Ich bin so fasziniert wie überfordert vom Fall der olympischen Breakdancerin Rachael “Raygun” Gunn aus Australien.
Falls irgendjemand nicht online genug ist, um es mitbekommen zu haben: Raygun hat beim olympischen Breakdance-Wettbewerb der Frauen am vergangenen Freitag eine eigenwillige Performance hingelegt, in der sie im Gegensatz zu ihren Gegnerinnen kaum klassische Breakdance-Moves zeigte. Stattdessen glich ihr Auftritt einer merkwürdigen Parodie von Breakdance, in der Gunn zeitweise ungelenk auf dem Boden herumrutschte und wie ein Känguru durch die Gegend hüpfte. Sie erhielt für ihre Darbietung nachvollziehbarerweise keine Punkte der Richter:innen und schied in der Vorrunde aus.
Die Reaktion auf Social Media ließ nicht lange auf sich warten. Rayguns Moves wurden nach einem kurzen WTF-Moment quasi sofort zum Meme. Ihre Boden-Bewegungen dienten als Bebilderung für alles Zappelige, etwa “Wenn ich denke, mein Kind würde ruhig in seinem Bett schlafen”. Ein Move, der vor allem deutsche Zuschauer eventuell auch an Otto Waalkes’ klassische Gangart erinnern dürfte, in dem Gunn die Hände wie Pfoten in die Höhe reißt und große Schritte macht, ließ sich hervorragend mit Labels wie “Ich, wenn das Buffet eröffnet wird” versehen. Soweit, so normal. Siehe auch: Schießwettbewerb.
Interessant und verwirrend wurde es für mich in der zweiten Diskussionsrunde, die im Internet ja immer folgt. Vor allem in Kommentaren unter den ersten Posts, aber dann auch in späteren Beiträgen, in denen Gunn ihren “Main Character”-Status bereits angenommen hatte, schälten sich zwei Narrative heraus, die meiner Ansicht nach beide eine gewisse Validität für sich beanspruchen können.
Narrativ 1: “Dabei sein ist alles”
In dieser Version der Geschichte ist Raygun eine Art positive Ikonoklastin, die sich nicht scheut, anders zu sein und damit die Herzen der Menschen erobert hat. Gunn selbst hat diese Botschaft nach dem Wettbewerb auf ihrem Instagram-Kanal geteilt. In einem Interview sagte sie sinngemäß: Sie wusste vorher, dass sie in Sachen Athletik nicht mit ihren deutlich jüngeren Konkurrentinnen mithalten konnte, daher habe sie versucht, originell zu sein. Der oberste Preisrichter Martin Gillian hat in einem Statement nach dem Wettbewerb gesagt, Originalität wäre eins der Kriterien beim Breakdance, Rayguns Auftritt wäre nicht schlecht gewesen, aber halt nicht so gut, wie die der anderen Breakdancer.
Unterm Strich also: Schön, dass sie dabei war und das Feld ein bisschen aufgemischt hat. Sie hat sich ordnungsgemäß für den Wettkampf qualifiziert, ist dort aber auf bessere Athleten gestoßen und entsprechend auch ausgeschieden. Aber wie cool, dass jemand den olympischen Gedanken des “Dabei sein ist alles” so selbstbewusst vertritt. Wir brauchen mehr Rachael Gunns.
Aber Moment: “Dabei sein ist alles” ist, wenn man Wikipedia glaubt, nur der zweitbeste olympische Gedanke. An dieser Stelle setzt das zweite Narrativ an.
Narrativ 2: “Eine Schande für den Sport”
Das olympische Motto nämlich lautet nicht “For the Memes!”, sondern “Höher, schneller, weiter”. Es geht darum, sportliche Exzellenz zu feiern und athletische Höchstleistung zu bieten. Raygun habe mit ihrer Interpretation von Breakdance dieses Motto verraten, sich durch eine merkwürdige Mischung aus Glück, Status und Selbstüberschätzung einen Platz erschlichen, der anderen Menschen zugestanden hätte, und die Disziplin, in der sie angetreten ist, zum Gespött gemacht, lautet die Aussage.
Diesem Narrativ spielt die Tatsache in die Hände, dass die 38jährige Gunn hauptberuflich promovierte Cultural-Studies-Dozentin ist, die sich neben ihrer sportlichen Betätigung auch aus theoretischer Sicht mit Breakdance beschäftigt hat. Ihre Biografie scheint geradezu prädestiniert dafür, als Paradebeispiel für Weißes Privileg und kulturelle Aneignung herzuhalten. Eine Weiße Theoretikerin, die den von Marginalisierten entwickelten Tanzsport vor allem aus Büchern kennt, stolpert Forrest-Gump-mäßig irgendwie in die olympischen Spiele, gewinnt dort natürlich nicht, bietet aber anderen Weißen eine willkommene Projektionsfläche, so die Lesart. Cool Runnings, aber auf den Kopf gestellt.
Muss man sich für eine der beiden Erzählungen entscheiden? Können beide ein bisschen wahr sein? Liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen?
Die merkwürdige Qualifikation
Ich habe versucht, mir durch viel Lesen ein Bild zu machen, bin aber nach wie vor nicht sicher, wo ich stehe. Kaum ein Artikel scheint mir wirklich fundiert Stellung zu beziehen, selbst die australischen Medien lassen sich nur zu einem sehr langen “Einerseits, andererseits” in Stellvertreter-Gesprächen hinreißen.
Wichtig finde ich zunächst, die Sache mit Gunns Qualifikation klarzustellen. Sie scheint sich den Platz tatsächlich ordentlich erkämpft zu haben. Der Breaker Lucas Marie, der auch ein Paper mit Rachael Gunn geschrieben hat, wird von der australischen ABC folgendermaßen zitiert:
“There was an Oceania qualifier in which any B-boy or B-girl from Australia [or] New Zealand could enter, and that was in Sydney in October 2023,” he told ABC News.
“And leading up to that, there were a lot of other events in which breakers were competing. “She won those battles fair and square and won the qualification in Sydney. And it wasn’t really a surprise to anyone. She’s been fairly consistent, winning or coming second or third at a lot of breaking events in Australia for the last five to 10 years.”
Klingt eindeutig. Die Gegenstimmen, etwa der deutsche Breaking-Pionier Niels Robitzky im “Spiegel”, halten entgegen, dass dieses Qualifikationsturnier es unbekannten und weniger privilegierten Talenten nicht unbedingt leicht gemacht hat, teilzunehmen:
Der [Tanz-]Weltverband hat einerseits ein sehr undurchsichtiges Punktesystem zur Qualifikation geschaffen und andererseits Kontinentalmeisterschaften in Afrika, Europa, Asien, Amerika und Ozeanien organisiert. Hier konnten sich die Gewinner direkt einen Platz in Paris bei Olympia sichern. Aber um an diesen teilzunehmen, musste man auf eigene Kosten anreisen und übernachten, was in ärmeren Gegenden eine große Hürde ist. In Afrika gibt es zum Beispiel herausragende Tänzerinnen und Tänzer im Breaking. Besonders in Kamerun und im Senegal. Aber weil der Qualifikationswettbewerb für Afrika in letzter Sekunde nach Marokko verlegt wurde, haben viele daran gar nicht teilgenommen. Ozeanien ist riesig. Dass bei dem Qualifikationswettbewerb in Sydney niemand besser war als Raygun, heißt nicht, dass sie die beste Tänzerin aus ganz Ozeanien ist.
Auch das klingt für mich einleuchtend, aber nicht als Argument gegen Rachael Gunn, sondern eher gegen die sportliche Organisation einer so undergroundigen Disziplin wie Breakdance. Ich befürchte aber, dass es einfach der Realität des Sport nicht nur im Vereinswesen sondern auch im Kapitalismus entspricht.
Taugt Breakdance als Sport?
Dahinter steckt, soweit ich das sehe, eine größere Debatte, inwiefern Breaking sich überhaupt als olympische Sportart eignet. Es war in Paris das erste Mal überhaupt Teil der Olympischen Spiele und Los Angeles hat für 2028 bereits letztes Jahr dankend abgelehnt.
Ausgerechnet Planet Money hat dazu vergangene Woche eine hervorragende Episode veröffentlicht, in der sie (völlig unabhängig von Raygun) den langen Weg nachzeichnen, den Breaking nehmen musste, um überhaupt mal ein (in der Szene sehr umstrittenes) einheitliches Bewertungssystem zu bekommen, das nicht auf reiner Subjektivität beruht. Heute wird eine Performance nach fünf Kriterien beurteilt (Technik, Vokabular, Ausführung, Musikalität und Originalität). Hier stehen also sportliche Meriten relativ gleichberechtigt neben künstlerischen – es braucht aber auf jeden Fall beides, um gut zu sein. Bisher hat sich Breaking noch einem Punktesystem verweigert, in dem es für bestimmte Moves feste Punktzahlen gibt.
Denn, und das macht der Planet Money-Beitrag besonders gut klar, andere künstlerisch und kreativ geprägte Sportarten wie Synchronschwimmen und Eiskunstlauf sind diesen Weg gegangen, und es hat sie nachhaltig verändert. Sobald es ein Zahlensystem gibt, gibt es auch Wege, es auszunutzen. Die Wertungen, die man durch gezieltes Punktesammeln erzielen kann, lassen sich mit den künstlerischen Wertungen – die es auch im Synchronschwimmen zum Beispiel noch gibt – nicht mehr ausgleichen. Daher sind all diese Sportarten in den letzten Jahrzehnten deutlich athletischer geworden. Vielleicht besser vergleichbar für Wettkämpfe, aber schlecht für alle, die eine Sportart vor allem wegen ihrer kreativen Komponente geschätzt haben.
Merkwürdige Linienverläufe
Ob die “Versportung” von Breakdance also so eine gute Idee war, steht allgemein zur Debatte. Was mir im Diskurs um Raygun aber die meisten Kopfschmerzen bereitet, ist die merkwürdige Art, wie dort die Linien verlaufen. Denn die gleiche Seite, die die Seele des Breakdance als Underground-Kunstform ohne Sportverbände bewahren will, argumentiert damit, dass Rachael Gunn nicht athletisch genug performt und die Kunstform somit beschädigt hat. Obwohl genau die mangelnde Athletik sie ja knallhart aus dem Turnier gekegelt hat, das “versportete” System also funktioniert hat, wie es soll.
Ironischerweise ist genau diese Spannung Teil von Gunns akademischer Arbeit. Das Paper, das sie mit dem oben erwähnten Lucas Marie geschrieben hat spricht von den “Möglichkeiten und der Politik der sportification” speziell in der australischen Breaking-Szene. Zitat aus dem Abstract:
While some breakers see the Olympics as an opportunity and space for wider recognition, many have expressed concerns with the growing influence (and embrace) of transnational commercial organizations and institutional governing bodies in shaping and managing breaking’s future. Alongside concerns of an increasing sportification of breaking, this trajectory points towards an increasing loss of self-determination, agency and spontaneity for local Australian breakers (…). Australia’s breaking scene is marked by distinct, self-determined localized scenes separated from each other by the geographic expansiveness of this island-continent. Here, breaking is a space for those ‘othered’ by Australian institutions to express themselves and engage in new hierarchies of respect. We argue that breaking’s institutionalization via the Olympics will place breaking more firmly within this sporting nation’s hegemonic settler-colonial structures that rely upon racialized and gendered hierarchies. (Meine Hervorhebungen)
Es scheint mir also stark so, als würde die Debatte eigentlich entlang zwei separater Achsen geführt, die aber typischer Internet-Öffentlichkeit miteinander vermischt werden.
Hiphop-Alphabetisierung
Da ist einmal die Diskussion um Breaking als Sport versus Breaking als selbstbestimmte Ausdrucksform. Hier ist klar, auf welche Seite Rachael Gunn steht, und sie hat nach allem, was ich inzwischen erfahren konnte, nicht nur selbstverständlich das Recht dazu, sondern steht so auch in der Tradition des Breakdance als Kunstform außerhalb der Institutionen. Dass sie das Ansehen des Breakings durch ihren Auftritt beschädigt hat, halte ich für Quatsch.
Den Vergleich mit einer Breakdance-Sendung des ZDF von 1984 den Niels Robitzky im “Spiegel”-Interview bringt, nach der sich angeblich “niemand mehr getraut [hat], Breaking auf dem Dancefloor zu zeigen, weil die Sendung den Tanzstil peinlich gemacht hat”, finde ich sehr weit hergeholt. Denn: Aller Spott, den das Internet verlässlich ausgoss, richtete sich genau nicht gegen Breakdance als olympischen Sport, sondern nur gegen Gunn als Person. Mit anderen Worten: Das Publikum ist 40 Jahre nach der ZDF-Sendung Hiphop-alphabetisiert genug, um gutes von schlechtem Breaking zu unterscheiden.
Die andere, wahrscheinlich wichtigere, Diskussion ist die um Sichtbarkeit. Robitzky sagt weiter: “Jetzt ist überall in den sozialen Medien Breaking zu sehen – aber nur der eigenartige Auftritt von Raygun und nicht die Performances von Ami und Nicka, den beiden Finalistinnen, die wirklich herausragend getanzt haben.” Damit hat er Recht und ich kann den Frust derjenigen, die sich vielleicht seit Jahrzehnten für die Sichtbarkeit von Breaking einsetzen, verstehen.
Robitzky sagt weiter: “Tanz ist eine Körpersprache, und die des Breaking ist seit 50 Jahren gewachsen. Um mitreden zu können, muss man diese Körpersprache beherrschen, man muss gewissermaßen die Grammatik und das Vokabular kennen. Erst dann kann man etwas Neues hinzufügen.” Das kann man auch anders sehen, aber ich kann seine Haltung zumindest nachvollziehen.
Mehr Sensibilität
Es ist also die Frage, ob ein aus marginalisierter Kultur gewachsener, künstlerischer Sport, der zum ersten Mal auf diese Art auf der Weltbühne präsentiert wird, wirklich sofort auch Ikonoklast:innen braucht, die selbst tendenziell aus dem “Außen” stammen und allem Anschein nach mal zeigen wollen, dass es “auch anders geht”. Und damit ähnlich wie selbsternannte “white saviors” selbstverständlich viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Hier hätte man von Rachael Gunn mehr Sensibilität erwarten können, insbesondere in der Nachbetrachtung ihres Auftritts. Statt das Narrativ weiter um sich selbst und ihren individuellen Weg kreisen zu lassen, hätte sie ihren Fame mit ihren Konkurrentinnen teilen und im Sinne einer Ethik der Appropriation auf die Wurzeln ihres Sports verweisen können, mit dem sie sich ja bestens auskennt. Dass sie es nicht getan hat und sich stattdessen für ihren Auftritt hat feiern lassen, ist menschlich vielleicht verständlich, aber eben nicht sachdienlich. Das Gebot des Privilegien-Checkens endet halt leider nie, selbst wenn man gleichzeitig für sein Verhalten in der Luft zerrissen wird.
Nachtrag, 15.8.: Aja Romano hat auf Vox.com gestern nachmittag einen Artikel veröffentlicht, der gerade die Themen Qualifikationsprozess, Punktewertungen und Breaking-Szene in Australien noch einmal ziemlich genau unter die Lupe nimmt. Er behandelt auch das Thema, welche Absicht Raygun mit ihrer Technik eventuell verfolgt, zu der man sicher geteilter Meinung sein kann. Lohnt sich auf jeden Fall, ihn zu lesen. Auf diese Art von Analyse hatte ich die ganze Zeit noch gewartet.
Foto von Ilja Tulit auf Unsplash