbar ohne in übermäßige Betroffenheit abzudriften. 

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Systemeinstellungen (netzpolitik.org)

Grundsätzlich erstmal genial, dass auch ein Indiemedium wie Netzpolitik.org einen solchen Podcast produzieren kann. Die Fälle sind gut strukturiert und lebendig geschildert, dabei bordet das Scoring vielleicht manchmal ein bisschen über, aber das kann auch Geschmackssache sein. Was ich mich frage: Führt die Beschreibung der Fälle am Ende noch irgendwohin? Gibt es Lösungsvorschläge oder einen klaren Appell, etwas zu ändern? Oder bleibt es bei der reinen Benennung von (aus Sicht der Autoren) Missständen?

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Milli Vanilli: Ein Popskandal/Blame It On The Fame (Wondery)

Wenn ich eine Dokumentation auf einem Privatsender sehe, erwarte ich etwas anderes, als im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, und im Podcast dividiert es sich langsam ähnlich aus. “Blame it on the Fame” ist gewissermaßen die Podcast-Version einer RTL-Doku. Viel Drive, viel Production Value (nicht zuletzt: zwei Sprachen), aber auch viel Oberfläche. Auf keinen Fall schlecht, aber auch nichts für Nerds. Und: Was es für einen Unterschied in der Wirkung macht, ob eine Reporterin mit einer Mission ihre eigene Recherche hostet, wie in der Originalfassung, oder eine dazugeholte Person, die zwar vom Profil her passt, aber halt doch mit der Geschichte nichts zu tun hat. Mutig und gut finde ich die Entscheidung, in der deutschen Fassung alle englischen O-Töne stehenzulassen und nur zusammenfassend zu übersetzen.

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Rest in Exzess, Diagnose: Unangepasst, Vollkontakt, Wir Weltmeister – Vier Podcast-Kurzkritiken

Die Höreindrücke sind zurück. Hier wieder eine erste Meinung zu vier neuen Podcasts, in die ich reingehört habe.

Rest in Exzess – Das kurze Leben von Techno-Legende Mark Spoon (HR/ARD Kultur)

Ich habe an anderer Stelle bereits darüber gesprochen, warum ich denke, dass hier eine Geschichte ohne genug dramatische Kraft auf fünf Folgen gestreckt wurde und sich im Ergebnis erschreckend dünn anfühlt. Außerdem das krampfhafte Installieren einer Co-Host, das eindeutig nicht funktioniert. Meine Vermutung: Ich glaube, hier wurde schlecht geplant. Es gab halt Geld für einen Podcast mit fünf Folgen, also musste es dann auch einer werden. Immer wieder faszinierend, wie Formatierungsdiktate auch in zunächst scheinbar unformatierten Medien ankommen.

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Diagnose: Unangepasst – Der Albtraum Tripperburg (MDR)

Ich hatte noch nie das Gefühl, dass in einem Projekt das Beste und das Schlimmste von Doku-Podcasts so sehr aufeinandertreffen. Einerseits haben die Autorinnen hier eindeutig ein unterberichtetes Thema aufgetan und es sehr sorgfältig recherchiert. Die Aussagen ihrer Interviewpartnerinnen sind schockierend und berührend. Es war höchste Zeit, dass dieser DDR-Abscheulichkeit und ihren Opfern größere Aufmerksamkeit zuteil wird. Andererseits muss es doch möglich sein, bei solchen Projekten einfach der Kraft einer journalistischen Recherche zu vertrauen, statt in der Präsentation alles mit Sounddesign, (beeindruckend eingespielter) Musik und vor allem mit völlig überflüssigen Ich-Bezügen der Hosts (“Ich stelle mir vor, mir würde das passieren, total krass”) emotional “aufzufüllen”. Sehe nur ich das so?

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Vollkontakt (ACB Stories)

Ich hatte mich schon darauf eingestellt, mal wieder einen “Ich bin alt und hier eindeutig nicht die Zielgruppe”-Beitrag zu schreiben. Aber die Kombi aus sehr albernem Quatsch und tieferen, von eigenen Erfahrungen und Gedanken geprägten Diskussionen von Don Pablo Mulemba (den ich ja aus “Springerstiefel” kannte) und Hakan Halaç hat mir wirklich gut gefallen. Laberpodcasts darf man wirklich endlos iterieren, bis für jeden einer gefunden ist.

Wir Weltmeister – Auf der Suche nach 2014 (NDR)

Als jemand, der sich wenig (aber immer mal wieder) für Fußball interessiert, war ich hier erstaunlich schnell an Bord. Tiefer Zugang zu den Protagonisten trifft auf eine klare Fragestellung. Der Ton pendelt zwischen leicht und ernst, verliert aber die zentrale Frage (Wie war das damals und was ist passiert?) nicht aus den Augen. Dazu gibt es immer die richtigen Töne aus dem Archiv. Dass “Wir Weltmeister” ein TV/Podcast-Hybridprodukt ist, merkt man manchmal ein bisschen, aber der Podcast kommt einem nicht wie eine Zweitverwertung vor. (Nachtrag: Hab mich gefreut, dass Marc Krüger parallel die gleichen Gedanken hatte.)

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Ein Bonus-Höreindruck: Durch das Interview von Su holder mit Anne Will habe ich angefangen, ihren Podcast “Politik mit Anne Will” zu hören. Ich finde ihn gut und fokussiert und habe ihn aktuell in meine Wochen-Rotation aufgenommen.