Unser vernetztes Leben ist im Kino nur eine Randnotiz

© Concorde Filmverleih

The Company You Keep

In Robert Redfords neuem Film The Company you Keep kommt das Internet exakt viermal vor. Zweimal als lakonischer Kommentar auf unsere Zeit. Nachdem Shia LaBeoufs junger Journalist seine Ex-Flamme (Anna Kendrick) nach Informationen gefragt hat, sagt sie “Why don’t you go home and tweet about it?” Und als Robert Redford einen alten Weggefährten, der mittlerweile Collegeprofessor ist, fragt, wie seine Studenten und Studentinnen reagieren, wenn er Plädoyers für Freiheit und Aktivismus hält, sagt dieser, sinngemäß: “Sie hören aufmerksam zu, doch dann aktualisieren sie ihren Facebook-Status und alles ist vergessen.”

The Company You Keep ist durchzogen von ähnlichen Abgesängen auf das Jetzt und Beschwörungen des Damals. Die knapp Siebzigjährigen, die den einen Handlungsstrang des Politthrillers bevölkern, erweisen sich ein ums andere Mal als besser vernetzt und ideologisch wahrhaftiger als ihre Verfolger beim FBI – obwohl in ihrer Mitte ein Mord steht. In der Parallelhandlung entdeckt Shia LaBeouf, was harte Recherche der alten Schule bedeutet, nachdem zuvor mehrfach mehr oder weniger subtil darauf hingewiesen wird, dass der Journalismus im Sterben liegt. (Chefredakteur Stanley Tucci: “Ich musste gerade die ganze Sportabteilung feuern!”)

Google statt Telefonbuch

Im Rahmen von LaBeoufs Recherche finden auch die anderen zwei Internetnutzungen des Films statt. Einmal googelt der junge Besserwisser den Namen einer Figur, um deren Adresse zu erfahren, ein anderes Mal lässt er sich von Google Maps eine Route berechnen. Beides also Dinge, die er theoretisch auch mit nichtdigitalen Werkzeugen (Telefonbuch und Routenatlas) hätte erledigen können. Die Aussage scheint klar: Das Internet kann ein nützliches Werkzeug sein, ein wertvoller Beitrag zu unserer Kultur ist es nicht.

Nun mag The Company You Keep ein schlechtes Beispiel sein, weil das explizite Thema des Films die Aufarbeitung von Vergangenheit ist und seine Protagonisten in ebenjener leben. Doch fragen wir uns mal ernsthaft: Wann haben wir im Kino zuletzt einen Film gesehen, in dem das vernetzte Leben, das für viele Menschen Realität ist, tatsächlich eine Rolle gespielt hat? Ich rede eben nicht von Adressen oder Begriffen googeln, wie man es immer wieder sieht, wenn Charaktere mal einen Computer benutzen. Sondern von andauernder Kommunikation mit einem Haufen Menschen auf der ganzen Welt via Instant Messenger oder WhatsApp, von “Ich guck kurz in Wikipedia nach”, wenn man sich bei einer Sache nicht sicher ist (ich habe dafür den wunderbaren Begriff “wikifizieren” gelernt), von Neuigkeiten, die man über Facebook erfährt, von Skype-Unterhaltungen und Farmville, von Cloud Backups und Instagram-Fotos, Foursquare-Checkins und viraler Verbreitung von Blogposts und Katzenvideos.

(Dieses Blog heißt übrigens “Real Virtuality”, weil ich Virtualität eben für etwas völlig Reales halte, und nicht für etwas Ungreifbares, Flüchtiges, wie es Medien und Meinungsmacher immer wieder gerne behaupten.)

© Sony Pictures

Skyfall

Bildschirmleute sind langweilig

Der ideologische Impetus, den man im Film von Redford (*1936) und seinem Autor Lem Dobbs (*1959) spüren kann, kann nur ein Grund dafür sein, dass all die oben genannten Nichtigkeiten, die inzwischen unser Leben bestimmen, im Kino in der Regel nur eine Randnotiz sind. Der andere Grund ist, dass das Internet so erschreckend un-cinematisch ist. Menschen, die über längere Zeiträume vor Computern sitzen, abgefilmte Bildschirme – es gibt kaum etwas Langweiligeres. Deswegen denken sich Filmemacher als Repräsentation der vernetzten Welt noch immer visuelle Sperenzchen aus, von Kommandozentralen voller blinkender Lichter und Gizmos wie Ben Whishaws peinlicher digitaler Wollknäuel-Entwirrung in Skyfall bis hin zu vollsimulierten virtuellen Welten in den diversen Ablegern von Tron. Alternativ lassen sich Filme über die Akteure des Internets machen, von The Social Network und The Fifth Estate bis hin zu The Internship.

Jochen Jan Distelmeyer stellte 2007 schon Ähnliches in einem “epd Film”-Artikel über Handys im Film fest: “Wer […] vom klassischen Horror der Verlorenheit und des Ausgeliefertseins erzählen will, muss nun in Drehbüchern Handys verschwinden lassen, Akkus den Saft abdrehen oder – besonders beliebt – irgendwen ‘Scheiße, kein Netz!’ rufen lassen.”

Handys sind inzwischen im Kino allgegenwärtig geworden und werden fest in die Handlung mit eingebacken. War das Jederzeit-Erreichbar-Sein früher ein Graus für Drehbuchautoren, die Charaktere im Unwissen übereinander lassen wollten, ist heute die Handykultur, inklusive Nebeneffekten wie der Tatsache, dass jeder Mensch immer einen Fotoapparat dabei hat, fest in Krimis, Thrillern, RomComs und Horrorfilmen verankert und wird sehr kreativ ausgeschöpft. Ein Film wie Rodrigo Cortés’ Buried handelt auch von einem Mann, der 90 Minuten lang telefoniert. Im Finale von Chronicle entsteht der Wow-Faktor durch das Nutzen der unzähligen Handykameras, die auf den Showdown gerichtet sind.

Mobiltelefone gibt es jetzt schon eine ganze Weile. Braucht das Kino einfach nur noch ein bisschen Zeit, um die alltägliche Internetvernetztheit in seine Plots zu integrieren? Oder werden wir noch lange mit Movie OS-Varianten leben müssen?

Das Fernsehen als Pionier

Es geht auch anders: Distelmeyer betont in seinem Handyartikel, dass das Fernsehen als Pionier in der Ubiquitarisierung (hui, großes Wort) eine wichtige Rolle gespielt hat. Serien wie “The Wire” und “24” hätten geholfen, Mobiltelefone zu Playern statt Hindernissen beim Plotten von spannenden Geschichten zu machen. “’24’ könnte ohne Mobiltelefon nicht existieren, sein Tempo baut auf die von Marshall McLuhan postulierte Weltvernetzung (und hat gleichzeitig Angst davor) und gibt ihr mit dem Handy ihr Symbol beziehungsweise ihre Waffe”, schreibt Distelmeyer.

Mike Case hat in seinem Artikel “House of SIM Cards” etwas Ähnliches für das Schreiben von Textnachrichten und anderen Smartphone-Aktionen in “House of Cards” festgestellt:

These people — politicians, journalists, artists — are tied to their mobile devices for work and play, and the show doesn’t try to gloss over it. No generic devices, no imaginary apps. These are iPhones and BlackBerrys and the characters use them just as incessantly as us. […] Technology drives the plot in House of Cards, bringing the characters together when they couldn’t otherwise be, allowing them to communicate in dangerously casual ways, and reinforcing hierarchy in the setting.

© CBS

“Community”

Hashtags als Nebenbei-Gags

Und tatsächlich scheint das Fernsehen dem Kino hier ein bisschen voraus zu sein. Auch Comedy-Serien über meine Generation, wie “The Big Bang Theory” oder “New Girl” haben – bei aller komödiantischen Übertreibung – das Internet fest in die Leben ihrer Charaktere integriert. Manchmal als Motor des Plots, wie wenn Sheldon “Words with Frieds” gegen Stephen Hawking spielt, manchmal aber auch nur als Nebensächlichkeit, etwa wenn Nick durch typische Online-Prokrastination davon abgehalten wird, seinen Zombieroman zu schreiben. Den Comedy-Orden in dieser Hinsicht hat sicherlich “Community” verdient, wo sogar Hashtags in Nebenbei-Gags verbraten werden. Eine wunderbar liebenswerte Karikatur eines modernen Anhängers von Internet-Eitelkeit findet sich auch bei “Parks and Recreation” – in Gestalt von Aziz Ansaris Tom Haverford, der eine Technik-Krise bekommt, nachdem ihm ein Richter das Handy wegnimmt, weil Tom sogar seinen eigenen Autounfall live per Twitter kommentiert hat.

Neal Stephenson hat in seinem jüngsten Roman “REAMDE” ausgetestet, wie das Internet einen großen Teil einer Thrillerhandlung beherrschen kann. Der Roman spielt zum Teil in einem Online-Rollenspiel, doch das ist beinahe nur eine Nebensache für einen Plot, in dem die ständige Vernetzung der Charaktere untereinander eine entscheidende Rolle spielt. Die Hauptfiguren werden im Laufe der Ereignisse von den USA nach China und zurück gespült, es fehlt “REAMDE” nicht an kinetischer Energie in der stofflichen Welt, aber dennoch spielen viele Szenen in Internet-Cafés oder an Laptops. “REAMDE” wird, wen wundert’s, für’s Fernsehen adaptiert (zum Glück, der Schinken hat 1000 Seiten).

“Throughout House of Cards, we are reminded that how we communicate and how we consume information is part of who we are”, heißt es zum Abschluss in Cases Artikel. Es wird Zeit, dass diese Weisheit auch im Kino Fuß fasst. Wir brauchen Filme, in denen das Internet genau die Rolle spielt, die es auch in unserem Leben inzwischen spielt. Und nicht nur Mittel zum Zweck für abfällige Bemerkungen über die schneller und (angeblich) dümmer werdende Welt ist. Nur ob Shia LaBeouf dafür als Gallionsfigur taugt, das ist fraglich.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Close up – Juli 2013

In der aktuellen “Close up”-Sendung, die gestern abend in ZDFkultur Premiere hatte, habe ich mal wieder alle Beiträge gestaltet. Wer also meine Einschätzung zu Lone Ranger und Frances Ha sehen will, und interessiert daran ist, was Sung-Hyung Cho über Detlev Bucks Wir können auch anders sagt, sollte sich die Sendung anschauen. Hier geht’s direkt zur Mediathek. Alternativ wird die Sendung am Dienstag um 21.45 Uhr in 3sat wiederholt.

Das beste an Wolverine sind die Frauen

© Twentieth Century Fox

Hasst wirklich jeder X-Men Origins: Wolverine? Als ich den Film im Rahmen einer privaten X-Men-Retrospektive vor einem guten Jahr nachgeholt habe, hatte ich meinen Spaß. Wesentlich mehr Spaß jedenfalls als mit X-Men: The Last Stand mit seinen konfusen Plotlines und seinem apokalyptischen-aber-dann-doch-nicht Ende. Origins ist ein B-Film in Geist und Umsetzung, und genau als solcher hat er auch Spaß gemacht: Plot, Look, Spezialeffekte und Charaktere hätten direkt aus einer “A-Team”- oder “MacGyver”-Episode stammen können, Logan mit Zigarre als Hannibal mittendrin. Boom, Baby!

Ich habe die “X-Men”-Comics nie gelesen und spüre deswegen nicht den gleichen Schmerz, den Fans empfinden, wenn ihre ikonischen Charaktere und Momente auf der Leinwand anders interpretiert werden, als in ihrer kollektiven Imagination. Trotzdem hatte ich nicht den Eindruck, dass der neue James-Mangold-Film The Wolverine (dt. Titel leider immer noch nicht Der Vielfraß, sondern Wolverine: Weg des Kriegers), der ja alles richten sollte, was Origins versaut hat, dem SNIKT-Mann wirklich einen so neuen Drall geben konnte. Logan ist wegen seiner Unsterblichkeit und den Qualen, die er dafür erleiden musste, eine zutiefst tragische Figur. Es scheint aber üblich zu sein, diese Tragik immer nur kurz anklingen zu lassen und sie ratz-fatz wieder wegzupacken und gegen sprücheklopfe Arschtreterei und brüllende Tötungsdelikte einzutauschen, sobald man kann. James Mangolds Wolverine ist da keine Ausnahme.

Der tragische Grizzly

Logan sieht alle um ihn herum sterben, die ihm etwas bedeuten – und wenn er doch mal ein Leben retten kann, scheint es später zurück zu kommen, um ihn heimzusuchen. Zum Beispiel, wenn er eigentlich als Grizzly in den Wäldern leben will, und dann doch nach Japan fliegt, um einem ehemaligen Soldaten Lebewohl zu sagen, dem er während des – auf der Leinwand beeindruckend umgesetzten – nuklearen Angriffs auf Nagasaki in Sicherheit bringen konnte. Der sterbenskranke Yashida macht Logan das Angebot, ihn sterblich zu machen, damit er selbst länger leben kann. Und weil er nicht auf eine Antwort warten will, lässt er ihn gleich entsprechend behandeln. Doch kommt Logan jemals auf die Idee, diese Option tatsächlich als Glücksfall in Betracht zu ziehen – schließlich ist seine Unsterblichkeit ja das, womit er immer ringt? Nein, er sniktet und bubt lieber um sich wie immer und hat – im Gegensatz zu vielen anderen Superhelden – auch kein Problem damit, seine Gegner schließlich zu töten.

Ich lese aus Kommentaren immer wieder heraus, dass das der Grund für Wolverines Beliebtheit ist. Logan der Badass, der sein Gewissen je nach Belieben ein- (Bedürftigen helfen) und ausschaltet (Bösewichter umbringen) und wegen seiner Unsterblichkeit an keine Regeln gebunden ist. Klar, das ist der Traum jedes männlichen Mittelklasse-Kellerkinds. Und Hugh Jackman ist mit seinem Sixpack und seinem kernigen Aussehen sicherlich die perfekte Besetzung dafür. Doch genau deswegen finde ich die übersteigerte Origins-Interpretation, Wolverine als Pulp-Hero mit Fuck-You-Attitüde, wesentlich sympathischer und ehrlicher, als eine dann doch nur halbherzig durchgehaltene Variante von Logan als weltmüdem Pseudo-Samurai.

© Twentieth Century Fox

Es bechdelt

Umso erstaunlicher ist es, dass The Wolverine mit seinem Beefcacke-Helden im Zentrum etwas gelingt, an dem alle anderen Sommerblockbuster dieses Jahr bisher gescheitert sind: Er besteht den Bechdel-Test mit Bravour. Um den Vielfraß herum kreisen nicht eine, sondern gleich vier weibliche Charaktere mit Namen, die allesamt unterschiedliche Funktionen in der Dramaturgie des Films erfüllen, und durchaus auch Beziehungen zueinander haben, die nicht nur durch das Auftauchen eines Mannes bedingt sind.

Die konservativste Figur, leider eine Damsel in Distress, dürfte Tao Okamotos Mariko sein, die Enkelin des kranken Yashida. Sie verbringt große Teile des Films damit, von Wolverine gerettet und dann von seinen Gegenspielern wieder entführt zu werden. Zwischendurch (SPOILER BIS ZUM ENDE DES ABSATZES) kocht sie Logan stärkendes Essen und schläft mit ihm, damit er sowohl körperlich und seelisch ein bisschen geheilt wird. Der Lichtblick besteht darin, dass sie sich am Ende des Films etscheidet, ihr Erbe anzutreten, den Konzern ihres Großvaters zu leiten und somit ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Immerhin: Eine Glass Ceiling wurde durchbrochen.

Famke Janssen kehrt als Jean Grey zurück, die aber leider (noch) nur als Traumfigur auftauchen darf und Logan von Zeit zu Zeit heimsucht. Als Projektionsfläche für die einzig wahre Liebe, die Logan je kannte, ist sie ebenfalls nicht unbedingt eine selbstbestimmte Figur, aber man hat doch immerhin den Eindruck, dass die Kombination aus Drehbuch und Janssens Darstellung dem Charakter genug Tiefe gibt, um ihn zu mehr als einer seufzenden Stimme im Wind zu machen. Selbst wenn man keinen der anderen X-Men-Filme gesehen hat – man spürt, dass Jean Grey eine Frau mit eigenem Kopf und eigenen Zielen war/ist, die nicht nur dafür erdacht wurde, an der Seite eines Mannes durch die Welt zu gehen.

© Twentieth Century Fox

Ein weiblicher Bösewicht

Eins der Probleme von The Wolverine ist, dass Logan eigentlich keinen richtigen Gegenpart hat, mit dem er sich messen muss. Sein Gegner ist ein schwer durchdringbares Netz aus japanischen Familienbeziehungen und kriminellen Vereinigungen, das sich nur punktuell in direkten Konfrontationen manifestiert. Als Comic-Bösewicht am sichtbarsten ist Svetlana Khodchenkova als Viper, eine Mutantin mit giftigem Innenleben, die sich als Yashidas Ärztin ausgibt. Ihre Existenz als Gegenspielerin an sich ist schon bemerkenswert. Wann gab es das letzte Mal einen weibliche Villain in einer Comicverfilmung? Noch dazu eine Frau, die nicht wie Sharon Stone in Catwoman oder Uma Thurman in Batman Forever hauptsächlich mit den “Waffen der Frau” kämpft, sondern sogar Wissenschaftlerin ist? Wer jetzt Mystique sagt, dem möchte ich entgegenhalten, dass Mystique ja eher so eine Art Bösewicht wider Willen ist, aus enttäuschtem Stolz und falscher Loyalität. Viper jedoch ist Bösewicht aus Leidenschaft, mit allem was dazu gehört, und Khodchenkova spielt Viper so over-the-top, wie man es sich nur wünschen kann.

Alle drei kommen jedoch nicht gegen Rila Fukushimas Yukio an. Die aparte Frau mit den feuerroten Haaren und dem deutlichen Akzent ist von Anfang an die stärkste Präsenz des Films. Sie dreht den Spieß – oder bessser das messerscharfe Schwert – rum, stellt sich Logan als sein Bodyguard vor und bleibt ihm bis zum Schluss lediglich als Freundin und alte Kämpin verbunden – obwohl die Versuchung, eine Dreiecksromanze ins Drehbuch zu schreiben, sicherlich groß war. Auch der umgekehrte Weg wird nicht gegangen: Yukio ist durchaus kein asexuelles Wesen. Sie hat ihre eigenen Gründe, um Mariko zu kämpfen, weil sie so eine Art Adoptivschwester ist, und erlebt ihren eigenen Storyarc relativ unabhängig von dem behaarten Muskelpaket neben ihr. Es bleibt zu hoffen, dass man sowohl die Figur Yukio als auch die Schauspielerin Rila Fukushima in Zukunft noch öfter zu sehen bekommt, wobei für ersteres die Chancen wahrscheinlich eher schlecht stehen.

Im Zentrum von Wolverine steht immer noch ein Mann und bis wir den ersten Superheldinnen-Film bekommen, wird es wohl auch weiterhin dauern. Aber immerhin wirkt der melodramatisch angelegte und dann kaum ausgespielte zentrale Konflikt dieses Mannes fast schon ein bisschen blass gegen die Power, die all diese starken Frauen um ihn herum ausstrahlen. Und damit ist The Wolverine dann in der Summe doch deutlich besser als Origins. Ihr dürft die Heugabeln wieder wegpacken.


Wolverine – Weg des Kriegers ist am 25. Juli in den deutschen Kinos gestartet.

Drei Gedanken zu Guillermo del Toros Pacific Rim

Courtesy of Warner Bros. Pictures

Dies ist ein Gastbeitrag von meinem persönlichen Guillermo-del-Toro-Experten Martin Urschel. Ich mochte Pacific Rim aber auch.

Als ich den ersten Trailer zu Pacific Rim gesehen habe, war ich mir nicht sicher, ob das Experiment funktionieren würde, so eine Geschichte für ein internationales Massenpublikum zu erzählen: Riesige Mecha-Kampfmaschinen werden von Menschen aus allen Ecken der Welt in den Kampf gegen außerirdische Riesenungeheuer aus einer pazifischen Tiefseespalte geführt. Im Angesicht der Monster haben die Menschen in Pacific Rim ihre nationalen Zwistigkeiten beiseitegelegt. Ein friedvoller Schulterschluss der Nationen, um die gemeinsamen Probleme mit gebündelter Kraft anzugehen. Hier kämpfen die Menschen einmal zusammen gegen Monster, statt gegeneinander.

Diese enthusiastische und sympathische Grundidee liegt Guillermo del Toros neuem Film zugrunde. An den Kinokassen hatte der Film es schwer, nicht zuletzt weil er mutig war, wo die meisten großen Studio-Filme der letzten Jahre sich darauf verlegt haben, bereits etablierte Marken immer neu zu verwursten oder bekannte Bücher zu adaptieren. Stattdessen wählte del Toros Drehbuchautor Travis Beacham ein im Westen kaum bekanntes asiatisches Genre, um seine Geschichte zu erzählen.

1. Monster sind immer gut

Riesen-Monster gegen Riesen-Roboter – heißt das Godzilla gegen Transformers? Nein. Mit Transformers hat der Film nichts zu tun. Weder geht es um Autos, die sich in Robotor verwandeln, noch hat der Film visuell irgendeine Ähnlichkeit zu Michael Bays hyperventilierender Kinderspielzeug-Trilogie. Die Mechas in Pacific Rim werden von Piloten gesteuert, sind also eigentlich nicht mal Roboter. Und mit Godzilla teilt der Film nur seine Nähe zum japanischen Kaiju-Filmgenre. Godzilla ist das berühmteste dieser japanischen Riesenviecher, die Städte zertrampeln, aber es gibt zahlreiche Varianten. Das „Kaiju vs. Mecha“-Genre ist sogar noch einmal etwas eigenes. Dazu zählen solche Kult-Zeichentrickserien wie “Gundam” oder das kultig-abstrakte Genre-Endspiel “Neon Genesis Evangelion”. Wenn del Toro und Beacham dieses Genre als amerikanischen Live-Action-Blockbuster neuerfinden, dann ist das zumindest mutig.

Guillermo del Toros Liebe für Monster ist hinlänglich bekannt. Jeder seiner Filme ist voller höchst sonderbarer Kreaturen und oft benehmen sich die Menschen weit monströser als die Monster. Seine Monster zeichnen sich aus durch ungewöhnliche Anatomie – selbst für Monster, und häufig sind sie, wie Hellboy, menschlicher als alle Menschen. Von den Farbpaletten bis zu der symbolistischen Erzählweise sind die Filme sorgfältig durchdacht. So ist es auch bei Pacific Rim. Die Kaijus ähneln nicht bloß Tieren oder Karikaturen von hässlichen Menschen, sie sind majestätische Wesen, die aussehen wie bislang unbekannte Tiefseeungeheuer.

Das Schöne an Monstern im Film ist, dass sie den Filmemachern so viele Möglichkeiten bieten. Visuell ist fast alles möglich und oft genug sind die Monster zu Ikonen gerworden – man denke nur an Boris Karloffs Monster in Frankenstein. Zudem bieten Monster eine Gelegenheit eine Abstraktion in den Film einzuführen. Ohne den Zuschauer von vorneherin zu verschrecken, können Filmemacher – und Schriftsteller – durch Monstergeschichten über das Verdrängte einer Gesellschaft sprechen und so subversive Argumentationen in die Mitte der Gesellschaft bringen. In Pacific Rim stehen die Riesenmonster in Verbindung mit dem Ozonloch. Die Monster „symbolisieren“ sicher nicht direkt oder eindeutig die globale Erwärmung, aber sie stehen innerhalb der Filmwelt ein für genau die Art von Herausforderung, der wir als Menschen in der Umwelt begegnen. Die Monster haben hier die Kraft und die Reichweite einer Umweltkatastrophe, eines Tsunamis oder eines atomaren GAUs. Wesentliche Durchbrüche in der Handlung werden konsequenterweise von Wissenschaftlern und nicht von den kämpferischen Hauptfiguren gemacht.

Dass ein mexikanischer Regisseur ein ur-japanisches Filmgenre für ein Weltpublikum entdeckt, passt insofern, als es auf der Erzählebene genau die Art von internationaler Zusammenarbeit verkörpert, um die es im Film geht. Allerdings macht das Genre den Film auch schwer vermarktbar. Anders als die Transformers, die als Plastikspielzeuge schon lange weithin bekannt sind, musste Pacific Rim zunächst ein neues Genre etablieren – freilich mit Action-, Science Fiction- und Horror-Elementen durchsetzt. Ohne wirkliche Stars ist diese Aufgabe doppelt schwierig, trotz zahlreicher bekannter Gesichter aus Kult-Fernsehserien wie “The Wire” oder “Sons of Anarchy”.

Courtesy of Warner Bros. Pictures

2. „Awesome“ reicht nicht.

So sympathisch die Friedensbotschaft von Pacific Rim ist, so überwältigend gigantomanisch ist das Monster- und Mecha-Design geraten. Wir bewegen uns durch spektakuläre Ruinen der menschlichen Zivilisation, sehen riesige Maschinen im Nebel am Strand zusammenbrechen. Einmal, das sieht man schon im Trailer, schleift ein Mecha ein langes Schiff als Keule in den Kampf. „2500 tons of awesome“, nennt ein Techniker den amerikanischen Mecha die gigantischen Kaijus [Danke an JMK in den Kommentaren -AG]. Zurecht, „awesome“ sind die Maschinen, die Monster und ihre Zusammenstöße allermal.

Aber die schönste Actionszene, die wunderbarsten Designs und Bilder bedeuten nichts, wenn sie nicht eingebunden sind in eine menschliche Bezugsebene. Darin war del Toro immer gut: Das Gespenst in The Devil’s Backbone ist das Zentrum einer Geschichte über Jungs im Waisenhaus, die den Tod eines Freundes aufklären, gleichzeitig ist es Teil einer traurigen Liebesgeschichte und bietet eine poetische Metapher auf die Opfer des spanischen Faschismus. Zum Ende des Films wissen wir, wie tief das Gespenst in die Beziehungen zwischen den Menschen verstrickt ist, darum wirkt die letzte Szene des Films, in der alle Geschichten durch eine einzelne Tat zueinander finden, emotional so stark.

Pacific Rim ist anders. Der Held des Films ist ganz typisch: blond, männlich, heterosexuell – aber eigentlich scheint sich der Film kaum für ihn zu interessieren. Wir erfahren wenig über seine Vergangenheit und über die Good Looks hinaus erhält seine Figur kaum Tiefe oder Kontrast. Viel interessanter und sympathischer ist Mako Mori, die japanische Co-Pilotin des Helden. Ihre Kindheits-Erinnerungen werden im Lauf des Films schrittweise enthüllt. Die zwischenmenschlichen Konflikte des Films laufen hauptsächlich zwischen ihr und ihrem Retter und Ziehvater Stacker Pentecost (Idris Elba). Allerdings reichen die Rückblenden, in denen die kleine Mako in den Ruinen ihrer Heimatstadt steht und weint, nicht, um uns das Trauma des Mädchens in der Seele der Frau zu erschließen. Hat sie ihre Eltern sterben sehen? Das wäre ein emotional starker Grund, gegen die Kaiju kämpfen zu wollen. Wir sehen es jedoch nicht, obwohl sonst selbst Disneyfilme gerne eine herzzerreißende Todesszene der Eltern als emotionalen Anker einbauen.

In jedem Fall leidet die Dramaturgie darunter, dass die menschlichen Geschichten vergraben werden unter lauter Exposition, die die erste Hälfte von Pacific Rim dominiert. Eine lange Voice-Over-Erklärszene eröffnet den Film, danach geht es ohne Pausen weiter bis weit in den zweiten Akt. Szenen, in denen eine Figur zur Ruhe kommt und über ihre Situation nachdenkt und so dem Zuschauer die Gelegenheit gibt, Mitgefühl zu entwickeln, fehlen. Der Film bis dahin wirkt überladen, holprig und in die Länge gezogen. Durch eine bessere Balance aus Charakter- und Actionszenen, sowie unauffälliger verarbeitete Exposition hätte sich das vermeiden lassen.

Schließlich schafft Pacific Rim es aber doch noch, bis zum Finale genug emotionale Bindungen zwischen den Figuren zu etablieren und die Situation hinreichend gefährlich zu machen. Die letzte spektakuläre Unterwasser-Prügelszene baut große Spannung auf, reißt endlich emotional mit und liefert ein befriedigendes Ende. Wie viel schöner hätte das alles noch sein können, wenn die Handlung des Films einfach etwas später eingesetzt hätte und wir uns so manches vom Beginn des Films hätten sparen können.

Courtesy of Warner Bros. Pictures

3. Das Ende eines langen Weges und vielleicht ein Neuanfang für del Toro

Guillermo del Toros Filmographie hat zwei deutliche Tendenzen. Zum einen die persönlicheren, kleinen Filme, die er häufig in spanisch dreht – von The Devil’s Backbone bis Pans Labyrinth, zum anderen die amerikanischen Blockbuster, beginnend mit Mimic und Blade II. Mit den Hellboy-Filmen hat er zwei Filme vorgelegt, die diese beiden Tendenzen mal mehr, mal weniger gelungen zusammenführen. Doch alle Filme waren vergleichsweise kleine Produktionen. Mit Pacific Rim steht del Toro erstmals ein Blockbuster-Budget zur Verfügung. Der Druck dürfte sehr hoch sein, das Budget wieder einzuspielen, selbst wenn das produzierende Studio Legendary sich anscheinend in einer glücklichen finanziellen Lage befindet.

Der Druck ist umso größer, als del Toros Vorgeschichte zu Pacific Rim voller unrealisierter Projekte ist. Nachdem seine Adaption von Tolkiens The Hobbit aufgrund der Pleite von MGM monatelang auf Eis lag, verließ der Mexikaner das prestigereiche Projekt, an dem er mehrere Jahre lang gearbeitet hatte. Als schließlich Peter Jackson als Regisseur übernahm, war del Toro bereits über beide Ohren ins nächste Herzensprojekt verstrickt: Die Lovecraft-Adaption At the Mountains of Madness über eine Expedition, die am Südpol gigantische Tentakelmonster entdeckt. Zehn Jahre lang hatte del Toro das Drehbuch bereits entwickelt. Die Monsterdesigns stammten von einigen der avantgardistischsten Monsterdesigner. Wiederum zerfiel das Projekt kurz vor Drehbeginn. Universal war das Risiko zu groß, einen Horrorfilm ohne Lovestory oder Happy End mit 150 Millionen Dollar zu finanzieren. Del Toro hatte nun seit fast fünf Jahren keinen Film mehr herausgebracht, obwohl er ständig neue Projekte angekündigt hatte.

Wäre Pacific Rim ein gigantischer Erfolg geworden, so unwahrscheinlich das ob des Genres und der Besetzung erscheint, dann hätten sich für del Toro zahlreiche Türen geöffnet. Einige lange schon ausstehende Projekte wie The Left Hand of Darkness, eine Adaption des “Grafen von Monte Christo” in einem surrealen Western-Setting, oder auch eine auf die Literaturvorlage fixierte Adaption von “Frankenstein” wären möglich geworden. Aber auch die beiden Fortsetzungen von Pacific Rim oder der dritte apokalyptische Hellboy waren denkbare Möglichkeiten. Der Film hat nun, wie erwartet, international größeren Erfolg als in den USA gehabt und dürfte wohl auch sein Produktionsbudget wieder einspielen. Ob das jedoch reicht, um del Toro als Regisseur zu festigen, der aus großen Budgets auch große Erfolge machen kann, erscheint fraglich.

In Pacific Rim zeigt sich das größere Budget in den imposanten, liebevoll ausgestalteter Sets, den zahlreichen detaillierten und beeindruckenden CGI-Effekten und der Vielzahl verschiedener Orte. Allerdings, auch wenn Mako Moris gebrochenes Herz sich symbolistisch in dem roten Schuh spiegelt, den Stacker für sie aufbewahrt hat, auch wenn viele Orte unterbrochene Kreisformen enthalten – der Film hat deutlich weniger „poetische“ Momente als noch del Toros letzter Film Hellboy II. Die kleinen, verzauberten Alltagsmomente, wenn Abe und Hellboy zusammen Bier trinken, weil sie beide Liebeskummer haben, vermisst man in Pacific Rim. Es fehlt die Leichtigkeit, auch der Humor.

Einzig der wunderbare Ron Perlman, del Toro-Veteran der ersten Stunde, lässt den Esprit früherer Filme in seiner Figur aufleben, einem schrägen Dealer in Hongkong. Hier finden sich typische Motive früherer Filme wieder – Perlmans extravagante, barocke Kleider, Käfer und tote Tiere in bernsteinfarbener Konservierflüssigkeit.

Kommerz, Kitsch und Kunst fließen in Pacific Rim fortwährend ineinander. Es wird interessant sein, zu beobachten, in welche Richtung del Toro seine immer wiederkehrenden Themen und Motivketten nun entwickelt. Als nächstes stehen ein Geisterhaus-Film, Crimson Peak und die Vampir-Fernsehserie “The Strain” an, basierend auf del Toros eigenem Roman.

Sicherlich wird es auch weiterhin um Monster gehen und um die Ursachen von Gewalt zwischen Menschen, um die Chancen von Vergebung und die Suche nach einer friedvollen Art zu leben, wie wir sie bei Hellboy gesehen haben, bei Pans Labyrinth und inmitten von Regen und Donner auch im ersten westlichen Kaiju-vs.-Mechas-Realfilm.

Martin Urschel ist Diplom-Mediendramaturg und Filmwissenschaftler.

Quotes of Quotes (XIV) – The Russos on Captain America

There’s a significant shift in the universe at the end of this movie. (…) I mean, this movie draws upon The French Connection and The Conversation and Three Days of the Condor and all of these ’70s thrillers in a way that there is paranoia and mistrust at the heart of the movie. (…) The movie was shot largely in a very verité style, which is unique for Marvel’s movies. They really embraced the approach to it, and it’s a very experimental approach. (…) It’s energetic, but we also like to track the action. We really want people to understand what’s going on from beat to beat. The characters move very quickly because they are superheroes and we really wanted to convey that. We didn’t want it to feel like Bourne.
– Anthony und Joe Russo über Captain America: The Winter Soldier

Es dauert noch fast ein ganzes Jahr, bis Captain America: The Winter Soldier am 1. Mai 2014 ins Kino kommt, aber die Regisseure Anthony und Joe Russo haben “/film” schon ein Interview gegeben, in dem sie einiges über Stil und Ziel des Films verraten. Mal ganz abgesehen von der ersten Aussage mit dem “significant shift” – was für mich vor allem eine Andeutung in Richtung Universum-Öffnung zu sein scheint, ist es doch spannend, wieviel Wert sie darauf legen, dass sie vom traditionellen Superhelden-Filmmodell wegwollen, hin zu anderen Filmgenres, deren Protagonisten nunmal Supermenschen sind. Falls es Marvel nach ihrem letzten Coup, dem ersten Shared Universe der Filmgeschichte, auch noch gelingen sollte, das formulaische Gefühl der Comicfilme zu durchbrechen – was eins der größten Probleme der momentanen Blockbuster-Filmlandschaft ist – kann man ihnen wirklich eine Art Krone aufsetzen. Ich bin gespannt.

Ist schon wieder eine neue Version verfügbar?

Norther Winslow: I’ve been working on this poem for 12 years.
Young Ed Bloom: Really?
Norther Winslow: There’s a lot of expectation. I don’t wanna disappoint my fans.
Young Ed Bloom: May I? [Edward reads the poem on the notebook] The grass so green. Skies so blue. Spectre is really great!
Young Ed Bloom: It’s only three lines long.
Norther Winslow: This is why you should never show a work in progress.
Big Fish

Ich halte Dirk von Gehlen, ohne ihn jemals persönlich getroffen zu haben, für einen klugen und sympathischen Menschen. Sein erstes Buch Mashup mochte ich, weil es die gleichen Qualitäten aufweist wie der Rest seiner Texte. Sie sind streitbar, aber nicht polemisch um der Agitation willen; sie haben relativ wenig Ego und stützen sich auf die breiten Schultern der Menschen die vorher über das Thema geforscht haben; und sie finden eine gute Balance im Ton, so dass man sie ernst nehmen kann, ohne dabei auszutrocknen.

Deswegen habe ich sofort zwölf zukünftige Euros auf den Tisch gelegt, als Dirk ein neues Buchprojekt ankündigte. Zufällig war ich sogar der erste, der das getan hat, weshalb mein Foto jetzt in der gedruckten Version des Buchs zu sehen ist, obwohl ich diese nicht einmal besitze (ich habe nur ein eBook). Ich stehe also hinter und in dem Projekt, das den Titel Eine neue Version ist verfügbar trägt. Trotzdem kann ich nicht sagen, dass sich meine Begeisterung über Mashup wiederholt hat.

Thesen und Metaphern

Dirks These ist relativ einfach, weshalb auch das Buch nicht sehr umfangreich geworden ist, und um sie darzustellen, wendet er die bereits in Mashup bewährte Mischung aus essayistischen Kapiteln und Kurzinterviews an. Sie lautet: Kultur verflüssigt sich durch die Digitalisierung, daher sollte man anfangen sie in Versionen zu denken, wie Software. Das Buch verwendet zurecht einige Zeit darauf, die Metaphern nebeneinander aufzustellen und zu vergleichen, und argumentiert schließlich recht schlüssig, dass Wassermetaphern besser taugen, um das digitale Zeitalter zu beschreiben, als die gerne genutzten von Räumen und Straßen. Daten umgeben uns überall, und je stärker die Digitalisierung in den Alltag eindringt, umso mehr “schmelzt” sie zuvor feste Strukturen – und es bedarf gehörigen Aufwands, um sie gegen den Kraft der Schmelze zusammenzuhalten.

Die Konsequenz daraus: “Everything that can be Software, will be Software”. Wenn sich Kultur verflüssigt, wird sie zwangsläufig in Versionen existieren, im günstigsten Fall exakt archiviert und datiert, wie das in der History einer Wikipedia-Seite der Fall ist. Praktische Beispiele, in denen sich diese Tatsache manifestiert, sind Bewegungen wie “Liquid Democracy” und “Github”, in denen flüssige politische Prozesse sichtbar gemacht und gemanagt werden, sowie eine Bewegung weg von der Präsentation eines “fertigen” Kulturerzeugnisses hin zu Kultur als niemals abgeschlossenem Prozess.

Dirk von Gehlen hat seine These zum Programm gemacht und sein Buch bereits während der Entstehung mit seinen Crowdfundern geteilt. Unlektorierte Kapitel gab es ebenso per Mail wie eine Einladung zu einer Konferenz und zu einer Session, in der man dem Autor beim Schreiben live über die Schulter gucken konnte.

Können und Wollen

Meinem größten Problem mit Dirks Logik nimmt er in seinem Nachwort vorweg, das er Hinblick auf die Reaktionen geschrieben hat, die ihm schon während des Schreibens begegneten. Auf den Einwand: Jedem das seine, ich will das aber nicht, antwortet er: “Mir geht es im ersten Schritt gar nicht um das Wollen. Mir geht es um das Können.” Mit anderen Worten: Dirk von Gehlen will niemandem vorschreiben, sich der Verflüssigung zu unterwerfen. Und auch andere Einwände wie “Das interessiert doch keinen” und “Das Endprodukt wird entwertet” kontert er recht gelungen.

Dennoch: In einem Satz wie “Everything that can be software, will be software” steckt ein gewisser Imperativ. Und es wird deutlich, das Dirk die verflüssigte, versionierte Form von Kultur gegenüber der starren, scheinbar abgeschlossenen für überlegen hält. Also steht das Können zwar am Anfang, das Wollen müssen scheint sich aber automatisch daraus zu ergeben. Und das ist der Punkt, gegen den ich mich sträube. Wahrscheinlich ist es ein sehr persönliches Sträuben, aber ich will es dennoch versuchen, zu erklären.

Man könnte argumentieren, dass hier evtl. der gleiche Zirkelschluss entsteht wie bei der leidigen Debatte “Muss ich auf Facebook sein?”, die ich immer wieder führen muss. Niemand muss auf Facebook sein, und wer das Gegenteil behauptet, ist intolerant. Dennoch kann es durch gewisse Gruppendynamiken natürlich praktischer sein, auf Facebook zu sein, wenn alle anderen dort sind, weil man sonst Gefahr läuft, Ereignisse in seinen sozialen Kreisen zu verpassen. Im Endeffekt ist es eine Entscheidung des Einzelnen, ob man die Risiken eingehen will, die mit einer Facebook-Anmeldung verbunden sind, um die soziale Belohnung zu kassieren. Man sollte aber nicht Facebook die Schuld daran geben, dass man plötzlich nicht mehr alles mitbekommt, was in seinen sozialen Kreisen passiert.

Ich glaube aber, dass hier nicht der gleiche Fall vorliegt. Die Verflüssigung von Kultur durch Digitalisierung ist ein Fakt, den man nicht bestreiten kann, die Erkenntnis ist also an und für sich noch nichts Bahnbrechendes. Ein digitales Dokument oder Musikstück ist viel leichter verformbar und veränderbar als sein analoges Gegenstück. Anders als bei Facebook kann ich mir also nicht so leicht aussuchen, in welcher Form mein Kulturerzeugnis vorliegt, außer ich weigere mich völlig, digitale Hilfsmittel zu nutzen. Ich kann mir aber aussuchen, ob ich den Prozess öffentlich mache oder nicht bzw. inwieweit. Und das Produkt verschwindet dadurch (anders als die soziale Interaktion bei Facebook) nicht.

Nicht den Kopf verlieren

Die Gleichung ignoriert aber, dass große Teile eines kreativen Prozesses nach wie vor undokumentiert im Kopf des Kreativen stattfinden. Ich habe einmal selbst versucht, einen kreativen Prozess hier im Blog zu dokumentieren und bin kläglich gescheitert, weil die meiste Arbeit eben nicht aus Versionierung sondern einfach aus Denken bestand. Ich hätte diese Denkprozesse natürlich dokumentieren können, hatte aber nicht den Eindruck, dass sich der Aufwand gelohnt hätte – Gedanken sind nun einmal so viel schneller, als Finger auf einer Tastatur. Außerdem – ich bin ganz ehrlich – hatte ich Angst davor, in meinem Gedankenweg gestört und abgelenkt zu werden, wenn ich ihn öffentlich mache. Vielleicht also hätte ich nicht nur hilfreiche Hinweise bekommen, sondern auch Stimmen, die mich so aus der Balance geworfen hätten, dass der Artikel nicht zustande gekommen wäre. Vielleicht ist diese Angst irrational, aber sie existierte.

Worauf ich im Endeffekt hinaus will, ist, dass ein nicht-öffentlicher Prozess und ein scheinbar vom Himmel gefallenes Endprodukt, seine Vorteile haben kann. Im Mai habe ich darüber geschrieben wie effektiv es war, dass zwei Filme zentrale Informationen über ihre Bösewichter als Überraschung nicht vorab bekannt gegeben haben. Überhaupt können Überraschungen etwas ganz tolles sein. Ich mag die Methode der Wissenschaft, die eigentlich schon immer davon ausgeht, dass der Weg immer weiter geht, dass aber auf diesem Weg immer wieder Erkenntnisse stehen, die zu diesem Zeitpunkt fertig sind und als abgeschlossenes Produkt begutachtet werden können. Vielleicht würde Dirk von Gehlen diese Erkenntnisse auch als Versionen eines größeren Prozesses beschreiben. Doch damit wäre das Versionierungskonzept im Grunde auch nur ein neuer Name für große Teile des menschlichen Daseins seit Anbeginn der Zeit. Dass wir im Laufe der Jahre Erkenntnisse hinzugewinnen und dadurch alte Erkenntnisse ersetzen ist nicht Versionierung, es ist einfach Leben.

Abschlussbedürfnis

Ich halte vielmehr den mit “Abschluss” nur unzureichend zu übersetzenden englischen Begriff “closure” für sehr wichtig in diesem Zusammenhang. Ich, und ich denke, viele andere Menschen mit mir, streben nach “Closure”. Ich will, das Dinge abgeschlossen sind, weil Abschluss Orientierung bietet. Ich hatte weder Zeit noch Interesse, die unredigierten Kapitel von Eine neue Version ist verfügbar zu lesen, weil ich mich gerne mit Dirks fertigen Argumenten auseinandersetzen wollte, nicht mit unausgereiften Versionen, die sich noch ändern können.

Wie wichtig Kanonizität sein kann, das feste Ziehen von Grenzen, zeigt sich nicht nur zum Beispiel bei transmedialem Storytelling, sondern auch bei Archivierungsfragen. Denn obwohl unsere Vorstellungskraft unendlich ist, unsere irdischen Ressourcen sind, auch wenn es manchmal anders scheint, endlich. Und deswegen muss all die Flüssigkeit irgendwo enden.

Vielleicht kann man mein undefiniertes Unbehagen auf folgende Sätze herunterbrechen: 1. Aus der Verflüssigung von Kultur sollte nicht zwangsläufig eine Offenlegung aller Prozesse folgen. 2. Abschluss und Kanonizität bilden wichtige Orientierungspunkte im Navigieren der kulturellen Landschaft, man sollte sich gut überlegen, inwieweit man sie aufgeben will. Und dabei geht es nicht nur darum, sich zu wünschen, die Welt wäre weniger kompliziert.

Habe ich Dirk von Gehlen falsch verstanden? Übertreibe ich seinen Imperativ (DAS FÜHRT UNS ALLES IN DEN RELATIVISMUS!), um mich in meiner persönlichen Meinung besser zu fühlen? Finde ich die Zwischenstand-Mails von Crowdfunding-Projekten nur deswegen so nervig, weil sie von den Kulturschaffenden nicht richtig genutzt werden? Wie gut, dass ein Blog eine Kommentarfunktion hat.

Ending and Mending – Die zwei Seiten der digitalen Archivierungslogik

Photograph of Navy Archives Personnel Bess Glenn,1942

“But old clothes are beastly,” continued the untiring whisper. “We always throw away old clothes. Ending is better than mending,
ending is better than mending, ending is better …”
– Aldous Huxley, Brave New World

Ich tue mich manchmal schwer damit, zu beurteilen, wieviel von der Diskussion um geplante Obsoleszenz auf realen Geschäftspraktiken basiert, und wieviel antikapitalistische Agitation darin steckt. Ich kann mir, naiv wie ich bin, so schwer vorstellen, dass ein Ingenieur tatsächlich ein Produkt bauen würde, dass zu einem festgelegten Zeitpunkt kaputt geht. Allerdings machen Modezyklen, Weiterentwicklungen im Technikbereich sowie das Einstellen von Unterstützung (technisch und personell) für ältere Modelle regelmäßige Obsoleszenz auch ohne Schlaferziehung zu einer De-Facto-Realität in unserer Brave New World. Wir sind es generell gesprochen gewohnt, Neues zu erwarten (und zu kaufen), statt Altes zu pflegen und zur reparieren.

In meiner Beschäftigung mit dem digitalen Wandel in der Filmindustrie bin ich inzwischen zu der Erkenntnis gekommen, dass weder die Produktion noch die Distribution von Filmen der wahre Prüfstein für die Film-vs-Digital-Frage sind. In beiden Fällen sind inzwischen einfach Tatsachen geschaffen worden. Es werden nur noch wenig Filmmaterialien und noch weniger Film-Kameras hergestellt, was das Drehen auf Film automatisch zur Sonder- statt zur Standardoption werden lässt, und – wie Gerold Marks erst vor ein paar Tagen aufgeschrieben hat – im Kino diktieren die Verleiher das kommende Aus des analogen Films. Zurückrudern ist da quasi unmöglich.

Film-Archivierung ist der wahre Prüfstein

Die größte Frage im Filmbereich angesichts der Digitalisierng ist vielmehr die der Archivierung. Es lohnt sich, David Bordwells Blogeintrag vom Februar 2012 einmal ganz durchzulesen, um einen recht detaillierten Einblick in die Herausforderungen des Themas zu bekommen. Und obwohl dieses große Thema scheinbar im Hintergrund abläuft, wo es niemand beachtet, ploppt die Frage des “Was heben wir auf, was werfen wir weg, und wie sorgen wir dafür, dass das, was wir aufheben wollen, auch aufgehoben bleibt?” immer wieder in unterschiedlichsten Kontexten auf – beispielsweis im jüngsten Kerfuffle rund um die Jodorowsky-Retrospektive auf dem Filmfest München.

Ich ertappe mich in diesem Kontext dabei wie ich, obwohl ich sonst doch immer so ein Freund und Verteidiger des Digitalen bin, dafür plädiere, nicht jede verdammte Datei aufzuheben, sondern analoge Kopien auf ein haltbares Material zu bannen und irgendwo zu vergraben. Fertig. Der Bordwell-Artikel zeigt, dass es in Wirklichkeit nicht um eine simple Entweder-Oder-Entscheidung geht, aber ganz pauschal gesprochen erscheint es mir wie der einzig sinnvolle Weg. Auch wenn dabei Informationen verloren gehen.

Die Suggestion des Digitalen

Anhand dieses Sachverhalts lässt sich die oben erwähnte Frage aber auch noch einmal grundsätzlicher angehen. Denn die digitale Welt, wie sie derzeit diskutiert wird, suggeriert uns auf perfide Weise, dass wir beide Seiten einer Medaille gleichzeitig haben können: Die Demokratisierung und Unmittelbarkeit von Kunst und Information – eine unendliche Welt von Daten jederzeit zum Greifen nah – einerseits, und eine endlose Abspeicherung alles Vergangenen andererseits. Mit anderen Worten: Jeder kann alles jederzeit schaffen – und außerdem geht nichts davon verloren. Aber das kann nur ein Trugschluss sein. Und noch mehr: das sollte es auch.

Der Gedanke kam mir eigentlich beim Beobachten der “Gegenseite”, der Digitalisierungs-Skeptiker. Ich weiß nicht einmal, ob es stimmt, aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es die gleichen Menschen sind, die sich einerseits beschweren, dass in unserer zersplitterten Kulturlandschaft nichts mehr von Dauer produziert wird (siehe oben: geplante Obsoleszenz), dass wir keine Monokultur mehr haben, die einen kulturellen Dialog bestimmt und dass das Internet als Informationsmaschine zu einem “Archive Overload” führen kann, weil alles auf Knopfdruck verfügbar ist (siehe, wie so oft, Simon Reynolds). Die sich aber andererseits ärgern, wenn nicht alles aufgehoben wird und manche Werke eines Künstlers im Zweifelsfall nur noch in schlechter Qualität vorhanden sind (siehe Jodorowsky und dieser Artikel von Lukas Foerster, der mich zu dieser Abhandlung ursprünglich inspiriert hat).

Fürchterliches Essen, winzige Portionen

Der Kulturpessimismus scheint sich also gleichzeitig gegen beide Aspekte zu richten und formt ein wunderschönes Paradoxon: Wir produzieren viel mehr, als wir konsumieren können, und dann können wir es nicht einmal alles aufheben. (Im Grunde eine Variation eines alten Woody-Allen-Bonmots – das Essen ist so fürchterlich, und die Portionen sind auch noch winzig.) Das gleiche Phänomen kann man sogar in der Politik beobachten, wenn gleichzeitig das “Recht, vergessen zu werden” skandiert wird, während die Vorratsdatenspeicherung voran getrieben wird.

Aber auch wenn man in die andere Richtung argumentieren will, muss man sich anscheinend entscheiden. Wer für das bewusste Vergessen plädiert, wie ich es hier tue, befördert damit direkt eine oftmals ungünstige Kanonisierung und ein Unter-den-Tisch-Fallen der Peripherie. Dabei denke ich noch nicht einmal an Minoritäten-Kulturen, obwohl ich das sollte. Ich denke eher: Einer meiner absoluten Lieblingsfilme ist Jean Cocteaus Le Testament d’Orphée, der in seinem Werk allerdings eine vernachlässigbare Nebenrolle neben seinem Vorgänger Orphée einnimmt. Welcher Film würde wohl archiviert, wenn man sich entscheiden müsste?

Die kulturelle Ausnahme

Und dennoch: Obwohl ich – allein schon aus Umweltbewusstsein – nicht dafür sein kann, dass stoffliche Dinge ständig veralten und entsorgt werden (um dann irgendwo endlos vor sich hin zu rotten) und deshalb zum Beispiel Bewegungen wie die “Fixer” begrüße (auch weil ich selbst handwerklich zu nichts zu gebrauchen bin), so will ich doch dafür einstehen, dass es okay ist, wenn kulturelle Erzeugnisse teilweise in Vergessenheit geraten. Die kulturelle Ausnahme auch hier, sozusagen. Wir müssen lernen, Kultur (zum Teil) wegzuwerfen und nicht zu archivieren. Flüchtigkeit zu begrüßen, wie es Teenager mit Apps wie Snapchat auch bereits tun. In der Musik haben Live-Auftritte längst Albumkäufen den Rang abgelaufen, eben weil sie (allen Handymitschnitten zum Trotz) nicht völlig archivierbar sind. Und steckt in dieser Überlegung nicht auch die Rettung des Kinobesuchs?

Das beste Argument dafür, nicht alles eindeutig und in bester Qualität zu archivieren und zu katalogisieren, ist, dass künftige Generationen schließlich auch noch etwas zu dechiffrieren haben sollten. Wenn wir ihnen nur ein unvollständiges Zeugnis unserer Zeit zurücklassen, laufen wir zwar Gefahr, dass sie auch unsere Fehler wiederholen, doch eine verzerrte Wahrnehmung kann auch inspirieren. Komplette Kulturbewegungen, etwa die Renaissance, entstammen einer verzerrten Wahrnehmung der Vergangenheit. Wäre der Aufbruch genauso energisch verlaufen, wenn nicht nur die besten Ideen aus der Antike überlebt hätte? Oder steckt in diesem Gedanken die konservativ-gruselige Implikation, dass wir ein “früher war alles besser” brauchen, um ein Ideal zu haben, nach dem wir streben können?

Was bei mir bleibt, ist der Gedanke, dass wenn ich mich entscheiden müsste zwischen der Reduktion von Vielfalt und der Reduktion von Archivierung, würde ich wahrscheinlich immer die Reduktion von Archivierung wählen. Ich frage mich, ob mir das digitale Zeitalter langfristig Recht geben wird.

Bild: Flickr Commons

Keep Twisting – Filme wie “Die Unfassbaren” treiben es zu weit

© 2013 Concorde Filmverleih GmbH

Die skeptischen Blicke sind gerechtfertigt

In seinem Interviewband, der gerade unter dem Titel Creating Wonder neu erschienen ist (mehr dazu hoffentlich bald hier), beschreibt Danny Boyle die einzige Änderung, die er vorschlug, als ihm das Drehbuch zu seinem späteren Debütfilm Shallow Grave vorlag. Am Ende (Achtung, Spoiler) sollte der Film die Erwartung des Publikums noch ein letztes Mal unterwandern. Wenn jeder denkt, dass Kerry Fox mit dem Geld abgehauen ist, sollte sich herausstellen, dass Ewan McGregor diesen Schritt vorhergesehen hatte. Die Entscheidung führte zu einem der schönsten Shots des Films: McGregor liegt, mit dem Messer im Körper, grinsend in seiner Wohnung, und unter den Dielen, auf denen er liegt, ruht das Geld. “You’ve got to keep twisting with these thrillers right until the very, very last moment”, sagt Boyle. “Take your foot off the pedal and you quickly lose momentum.”

Es fällt schwer, der Überzeugung dieses Satzes direkt zu widersprechen. Wir alle mögen das, was Boyle als “Momentum” bezeichnet. Den Drive, die Stoßkraft, den ein Film entwickelt, wenn er uns immer wieder überrascht. Gerade in Filmen, in denen es wie in Shallow Grave um Geld geht, Heist Movies also, ist es inzwischen fast schon eine Standardsituation, dass die Helden des Films, die häufig laut Gesetz die Schurken sein sollten, am Ende nur deswegen als Letzte lachen dürfen, weil sie die Gegenseite – und das Publikum – kurz vorher davon überzeugt hatten, dass ihr Plan doch noch schief gegangen ist. Der unsympathische Gegenspieler muss voller Arroganz triumphierend auf der vermeintlichen Beute sitzen und dann entsetzt feststellen, dass er doch gelinkt wurde – während die Helden in den Sonnenuntergang reiten. The Sting, Ocean’s Eleven, Fast Five. Wir lieben es, wenn ein Plan aufgeht.

Der “Convoluted Blockbuster”

In einem seiner großartigen Artikel hat der Film Crit Hulk vor kurzem das Zeitalter des “Convoluted Blockbuster” konstatiert. Sein Stein des Anstoßes: “Blockbusters that get so so convoluted, so byzantine in their reveals that they alienate story-seeking audiences.” Seine Hauptzielscheibe: Star Trek Into Darkness. Diese Filme, so der Hulk, simulieren Komplexität, indem sie den Zuschauer in immer neue Richtungen jagen und mit neu enthüllten Fakten konfrontieren, ohne dass dahinter eine tatsächliche Komplexität steckt, die auch entstünde, wenn der Film ohne Enthüllungen erzählt würde. (Ich stimme ihm zu, auch wenn ich den Film aus anderen Gründen trotzdem mochte.)

Schließlich gibt es noch das, was David Bordwell als “puzzle films” bezeichnet. Filme, die in ihrer hochkomplexen Geschichte Hinweise für den Zuschauer verstecken, die sich der Zuschauer während des Zuschauens wie ein Puzzle zusammensetzen kann. Diese Filme laden zum wiederholten Sehen ein, weil der zweite Blick den Filter verschiebt, und Sehfreude daraus abgeleitet werden kann, dass man Puzzleteile früher oder anders identifiziert, als beim ersten Mal. Bordwell nennt als Beispiele Primer, Memento und Inception.

Mit all diesen Nomenklaturen und Theorien im Kopf stelle ich folgende Frage: Was zur Hölle soll dann Die Unfassbaren – Now You See Me für ein Film sein?

Zauberer sind Trickbetrüger

Da hatte irgendwann mal irgendjemand eine interessante Idee. Ein Heist-Movie mit Bühnenzauberern. Zauberer sind gut darin, Illusionen zu erschaffen, also sind sie, genau genommen, nicht so weit weg von Trickbetrügern. Richtig gute Zauberer könnten also problemlos ihre Zaubertricks dafür nutzen, Banken auszurauben – ihre Bühnenshow könnte als Front funktionieren, während sie hinterum ihre Gegner um ein paar Millionen erleichtern. Und um sie sympathisch zu machen, macht man sie zu Robin Hoods, denen es nicht ums Geld geht, sondern darum, als die besten Zauberer der Welt wahrgenommen zu werden. Diesen Film hätte ich wahnsinnig gerne gesehen.

Now You See Me ist nicht dieser Film. Das Hauptproblem ist, dass den vier knuffigen Hauptfiguren (siehe Bild) nicht die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal zugestanden wird. Statt dass sie selbst ihre Heist-Tricks planen, existiert eine nebulöse Figur, die sie zusammenführt und alles für sie vorbereitet. Sie nutzen ihre Fähigkeiten nur noch, um Befehle auszuführen – mit der Aufnahme in einen Magischen Zirkel als Karotte, die vor ihrer Nase herumgebaumelt wird. Überhaupt geht es in dem Film eigentlich nicht um die drei jungen Zauberer-Helden (und Woody Harrelson) , sondern um die ältlichen Herren, die sie beobachten: Financier Tresseler (Michael Caine), Mythbuster Bradley (Morgan Freeman) – und natürlich um den knautschigen Polizisten, der sie jagt: Mark Ruffalo. Mélanie Laurent, die Ruffalos mysteriöse Interpolpartnerin spielt, ist ebenfalls nur eine Art Ablenkung.

Die Groteske beginnt

Das alles ist nicht einmal nur im übertragenen Sinne gemeint. Denn am Schluss (und jetzt beginnen natürlich die Spoiler) stellt sich heraus, dass die Polizei und alle, die ihr vertraut haben, nicht nur düpiert wurde und die Helden ihr Ziel erreichen konnten. Sondern dass der Polizist auch noch der mysteriöse Auftraggeber war. Er wollte seinen Vater rächen, der als Entfesselungskünstler tödliches Opfer eines schlechten Deals wurde. Also wurde er nicht nur ein großartiger Zauberer, sondern auch Polizist, arbeitete sich an eine Stelle empor, in der er auf einen Fall angesetzt werden würde, in dem die vier Zauberer-Diebe, die er selbst heimlich beauftragt hatte, die Gelegenheit bekommen würden, es denjenigen heimzuzahlen, die Schuld am Tod seines Vaters waren. Im Ernst.

Das ist grotesk. Und es muss dringend aufhören.

Nicht nur, dass durch diese Enthüllung jede einzelne der ellenlangen vorausgehenden 110 Minuten des Films null und nichtig geworden ist und sämtliche Plotpunkte und Finten auf den Kopf gestellt werden. (Als ich im Pewcast über den Film gesprochen habe, habe ich gemeint, er wolle Ocean’s Eleven sein, wäre aber eher Ocean’s Twelve, der mit seiner letzten Enthüllung quasi das gleiche macht. Der Unterschied, ist, dass Soderbergh dabei wenigstens grinst und die Zunge raustreckt, während Louis Leterrier versucht, noch eine tragische Backstory einzubauen.) Sondern dieser letzte Twist ist auch noch so behämmert und unfassbar (höhö) unwahrscheinlich, dass man sich als Zuschauer fragt, warum man sich den Film überhaupt angeschaut und irgendeine Art von emotionaler Energie investiert hat.

Als der Plan des Joker in The Dark Knight eine ganze Reihe von Unstimmigkeiten aufwies, über die man besser nicht zweimal nachdenken sollte, biss ich die Zähne zusammen und erfreute mich stattdessen an der Chaostheorie, die der Film damit transportieren will. Als Javier Bardem in Skyfall (Spoiler) erstaunlicherweise Monate vorher wusste, wie er sich gefangen nehmen lassen und fliehen musste, damit James Bond zu einem exakten Zeitpunkt an einem exakten Ort stand, wo ein verdammter Zug auf ihn fallen konnte, blinzelte ich zweimal und konzentrierte mich wieder auf Roger Deakins’ schicke Bilder. Aber irgendwann ist mal genug.

Nur “Dallas”-Autoren machen sowas

Wenn Antagonisten jede Eventualität in ihren Masterplan einbauen können, werden Filme zu langweiligen, deterministischen Sermonen. Die Unfassbaren spielt genau nicht das titelgebende “Now You See Me – Now You Don’t”-Vexierspiel, sondern enthält uns eine Information (quasi ohne jeden Hinweis darauf) fast zwei Stunden lang vor, um sie dann ohne Sinn und Verstand aus dem Hut zu ziehen. Das ist kein “convoluted Blockbuster” mehr, der während seiner Handlung ständig den Maguffin verschiebt, um aufregend zu bleiben – und auch kein “Puzzle Film”. Das ist das filmische Äquivalent des “Alles war nur ein Traum”-Endes von Geschichten, das mit Ausnahme von “Dallas”-Autoren kein Schreiber nach der Grundschule mehr benutzt. Und nicht mehr benutzen sollte.

Doch was ist mit dem Gedanken des “Keep Twisting”? Dazu sei gesagt: Eine Stellschraube an einer Feder, die unter Spannung steht, lässt sich fast endlos anziehen – aber eben doch nur fast. Irgendwann wird die Feder überdehnt. Und dann steht man eben nicht mehr mit bis zum Bersten aufgebauter Spannung da. Sondern nur noch mit einer hohldrehenden Schraube und einer kaputten Feder.


Die Unfassbaren – Now You See Me startet am 11. Juli in den deutschen Kinos.


Ergänzung, 11. Juli: Bernd Zywietz hat meinen Gedanken aufgegriffen und auf “Screenshot” noch ein paar generellere Ausführungen dazu aufgeschrieben. Zurecht hält er mir vor, dass Danny Boyle mit Trance dieses Jahr anscheinend auch nicht gerade das glänzendste Beispiel einer guten Twist-Geschichte inszeniert hat. Ich habe den Film noch nicht gesehen (weil er in Deutschland erst schlappe fünf Monate nach dem GB-Start ins Kino kommt), aber ich befürchte Schlimmes, und ja, dann könnte man ihm die “Autorität” in diesem Fall natürlich gut absprechen.

Wann kommt der Point-of-View-Shot im großen Stil zurück ins Kino?

Der “Point-of-View”-Shot war von Anfang an eine der faszinierendsten, aber auch der gimmickhaftesten Anwendungen bewegter Bilder. Man montiere eine Kamera auf einem Auto oder Zug, lasse das Fahrzeug fahren und fertig ist der Film. Diese sogenannten “Ghost Rides” haben auch heute noch magnetische Wirkung, obwohl sie seit 20 Jahren in Deutschland auch als Lückenfüller für das Nachtprogramm dienen. Es ergibt einfach einen gewissen Sog, sich auf der Leinwand in die Tiefe zu bewegen, durch die “Augen” eines anderen – Menschen oder Fahrzeugs.

Der POV-Shot, in dem die Kamera die Perspektive eines Menschen einnimmt, wurde in der Filmgeschichte durchgängig mehr oder weniger effektvoll eingesetzt. Man denke an die gespenstische Eröffnungssequenz von Halloween, in der man im Kopf des Killers zu stecken scheint. Oder an The Lady in the Lake, der sich in den 40ern daran versuchte, einen ganzen Film aus der Ich-Perspektive zu erzählen. Auf “Film School Rejects” fand sich vor kurzem eine kleine aber feine Zusammenstellung weiterer Beispiele.

Ego-Shooter haben den POV-Shot zu einer fast alltäglichen Perspektive gemacht. Vielleicht ist auch deswegen die “Super Soldier”-Sequenz aus dem ansonsten eher nicht so künstlerisch wertvollen (aber amüsanten) Doom mein Lieblingsbeispiel aus der Liste. Der transmediale Wiedererkennungseffekt hat mich damals im Kino jedenfalls ziemlich, ich glaube der Terminus Technicus lautet: geflasht.

Durch den technischen Fortschritt erlebt der Point-of-View-Shot derzeit eine Renaissance wie schon lange nicht mehr. Kameras wie die GoPro erlauben gestochen scharfe und ruckelfreie Aufnahmen, die sich vor allem im Extremsport (und bei der Tier-Empathie) größter Beliebtheit erfreuen. Skydiving, Snowboarding & Co konnte man noch nie so gut in Aktion verfolgen. Heute etwa geisterte dieses schwindelerregende POV-Video eines Parkour-Athleten durchs Netz:

Mit Google Glass könnte das ganze noch omnipräsenter werden. Ein vor kurzem geteilter Zusammenschnitt eines Tages in Disneyland mit der Datenbrille zeigt, wie natürlich und fast schon angenehm gewöhnlich die Perspektive wirkt, die das neue Gerät in seinen Filmaufnahmen erzeugt. (Und natürlich wirken auch hier die “Ghost Rides” auf den Fahrgeschäften am besten.)

Im Kino jedoch führt der POV-Shot noch immer ein gewisses Nischendasein – im Horrorfilm. Dort hat sich in den vergangenen Jahren, durch den Erfolg von Filmen wie The Blair Witch Project und Paranormal Activity ein ganzes Subgenre der “Found Footage”-Filme herausgebildet, der die Alltäglichkeit von privaten Filmaufnahmen nutzt, um einen Schrecken zu erzeugen, der sich extrem persönlich und direkt anfühlt. Ein Film wie [Rec], der komplett durch die Perspektive einer einzelnen TV-Kamera erzählt wird, ist eigentlich der legitime Nachfolger von The Lady in the Lake. Mit V/H/S hat das Subgenre inzwischen sein eigenes Anthologie-Franchise erzeugt. Und in V/H/S 2 (den ich selbst noch nicht gesehen habe) spielt die GoPro wohl auch eine tragende Rolle.

Die Frage ist: Wird sich diese neue Durchdringung unseres Bilderstroms mit POV-Shots auch im restlichen Kino niederschlagen? Einen Film wie Russian Ark müsste man heute nicht mehr unbedingt mit einer Steadicam-Spezialanfertigung drehen, die dem Kameramann nach 90 Minuten fast das Kreuz bricht. Dem Dokumentarfilm eröffnen sich einige Möglichkeiten (die außerhalb meines Sichtfeldes bestimmt auch schon genutzt wurden – ich bitte um Hinweise) beim Einfangen seiner Bilder. 3D könnte den Sogeffekt der Bilder noch verstärken – schon/noch heute sind Ghost Rides ja auch einer der beliebtesten Anwendungsgebiete von 3D.

Doch auch im großen Spielfilm könnten POV-Shots nach GoPro- und Glass-Modell durchaus ihren Platz finden. Ich sehe besonders im Superhelden-Genre einige Anwendungsmöglichkeiten. Wie sähe wohl ein Hulk-Out aus Banners Perspektive aus? Und trägt Clark Kent in Man of Steel 2 vielleicht Google Glass? In Chronicle wurde letztes Jahr in gewisser Weise eine Art Anfang gemacht. Der Rest muss jetzt nur noch nachziehen.

Bild: Steven | Alan, CC-BY-ND (aufgenommen mit einer GoPro)