What was important to us in Phase One was acclimating an audience who maybe never read the comics, who didn’t know that Iron Man and Thor and Hulk all inhabited the same Marvel universe in the comics, and start seeding that idea through the films to get them used to the notion that these characters live in the same world; that this is a shared universe […].
Now with the beginning of Phase Two, the audience knows that. The audience knows there are connective tissues leading to it and will continue so now we have the leeway and the ability to have fun with that, just like they do in the comics. We can have fun and surprises with who connects where. – Kevin Feige über die Zukunft des Marvel Cinematic Universe
Interessant zu wissen, dass dies die offizielle Marvel-Position zu Phase 2 des Marvel Cinematic Universe ist: “fun and surprises”. Zu hoffen bleibt, dass es Marvel gelingt, die richtige Balance zwischen Insider-Verbinde-Spaß und für sich stehenden Geschichten zu erzählen. Iron Man 2 hat in dieser Hinsicht beispielsweise stark darunter gelitten, dass er gleichzeitig “Avengers 0.5” sein musste.
[Ergänzung, 16.4. – Joss Whedon hat die Arbeit an Avengers 2 als glorious Challenge bezeichnet]
Im Jahr 1970 stand der britische Theaterautor Michael Frayn in den Sofitten eines seiner Stücke. Sein Standort erlaubte es ihm, nicht nur das Geschehen auf der Bühne zu sehen, sondern auch, was hinter den Kulissen passierte. Die Tatsache, dass er die Vorgänge hinten komischer fand als vorne, brachte ihn zwölf Jahre später dazu, das Stück “Noises Off” zu schreiben. Die dreiaktige Farce zeigt eine kleine Schauspielertruppe dreimal bei der Aufführung des gleichen Stückes zu verschiedenen Zeitpunkten. Akt 1: vorne, Akt 2: hinten, Akt 3: vorne.
Zwischen den Schauspielern des Stücks gibt es Romanzen und Animositäten, private Probleme, Komplexe und Egos. Im ersten Akt kennen wir diese Probleme noch nicht, wir sehen nur die Generalprobe eines burlesken Stückes, das bereits zu diesem frühen Zeitpunkt einige Stolperer aufweist. Akt 2 enthüllt die Hintergründe der Figurenkonstellationen zwischen den Akteuren, die so gar nichts mit den Figuren zu tun haben, die sie spielen – und wir sehen sehen, wie viel zusätzlich schiefgeht, von dem die Zuschauer im Saal (hoffentlich) nichts merken. In Akt 3 schließlich sind wir Eingeweihte, könnnen aufgrund des Geschehens vorne Rückschlüsse über das Geschehen hinten ziehen – und doppelt lachen.
Ich habe von “Noises Off” nur die mäßig beliebte Verfilmung gesehen, doch das Stück fiel mir wieder ein, als ich am Ende des jüngst aufgenommenen Podcasts zum Marvel Cinematic Universe über den Inhalt der Serie “S.H.I.E.L.D.” (offiziell: “Marvel’s Agents of S.H.I.E.L.D.”) spekulierte. “Noises Off” spielt, zur Geburtsstunde der Postmoderne, gekonnt und komisch mit der Idee, dass die Geschichte, die wir erzählt bekommen, nie die ganze Geschichte ist. Dass man theoretisch immer an hundert Punkten dieser speziellen Geschichte ansetzen könnte, und eine weitere, unbekannte Geschichte erzählen könnte, die ebenso interessant sein kann; die wir aber nie erfahren.
Diese Idee ist natürlich inzwischen nichts Neues mehr. Im Grunde ist sie die Grundlage jeder Kriminalfall-Erzählung und seit der postmoderne zum allgemeinen Zustand geworden ist, taucht sie überall auf: In Pulp Fiction und den Filmen von Alexander Gonzalez Iñarritu, in dutzenden Romanen (mein Favorit: Alex Garlands “The Tesseract”) und Fernsehfolgen. Zersplitterte Erzählung ist überall und wird auch gerne gesehen, weil sie immer einen Anstrich von Cleverness hat: der Zuschauer steht in den Sofitten – er bekommt mehr mit als jede einzelne Figur und darf das Puzzle im Kopf zusammensetzen.
Was Noises off jedoch von den meisten dieser fragmentierten Geschichten unterscheidet, ist die Tatsache, dass es eine dominante Geschichte gibt, die auf jeden Fall erzählt werden muss – das Stück im Stück mit dem vielsagenden Titel “Nothing On”. Diese Haupterzählung, die Handlung von “Nothing On”, muss weiterlaufen, egal was passiert, und die Geschehnisse hinter der Bühne sind ihr untergeordnet. Sie sind, sozusagen, drumherumerzählt.
Nicht die Zeitebenen stören
Habt ihr 18 Minuten Zeit?
Diese Sequenz aus Back to the Future und Back to the Future Part II ist eines meiner Lieblingsbeispiele für erfolgreiches Drumherumerzählen. Im Ursprungsfilm hat Marty McFlys Zeitreise die Geschehnisse seiner eigenen Vergangenheit durcheinandergebracht und droht, seine Zukunft, die eigentlich seine Gegenwart ist, zu verändern. Marty muss also alles daran setzen, die Vergangenheit wieder auf die richtige Spur zu bringen, indem er dafür sorgt, dass seine Eltern sich ineinander verlieben, obwohl sich seine Mutter gerade in ihn verguckt hat. Nebenher inspiriert er Chuck Berry zu “Johnny B. Goode”, indem er ihm, ohne es zu wissen, seinen eigenen Song aus der Zukunft vorspielt (was alle möglichen rassistischen Interpretationen zulässt).
Back to the Future Part II zieht eine weitere Ebene ein. Marty muss erneut in das Jahr 1955, in die exakt gleiche Nacht zurückkehren, um Dummbratze Biff Tannen das Sportstatistik-Heft zu klauen, das Biffs älteres Ich ihm aus der Zukunft zugesteckt hat. Jetzt muss Marty zwei Erzählungen aufrecht erhalten: 1. Seine Eltern müssen sich, wie im ersten Film, ineinander verlieben, obwohl mehrere Zeitreisende in ihrer Zeit herumfuhrwerken. Hierfür muss die “Enchantment under the Sea”-Party erfolgreich stattfinden, quasi das “Nothing On” von Back to the Future. 2. Marty darf seinem zeitreisenden Ich vom letzten Mal nicht begegnen, weil sonst ein Raum-Zeit-Fehler das Universum zerstören könnte. Er kann also in die Ereignisse nur indirekt eingreifen. Mit anderen Worten: Er muss auch die Erzählung des ersten Films aufrecht erhalten, denn dieser kann sich ja rückwirkend nicht mehr verändern.
Also erzählt Robert Zemeckis sehr geschickt um die Ereignisse aus Teil 1 herum. Besonders schön ist dies im letzten Drittel zu sehen. George küsst Lorraine und Marty 1 bekommt auf der Bühne seine Familie zurück, Marty 2 steht am anderen Ende des Raums und wird von Biffs Schergen gejagt. Diese kommen in den Ballsaal und sehen Marty 1 auf der Bühne, wundern sich, wie er so schnell dorthin gekommen ist und die Kleidung gewechselt hat. Sie machen sich bereit, ihn zu verprügeln, während er mit “Johnny B. Goode” beginnt, doch Marty 2 dreht den Spieß um und knockt die drei aus, bevor sie die Erzählung seiner ersten Zeitreise stören können, die in der Konsequenz auch auf seine jetzige Zeitreise durchschlagen würde. Eine komplette zweite Handlung, im Kontinuum der ersten Handlung, wird um die erste Handlung herumgestrickt, und kommt ihr unendlich nah, ohne sie tatsächlich zu berühren.
Im Transmedia-Universum
Im Zeitalter des Transmedia Storytelling, in dem wir uns inzwischen befinden, ist es nun nicht mehr nur eine Option, eine Geschichte in mehreren Fragmenten innerhalb des gleichen Texts zu erzählen, sondern über mehrere Medien hinweg. Und wenn das Universum erst mal steht kann man darin natürlich so viele Geschichten erzählen, wie man will. Große und kleine.
Das vielleicht bekannteste Pop-Franchise, das dies als erstes probiert hat, sind die beiden Sequels der Matrix. Ergänzend zu The Matrix Reloaded gab es ein Videospiel namens “Enter the Matrix”, in dem auch Filmszenen eingebaut waren, die den Handlungsraum von Reloaded erweiterten, indem sie die Geschichte erzählten, die sekundäre Charaktere wie Jada Pinkett Smiths Niobe parallel zur Haupthandlung von Neo, Trinity und Co erlebten. Beworben wurde das Ganze damit, dass man nur mit Film und Computerspiel (undAnimatrix) das große Ganze des Films erfassen konnte. In Wahrheit bringen die “Enter the Matrix”-Szenen (die auch im DVD-Sammlerset enthalten sind und hier auf YouTube) keinerlei echte Aufklärung für den kryptischen zweiten Teil der Trilogie. Auch sie schmiegen sich nur an die Haupthandlung an.
Das Prinzip, Nebenfiguren eine eigene Geschichte zu geben, die parallel zur Haupterzählung stattfindet, wurde schließlich in den Nuller Jahren vor allem von Disney-Tochterfirmen auf originelle Art angewandt, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die DVD-Verkäufe anzukurbeln und Nachwuchsregisseuren im Kurzfilm eine Chance zu geben.
The Incredibles war der erste Film, der dieses Prinzip anwandte. (SPOILER AB SOFORT) Auf dem Rückweg von ihrem Endkampf hört Helen Parr ihre Mailbox ab und findet dort eine Reihe von zunehmend panischen Nachrichten der Babysitterin, die auf Sprößling Jack-Jack aufpassen sollte – das einzige Kind, von dem die Parrs denken, dass es keine Superkräfte hat. In der letzten Nachricht berichtet sie erleichtert, sie habe Jack-Jack an den “Ersatz-Sitter” weitergegeben. Ängstlich beeilen sie sich, zum Haus zurückzukommen, um zu sehen, was passiert ist – nur um festzustellen, dass Syndrome ihnen zuvorgekommen ist und Jack-Jack bereits in seiner Gewalt hat. Es folgt der Endkampf nach dem Endkampf.
Der Schatten der Helden
Der Kurzfilm Jack-Jack Attack (Regie: Ebenfalls Brad Bird), der auf der DVD von The Incredibles enthalten ist, erzählt die gleiche Geschichte aus der Sicht der wohlmeinenden aber etwas unterbelichteten Babysitterin, die Stück für Stück Jack-Jacks Superkräfte am eigenen Leib erfahren muss und das Baby schließlich entnervt Syndrome in die Hand drückt.
Die Telefonnachrichten im Hauptfilm hatten völlig ausgereicht, um anzudeuten, was passiert ist – noch dazu auf sehr clevere und Zeit sparende Art (in einem Zeitalter, in dem Filme mehr und mehr dazu neigen, alles auszuerzählen). Jack-Jack-Attack, auch mit seiner Rahmenhandlung eines Geheimdienst-Verhörs, schafft es dennoch, dem Hauptfilm eine kleine Geschichte hinzuzufügen, die dort keinen Platz gefunden hätte (laut Wikipedia war dies auch der Ausgangspunkt), aber genau die richtige Länge und Dramaturgie für einen Kurzfilm hatte.
Zu Wall-E wurde dieses Prinzip noch einmal aufgegriffen, diesmal jedoch weniger direkt mit dem Hauptfilm verzahnt. Der DVD-Kurzfilm Burn-E spielt mit der Idee, dass Filmhelden mit ihren mutigen und waghalsigen Aktionen öfter mal Schaden anrichten können, von dem sie nichts wissen.
Burn-E ist auf der Axiom, dem großen Raumschiff, das Wall-E auf seiner Suche nach Eve bereist, für die Wartung der Warnlichter an der Außenhülle verantwortlich. Ein Stück Sternenstaub aus Wall-Es poetischer Geste zu Anfang des Weltraumflugs landet durch Zufall in einem dieser Lichter und Burn-E muss es reparieren. Dummerweise gelingt es Wall-E (ohne dass er es merkt), das gleiche Licht durch blöde Zufälle immer wieder kaputtzumachen, was den kleinen Burn-E fast um den Verstand bringt.
Wie in Back to the Future geht es also auch hier wieder darum, einen erzählten Status Quo (nämlich den des vorhergehenden Films) aufrecht zu erhalten. Es ist genau dieses Prinzip des kleinen Mannes oder der kleinen Frau, die hinter den Superhelden und ihren Heldentaten herräumen müssen, das sich perfekt für das Drumherumerzählen eignet, denn im Grunde sind diese Chraraktere quasi die Continuity-Wächter des Film-Universums. Sie sorgen dafür, dass dort, wo die Heldenreisen-Regeln gelten, alles den erwarteten Gang geht und nicht etwa an unvorhergesehenen Fehlerchen scheitert.
Um diesen Job im großen Stil zu erledigen hat die Popkultur seit jeher geheime Organisationen erschaffen, die mit einem Heer von “kleinen” Frauen und Männern die Welt in Balance halten. Sie heißen “Men in Black”, CONTROL oder – genau – S.H.I.E.L.D.
We work in secret. We exist in shadow. And we dress in black.
S.H.I.E.L.D. und ihr Chef Nick Fury sind im Marvel Cinematic Universe der Kleber, der die einzelnen Filme und ihre Handlungsstränge zusammenhält.Außerdem drehen sich sämtlich Erzählstränge, die ergänzend zu den Haupterzählungen der Superhelden aufgemacht wurden, um S.H.I.E.L.D.: die Post-Credit-Stingers, die Seitenplots in Iron Man 2, der Comic “Fury’s Big Week” und die grob nach dem gleichen Prinzip wie Jack-Jack Attack und Burn-E operierenden “Marvel One-Shots”, Kurzfilme, die als Ergänzungs-Gimmick zu den Hauptfilmen auf den DVDs enthalten waren.
Der erste Mavel One-Shot The Consultant erschien auf der Thor-DVD, ist aber eigentlich um The Incredible Hulk herumerzählt. Im Grund ist er ein cleverer Retcon. Der Post-Credit-Stinger im Hulk zeigte Tony Stark, wie er General Ross vorschlägt, ein Team zusammenzustellen. Zu Zeitpunkt von Thor, zwei Jahre später, passte das aber nicht mehr mit der geplanten Continuity für die Avengers zusammen. Also liefert The Consultant eine unerwartete Erklärung: Stark war nur von S.H.I.E.L.D. als “Patsy” zu Ross geschickt worden, er sollte Ross verärgern und das Gegenteil von dem erreichen, was er dachte. Und die beiden reden keinesfalls über den Hulk, sondern über seinen Gegner Abomination. Der Kurzfilm lässt alle bisherigen Erzählungen intakt und deutet sie dennoch so um, dass auch für die Zukunft alles passt.
Der zweite One-Shot A Funny Thing Happened on the Way to Thor’s Hammer (enthalten auf der DVD von Captain America) ist weniger stark an die Filme angebunden (er spielt kurz vor dem Post-Credit-Stinger von Iron Man 2) und dient eher dazu, den Charakter von Agent Phil Coulson etwas weiter auszuarbeiten. Der dritte Kurzfilm Item 47 führt völlig neue Charaktere ein und hat als einzigen Anknüpfungspunkt zu den Filmen eine Waffe aus dem Avengers-Film – beantwortet also eine einfache “Was wäre wenn”-Frage nach dem Ansehen von The Avengers: Was wäre wenn eine der Chitauri-Waffen einem Gangsterpärchen in die Hände fallen würde.
Die Serie “S.H.I.E.L.D.” wird sich höchstwahrscheinlich an den drei bisherigen One-Shots orientieren. Sie erzählt die Superhelden-Saga aus Sicht der Aufräumer, der kleinen Alltagshelden von S.H.I.E.L.D. – da Marvel und Joss Whedon clevere Dinge mögen, wird sie sicherlich das ein oder andere Mal direkte Berührungsstellen mit den parallel startenden Filmen aufweisen, häufig aber eher nur sehr indirekt darauf verweisen.
Die Kunst des Drumherumerzählens setzt immer eine Hierarchie der Erzählungen voraus. Eine Haupterzählung, die durch kleine Nebenerzählungen ergänzt, aber nicht direkt verändert wird. Jede Erzählung kann für sich stehen, obwohl die sekundäre Erzählung ihre Muttererzählung stärker braucht als umgekehrt, beide bieten im besten Fall access pointsin ein größeres Universum.
Die entscheidende Entscheidung (höhö), die von den Geschichtenerzählern getroffen werden muss ist, wie eng sich die sekundäre an die primäre Erzählung angliedern soll. Denn obwohl die drumherum erzählte Geschichte die Ur-Geschichte nicht verändern kann, kann sie sie doch erheblich umdeuten (wie in The Consultant), erweitern (wie in Jack-Jack-Attack) oder ihr doch zumindest an einzelnen Stellen einen anderen Drall geben (wie in Burn-E). Im schlimmsten (oder besten, je nach Sichtweise) Fall kann sie den Ur-Text völlig negieren – wie in Noises Off, wo die Beziehungen der Schauspieler hinter der Bühne das exakte Gegenteil der Figuren auf der Bühne darstellen. Die kunstvollste Variante ist sicherlich die, die es uns – wie Michael Frayn damals – einfach nur erlaubt, beide Ebenen zu sehen, ihr Zusammenspiel zu beobachten, und sie dennoch als zwei völlig separate Geschichten genießen zu können.
In den USA ist am vergangenen Dienstag eine BluRay-Box mit dem Titel Marvel Cinematic Universe: Phase 1 – Avengers Assembled erschienen, meiner Ansicht nach das erste Mal, dass Marvel den Begriff “Marvel Cinematic Universe” nicht nur intern, sondern auch im Marketing benutzt. (Auf Nachfrage hat mir Disney Deutschland übrigens gesagt, dass nicht geplant ist, die Box auch in Deutschland zu veröffentlichen)
Höchste Zeit also – auch mit dem Start von Iron Man 3 im Mai – meiner Obsession mitMarvels ambitioniertemFranchiseprojekt mal wieder Raum zu geben. Diesmal bin ich aber nicht alleine. Als Mitdiskutanten habe ich mir Comicfan Michael Timpe, Marketing-Spezialist Norbert Hillinger* und Medienwissenschaftlerin Aileen Pinkert eingeladen. Gemeinsam sprechen wir eine knappe Stunde lang über den aktuellen Stand des filmischen Universums und spekulieren, wie es wohl weitergeht.
Es gibt Leute, die sagen, wir wären nicht gut Wir wären nur so mittel, da packt mich die Wut Wer so was behauptet, der lügt wie gedruckt Der gehört getreten und angespuckt – Die Ärzte, “Wir sind die Besten”
Ein Schulkamerad von mir war Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr in einer der Satelliten-Kleinstädte rund um Wiesbaden. Wer freiwillige Feuerwehrleute kennt, weiß, dass sie sich sehr ernst nehmen, einerseits aus echter Leidenschaft für ihre potenziell Leben rettende Freizeitbeschäftigung. Andererseits aber auch als Bollwerk gegen die (sicher auch nicht ganz ungerechtfertigten) Vorurteile gegen freiwillige Dorffeuerwehren, ihre Mitglieder seien häufiger damit beschäftigt, den eigenen Bierdurst zu löschen, als Feuer (denn dafür gibt es ja die “richtige” Feuerwehr).
Zur Demonstration der Ernsthaftigkeit und Wichtigkeit dienten damals vor allem immer gut sichtbar getragene “Pieper”, an denen immer wieder herumgefuhrwerkt werden musste, um sicher zu gehen, dass man nicht wegen einer leeren Batterie einen Einsatz verpasst. Wer aber die Feuerwehr wirklich liebte, für den gab es zudem ein ganzes Arsenal an Devotionalien, mit denen man sich gegenüber der Restbevölkerung nicht nur als Feuerwehrmensch outen konnte, sondern gewissermaßen auch als Fan seiner selbst.
Ich erinnere mich spezifisch an eine Anzeigenseite in einem Feuerwehr-Magazin, auf der man verschiedene Aufkleber-Motive bestellen konnte, von denen mein Freund samt und sonders begeistert war. Eine kurze Google-Suche zeigt, es gibt sie immer noch, und sie stellen mich immer noch vor das gleiche Rätsel wie damals. Ich kann den Impetus verstehen, Flagge für seine Leidenschaft zu zeigen (ich habe auch T-Shirts mit Drumsets drauf), aber warum muss man sich dabei (mal ganz abgesehen von #Aufschrei-würdigen Stickern wie “Die Feuerwehrfrau – Die kluge Puppe in der starken Truppe”) immer so stark von anderen abgrenzen? Habt ihr es so nötig, euch für eure Leidenschaft zu rechtfertigen? Habt ihr nicht mehr Stolz?
Heute braucht es keine Aufkleber mehr, denn es gibt ja Facebook. Dass soziale Medien zum Echo Chamber-Effekt neigen, damit erzähle ich nun wirklich nichts Neues. Aber obwohl sie sich doch eigentlich auf diese Weise mit Ja-Sagern umgeben könnten, scheinen Leute gerade dort regelmäßig die Notwendigkeit sehen, ihr eigenes Selbstwertgefühl durch Affirmation ihrer Selbst und indirekte oder direkte Abwertung aller anderen zu polstern.
Natürlich haben die Feuerwehrsprüche überlebt. Zu meinem Gaga-Lieblingsexempel “110 – Die Männer, die man ruft; 112 – Die Männer, die auch kommen” gibt es heute eine Fanpage. Aber das Phänomen existiert auch in Bereichen, in denen man es nicht erwartet hatte. Eine US-Bekanntschaft von mir ist Bibliothekarin und postet regelmäßig Artikel und Motivationsposter, die die Botschaft “Bibliothekare sind WICHTIG und nicht durch Google zu ersetzen” auf die ein oder andere Weise proklamieren.* Andere Freunde, die sehr gerne lesen, scheinen sich ständig dafür rechtfertigen zu müssen, dass sie Bücher lieben. Ich frage mich immer nur: Wer sind diese gemeinen Menschen, die euch eure Leidenschaften absprechen wollen? Ich nicht.
Nicht falsch verstehen: Es ist absolut gar nichts dagegen zu sagen, dass Leute Dinge toll finden. Es ist auch nichts dagegen zu sagen, dass diese Leute anderen zeigen wollen, dass sie diese Dinge toll finden, und deswegen zum Beispiel besonders herausragende oder sie just in diesem Moment glücklich machende Exemplare ihrer Lieblingsdinge mit dem Rest der Welt teilen. Schon gar nichts kann ich dagegen haben, wenn Menschen Dinge – auch aus dem Umfeld ihrer Leidenschaft – nicht gut finden und darauf aufmerksam machen wollen – so habe ich einige Facebook-Freunde, die mit Leidenschaft im Gesundheitswesen arbeiten, und immer mal wieder darauf hinweisen, wie beschissen dort zum Teil die Arbeitsbedingungen sind.
Ich habe nur etwas dagegen, wenn die Rufe plötzlich ins defensive bis passiv-aggressive abdriften, wozu sich besonders Facebook perfekt zu eignen scheint. Man hat genug Gleichdenkende im Freundeskreis, die auf “Gefällt mir” klicken, und plötzlich fühle ich mich an eine Hip-Hop-Battle erinnert, in der es ja auch nur darum geht, sich selbst als den Größten darzustellen, indem man seine eigenen Skills lobt und die des Gegenübers disst. “Diss” kommt von “Disrespect”. Aber woher kommt das Recht, andere nicht zu respektieren, nur weil man sich selber toll findet?
In der Werbung werden zu solchen Zwecken Imagekampagnen an den Start gebracht. Dafür reicht meist schon ein gefühltes Absinken der Gunst und häufig ist auch da so eine Spur von Defensivität zu spüren. “Wir bieten, was die anderen nicht bieten”, ergo: die anderen sind doof. Und eine ganze Menge davon ist auch in Gesetzen, wie dem Leistungsschutzrecht für Presseverlage (LSR) zu spüren. “Ha, es steht jetzt im Gesetz, dass wir wichtig sind. Unsere Leistung wird geschützt. Jetzt kann uns keiner mehr was!”
Ignorieren wir für einen Moment, dass es dabei hauptsächlich um Geld geht. Was bleibt dann übrig? Genau das, was die Gegner des LSR seinen Befürwortern vorwerfen: Das hier mit politischer Wucht eine Legitimation künstlich aufrecht erhalten wird, die der technischer Fortschritt widerlegt hat – nämlich zu behaupten, nicht die einzelnen Inhalte wären das wertvollste Gut eines Mediums, sondern nur das Medium als Ganzes, die Verpackung. Google, Blogger, Aggregatoren bereichern sich laut LSR an den Inhalten, respektieren aber nicht die Verpackung. Die Männer, die man ruft, die Männer, die auch kommen.
* Ich kann mir vorstellen, dass der Bibliothekarsberuf im Zeitalter computerisierter Suche (die tatsächlich nur einen Teilaspekt des Berufs ersetzt) bedroht ist. Darüber erfahre ich in meiner Timeline aber nichts. Stattdessen scheinen Bibliothekare unter einem lange gepflegten Minderwertigkeitskomplex zu leiden, der sich auch auf der Berufsbild-Seite des deutschen Bibliotheksverbandes wiederfindet:
Bibliothekarisches Personal wird auch heute noch gerne mit geradezu klassisch zu nennenden und immer wieder reproduzierten Klischees, die in der Öffentlichkeit über diesen Beruf existieren, konfrontiert. Von sich selbst und ihrem Berufsstand pflegen Bibliothekare jedoch eine erheblich bessere Vorstellung.
(Hervorhebung von mir)
Heinrich Hoerle, Denkmal der unbekannten Prothesen via Wikimedia Commons.
Google Glass könnte das nächste große Ding werden. Wenn es hält, was es verspricht, ist die neue Erfindung aus Mountain View, die Ende des Jahres auf den Markt kommen soll, ein erster Schritt dahin, dass Computer nicht länger ein externes Gerät sind, das wir mit uns herumtragen, sondern ein allgegenwärtiger Teil unseres Organismus. Sicher, auch die Brille ist streng genommen noch etwas Externes, was wir an- und ausziehen. Aber sie sitzt fest auf unserem Körper und kann ohne Zuhilfenahme der Hände bedient werden. Obwohl also genau genommen der Unterschied zu einem Smartphone mit Sprachsteuerung vielleicht gar nicht so groß ist, fühlt sie sich an wie ein neues Paradigma, eine neue Stufe auf dem Weg zur (möglichen) völligen Verschmelzung von Mensch und Maschine.
Mir war gar nicht bewusst, dass unter den Netzmenschen längst eine Pro-und-Contra-Diskussion über diese Entwicklung losgegangen ist, bevor ich Martin Gieslers Post bei “Blogrebellen” las. Über die Links am Ende des Posts gelangte ich zu den diversen Gegenstimmen zu Google Glass, die von schelmisch amüsiert über historisch abwägend bis sachlich besorgt reichten. Und es gibt eine Kampagne gegen Google Glass, die unter dem Namen “Stop the Cyborgs” läuft.
Die Argumente kurz gefasst: Google Glass ist eine “egoistische Technologie” (“Netzwertig”), ein bisschen wie Rauchen. Nicht nur der Nutzer muss damit umgehen, sondern auch alle, die ihn (freiwillig oder unfreiwillig) umgeben. Denn nicht nur besteht ständig die Gefahr, dass der Glass-Träger abgelenkt ist, weil er nebenher im Augenwinkel E-Mails liest, sondern es existiert auch eine reale Chance, dass alle um ihn herum gefilmt oder fotografiert werden, diese Aufnahmen in die Cloud wandern und damit von Google für kapitalistische Machenschaften genutzt werden können.
Ich habe volles Verständnis dafür, dass eine neue Technologie grundsätzlich Besorgnis auslöst, und es ist gut, wenn die Probleme, die sie verursachen kann, konkret benannt werden. Was mich allerdings wundert, ist das, was häufig am Ende übrig bleibt. Etwas wie “Stop the Cyborgs”, eine ungefilterte Anti-Haltung, die auf wenig mehr als einem grundsätzlichen Unbehagen beruht – oder, wie in Martins Post anklingt, eine Angst davor, ohne eine Technologie wie Glass im Nachteil zu sein:
Du fällst ins Hintertreffen, weil Du, wenn Du keine Datenbrille nutzt, weniger Informationen zur Verfügung hast. Ein Wettkampf um Informationen entfacht. Konzerne entscheiden über Dich und nicht Du über Konzerne.
Könnte man das gleiche nicht auch über Smartphones sagen? Obwohl es vielen meiner Freunde ohne Smartphone eigentlich ziemlich gut geht. Danach der Satz: “Es wird Zeit, dass wir in Deutschland ein größeres Bewusstsein für Datenschutz und Privatsphäre entwickeln.” Als wäre das Thema in Deutschland nicht sowieso schon völlig schief gelagert, siehe Google Street View.
Unbehagen ist ein wichtiger Indikator dafür, dass Sachverhalte Aufklärungsbedarf und eventuell auch Gewöhnungszeiten mit sich bringen. Es ist spannend zu sehen, dass selbst technologiefreundliche Menschen, die nach eigener Aussage das Internet atmen, irgendwann an den “Jetzt ist es aber auch mir zu viel” Punkt geraten (es tut mir leid, dass Martin Giesler hier als Prügelknabe herhalten muss, ich kenne ihn nicht und habe nichts gegen ihn persönlich!). Ein Grund für völlige Ablehnung – und die Verunglimpfung der Befürworter als “Cyborgs” – sollte ein grundsätzliches Gefühl von “creepy” aber nicht sein. Damit macht man es sich zu einfach.
Denn Wegdrehen und sagen “Damit will ich nichts mehr zu tun haben” kann jeder – siehe die Art, wie Deutschland mit dem Netz allgemein umgeht. Viel wichtiger ist es, Wege zu finden, wie wir mit möglichen technischen Paradigmenwechseln wie Google Glass umgehen können. Ein paar von diesen Wegen können gesetzlich sein. Es gibt bereits sehr detaillierte Rechte, was das Aufnehmen von Bildern und den Schutz der abgebildeten Personen angeht. Die “Unsichtbarwerdung” der Kamera hebt diese Rechte nicht auf. Auch ist in vielen Bereichen schon gesetzlich festgelegt, welche Informationen über Menschen in bestimmten Situationen genutzt werden dürfen, zum Beispiel in Bewerbungsgesprächen oder vor Gericht. Wenn die Lage sich ändert, muss man eventuell neue Gesetze schaffen, das wird zu sehen sein.
Viel wichtiger aber sind die gesellschaftlichen Konventionen, die wir untereinander entwickeln. Ein brillanter Paranoia-Film wie Sight zeigt auf, wie es nicht laufen sollte – das liegt aber an uns! Meine Freundin muss mich regelmäßig treten, weil ich in Gesprächsrunden dazu neige, das Handy rauszuholen und mich ablenken zu lassen. Das ist aber nicht die Unhöflichkeit des Handys, sondern meine. In anderen Kontexten – zum Beispiel in einem geschäftlichen Treffen, oder mit Freunden, bei denen das Nebenher-Handy-gucken etabliert ist – kann es völlig in Ordnung sein, sich nebenbei Notizen zu machen, Informationen zu verifizieren oder sogar zu twittern.
Das Filmen mit versteckter Kamera ist schon heute – außer für investigative Reportagen – gesellschaftlich geächtet, obwohl es nicht eindeutig verboten ist. Genauso kann es zur Konvention werden, dass man sein Google Glass absetzt, wenn man sich mit jemandem persönlich unterhält. Oder eben nicht, wenn der andere das okay findet. Es könnte normal werden, dass man in Clubs seine Googlebrille in der Tasche lässt, so wie man im Theater das Handy stumm schaltet. Dass sich, wie immer, viele Idioten an solche Konventionen nicht halten (ICH REDE MIT EUCH, HANDY-IM-KINO-BENUTZER!) ist wahrscheinlich. Aber einen Cyborg im Bekanntenkreis würde ich trotzdem erstmal ansprechen, bevor ich ihn ausgrenze.
Die Musical-Verfilmung Les Misérables hatte meiner Ansicht nach so einige Probleme. Unter anderem litt sie unter schlecht inszenierter Action und einem furchtbar langweiligen dritten Akt, dessen essenzielle Konflikte ständig in einer Ariensoße zu ertrinken drohten. Was mich allerdings nicht gestört hat, obwohl es (exemplarisch) anderswo originell beschimpft wurde, war der am Set aufgenommene Live-Gesang, der an die Stelle des traditionellen Vollplaybacks zu einer im Studio aufgenommenen Version trat.
Tom Hooper und sein Team wurden nicht müde, das Alleinstellungsmerkmal dieses Verfahrens zu betonen (obwohl Julie Taymor es vor fünf Jahren in Across the Universe auch schon gemacht hat, was sogar Improvisation am Set zuließ) – und ich fand es funktionierte. Die velorene Gesangsqualität wurde durch rohe Emotion ausgeglichen.
Zur wahren Emotionalität fehlt Les Misérables aber dennoch der entscheidende Schritt. Denn all das endlose Gesinge in Paris findet ja nach wie vor außerhalb der Diegese der Handlung statt. Es ist eine Konvention des Genres, dass alle Charaktere singen, statt zu sprechen. Behandelt werden ihre stimmlichen Äußerungen aber so – egal ob live oder nicht – als würden sie sprechen; was man daran erkennt, dass die Musik aus dem Nichts kommt und niemand zugibt, dass er gerade singt.
Echtes Singen aber ist ein zutiefst emotionaler Akt, bei dem ein Mensch ein Stück seiner Seele offenbart. Und außerhalb von (technisch unterstützten) Performance-Situationen steigt diese Seelenoffenbarung, diese Zurschaustellung von Verletzlichkeit, die dadurch aber eine umso intensivere emotionale Bindung zulässt, noch um ein Vielfaches.
Daher liebe ich es, wenn Menschen in Filmen “echt” singen, das heißt der Akt des Singens findet innerhalb der Handlungswelt statt. Keiner der Singenden steht dabei auf einer Bühne, in einer anderen Sphäre, sondern der Gesang ist Teil der unmittelbaren Lebenswelt aller beteiligten Figuren. Eine schwammige Definition, ich weiß, aber vielleicht kann die folgendes Sammlung meiner Lieblingsbeispiele demonstrieren, was ich meine. Ich freue mich auf die weitere Sammlung in den Kommentaren – vor allem, um das 40-jährige Loch in der Mitte zu stopfen. [Auf Facebook sind schon ein paar gute Ergänzungen eingegangen]
1. It Happened One Night (1934)
Das Video zeigt den ganzen Film, die relevante Stelle ist hier.
Das waren noch Zeiten, als man Songs noch ungestraft mitten in einen Film einbauen konnte. Hier haben sich Clark Gable und Claudette Colbert lange angekabbelt und nun endlich eine gemeinsame Linie gefunden, als sie zusammen im Bus sitzen. Dem Publikum und derm Film selbst wird daher eine Atempause zugestanden, indem der ganze Bus anfängt vom “Daring Young Man on a Flying Trapeze” zu singen. Das wärmt das Herz, sorgt für Gemeinschaftsgefühl und beschwingt den Busfahrer so sehr, dass er in den Graben lenkt – wo die Screwball-Handlung wieder weitergehen kann. Ein echter Coup!
2. Casablanca (1942)
Die wahrscheinlich berühmteste Szene in meiner Aufzählung. In einem Krieg der Lieder gewinnt das Lied der Unterdrückten (dessen textlichen Inhalt man an dieser Stelle besser ausblendet).
3. Paths of Glory (1957)
Genau genommen steht die junge Christiane Kubrick hier natürlich schon auf einer Bühne, doch es gibt keine trennende Linie zwischen Performer und Zuhörer. Im Gegenteil: Die ganze Szene zielt darauf ab, die Demarkationslinie zwischen Soldaten und Zivilisten, Besatzern und Besetzten, “Guten” und “Bösen” einzureißen. Das Motiv des traurigen Lieds von der Heimat, das die Soldaten in ihrer Menschlichkeit vereint, taucht hier weder zum ersten, noch zum letzten Mal auf.
4. Almost Famous (2001)
Cameron Crowe schummelt ein bisschen, weil er die Original-Aufnahme des Songs unter die Szene legt, das nimmt dieser entfernten Kusine von Szene Nummer 1 aber nichts von ihrer Wirkung. An einem absoluten Tiefpunkt angekommen, groovt sich eine zerstrittene Band hier mit einem Song, den sie liebt, wieder zurück in die positive Zone. Wer sich jemals wirklich mit einer Band im Auto/Bus die Fahrt mit Musik vertrieben hat, weiß, dass solche Momente magisch sind.
5. Moneyball (2011)
“I’m just a little girl lost in the moment.” Hier wird ein Song zum Bindeglied zwischen einer Tochter und dem Vater, der sie vernachlässigt hat, weil er von Baseball-Statisken besessen ist und der sich eben nicht zurücklehnen kann “and just enjoy the show”. Und der Song verbindet sie bis zum Ende des Films, wenn die Baseball-Mission des Vaters gescheitert ist, Tochter und Song aber zum Glück noch da sind.
Ich muss zugeben, dass ich meinen Kollegen Maik Platzen schon ein bisschen beneidet habe, als er nach Toronto geflogen ist, um David Cronenberg zu interviewen – für seine “Kennwort Kino”-Sendung zu Cronenbergs 70. Geburtstag. Im “Bell Lighthouse” des Toronto International Film Festival, wo das Interview gedreht wurde, war ich ja während meines Nordamerika-Trips 2011 auch zu Gast und auch wenn ich David Cronenbergs Filme nicht immer gut finde, kann ich Ihnen zumindest immer eine interessante Idee oder einen Anreiz für meine eigenen Gedanken abgewinnen. Manche Filme, eXistenZ oder A History of Violence zum Beispiel, gehören aber auch zu meinen persönlichen Favoriten.
Cronenberg hat sich als ein extrem eloquenter und interessanter Interviewpartner erwiesen, und sein Rückblick auf seine inzwischen fast 50 Jahre umspannende Karriere ist keine Minute langweilig. Humor hat er auch. Das alles weiß ich, weil Maik und ich gemeinsam dafür sorgen konnten, dass das komplette 90-minütige Interview auch online abrufbar ist. Wer sich also für den kanadischen Meister des Schreckens interessiert, kann ihm auf der 3sat-Website 90 Minuten beim Nachdenken zuhören.
Und wer dann noch Maiks Blick auf Cronenberg sehen will, kann am Donnerstag, 14. Dezember, um 22.25 Uhr auf 3sat das Kennwort Kino “Die dunklen Begierden des David Cronenberg” schauen – anschließend auch in der Mediathek.
Man kann sicher geteilter Meinung darüber sein, ob es überhaupt einen Film Cloudy with a Chance of Meatballs 2 geben sollte. Ich fand den Ursprungsfilm ziemlich gut, hatte aber auch den Eindruck, dass die Geschichte am Ende des Films auch zuende erzählt war. Dass in Teil zwei zum erzählereisch wenig überzeugenden Mittel gegriffen wird, dass die Helden wegfahren müssen, um irgendwas zu machen, und dann zurückkehren, bestätigt diese Einschätzung. Auch hätte ich mir einen etwas kreativeren Titel gewünscht, eine Variation des ersten Titels, etwa “Heiter mit Aussicht auf Quarkkuchen” oder so. Aber egal, immerhin scheinen sie im neuen Film wirklich in den vollen Gaga-Modus geschaltet zu haben.
Deswegen bin ich aber nicht hier, ich wollte stattdessen mal einen Blick auf den ersten Trailer für den neuen Film werfen, der diese Woche im Netz gelandet ist. Und vor allem auf die deutsche Übersetzung. Denn der Englische Trailer setzt radikal und bis zum Abwinken auf puns für seinen Humor. Und jedem Übersetzenden dürften sich dabei die Zehennägel aufgerollt haben.
Puns sind im englischsprachigen Raum ja doch ein bisschen so etwas wie eine Kunstform. Der Kalauer ist hingegen in Deutschland nicht so hoch angesehen – obwohl es auch hier Könige gibt, wie Willy Astor und das Postillon-Kollektiv. Ich liebe Wortakrobatik gepaart mit dummen Witzen, aber die Menschen, die das ganze übersetzen müssen (noch dazu mit mächtig Zeitdruck) können einem wirklich leid tun.
Hier ist der deutsche Trailer:
Haben die Damen und Herren, die hier am Werk waren, einen guten Job gemacht? Weil ich manchmal einn Hang zu sinnlosen Unterfangen habe, dachte ich, ich vergleiche mal die Original-Pointen mit den deutschen. Los geht’s.
Englisch: Are those Shrimpanzees? Deutsch: Sind das Shrimpansen?
Wir steigen einfach ein. Zum Glück sind sowohl “Shrimp” als auch “Schimpanse” relativ sprachneutrale Wörter.
Auch “Moskito” und “Toast” sind Lehnwörter, wie praktisch. Der “Butterfly”-Witz, der im Bild noch versteckt ist, geht allerdings verloren. Und ist der Frosch der “Butter” sagt (aus dem deutschen Trailer rausgeschnitten) vieleicht auch eine Anspielung auf die alten Budweiser-Werbespots?
Englisch: Those are some tasty-looking Jellyfish! Deutsch: Die Quallwiche sehen aber lecker aus.
Jetzt wird es schon schwerer. Um den englischen Witz zu verstehen, muss man nicht nur wissen, dass Quallen auch in unserer Welt “Jellyfish” heißen (eine Art Beschreibung ihres Äußeren), sondern auch dass “Peanut Butter and Jelly”-Sandwiches (auch “PB&J” genannt) ein typisches amerikanisches Kinderessen sind. “Quallwiche” gibt es nicht, aber das Sandwich-Element wird gerettet und es beschreibt die Viecher ganz gut. Sähen sie auch nur etwas weniger nach Sandwiches aus, hätte man sie wahrscheinlich einfach “Fischbrötchen” nennen können. Ich glaube hier gibt es noch Möglichkeiten.
Noch einmal einfach. Zum Glück klingen Krokodile fast überall gleich. Auch wenn “Crocodile” im amerikanischen Englisch “Krahkodail” ausgesprochen wird, und damit an “Taco” natürlich näher dran ist als “Kroko”.
Englisch: It’s no picnic saving the world! Deutsch: Die Welt retten ist kein Zuckerschlecken!
Diese Tafel wurde der Einfachheit halber durch einen Offtext ersetzt (die Zeit muss wirklich knapp gewesen sein). Gut gelöst! Meine Alternativ-Vorschläge: “Das Leben ist kein Geflügelhof”, “Das wird nicht light” oder irgendwas mit Diäten erhöhen.
Englisch: There’s a leek in the boat! Deutsch: Das Boot laucht!
Der Höhepunkt des Trailers schifft (höhö) im Deutschen leider völlig ab. Blöd, dass “Lauch” und “Leck” (leak) im Deutschen keine Homonyme sind. Wenn man einen Kalauer machen will, muss man sich also für ein Wort entscheiden und von dort aus assoziieren. “Alles auf Lauchstation” zum Beispiel oder “Leck mich am Stengel!”. Ad hoc fällt mir natürlich auch nichts gutes ein, aber ich spüre, dass es einen Ausweg gibt. Warten wir mal den Zusammenhang im Film ab. “Das Boot laucht” ist zumindest so grundbescheuert, dass es schon irgendwie wieder lustig ist.
Englisch: Breakfast bog, food animal jungle, big rock candy mountain Deutsch: Frühstückssumpf, Fresstierdschungel, Zuckergussgebirge
Die ersten beiden sind eigentlich keine Kalauer. “Fresstierdschungel” klingt fast besser als “Food animal jungle”. Die “Big Rock Candy Mountains” sind das englische Äquivalent zum Schlaraffenland, das geht natürlich verloren. Aber für’s erste okay.
English: Piece of cake! Deutsch: Pustekuchen!
Großartig! “Pustekuchen” bedeutet zwar “Blödsinn” und nicht “Total einfach”, aber beides hat etwas von Abwinken und so fällt das gar nicht auf und der Kuchen ist gerechtfertigt. Respekt!
Englisch: We can call him “Berry”. Deutsch: Oh, wie süß!
Witz einfach geschluckt. Man hätte einen “Beertram” draus machen können.
Alles in allem eigentlich eine solide Leistung. Es bleibt abzuwarten, ob der ganze Film so kalauerig ist (na dann, Mahlzeit!), oder ob sich das Ganze in Grenzen hält und nur für den Trailer thematisch zusamengezogen wurde. Ich denke, die Übersetzenden haben sich das gleiche gedacht. Ich werde die Augen offenhalten.
Dass Fernsehen angeblich das neue Kino ist – zumindest insofern, als dass dort derzeit die interessantesten Inhalte produziert werden – ist inzwischen schon zu einer Binsenweisheit geworden. Dazu passen diverse Beobachtung, etwa dass hochwertige Serien wie “House of Cards” anscheinend auch nicht nach dem traditionellen Fernsehmodell gedreht, sondern eher wie ein 13-stündiger Megafilm angegangen werden, in dem verschiedene Regisseure eben verschiedene Teile inszenieren (ich habe das irgendwo gelesen oder gehört, aber ich kann leider zu keiner Quelle mehr verlinken Danke an Denis für den Link). Auch ein Artikel des “Economist” über die derzeitige Hollywoodkrise weist in die entsprechende Richtung und das Drama Blog fragt zurecht: “Steht Hollywood eine Zeitenwende bevor?” From Tinseltown to TV-Town?
Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass es auch eine Bewegung in die entgegengesetzte Richtung gibt. Besonders unter dem Banner des Disneykonzerns haben sich Strukturen herausgebildet, die das sündhaft teure Filmgeschäft durch eine Art Insourcing näher an die Produktionsbedingungen von TV heranrücken. Pixar etwa, mit seinen festangestellten In-House-Autoren, deren Arbeitsweise an die Writer’s Rooms von Serien erinnern. Und Marvel, über die “/film” vor kurzem schrieb, ihre Verträge würden denen gleichen, die im Fernsehen üblich sind.
Überhaupt: Marvel. Deren “Mavel Cinematic Universe: Phase 1” lässt sich eigentlich auch fast wie eine gigantische Fernsehserie lesen. Sicher, diese Struktur wurde nachgeschoben, nachdem Iron Man so erfolgreich war, aber im Grunde könnte man Kevin Feige als eine Art Showrunner betrachten, der die Serie bis zum Staffelfinale in den Avengers geführt hat. Joss Whedon ist jetzt der neue Showrunner, der Überblickbehalter über das Universum, das sich ja in der zweiten Phase/Staffel nun auch tatsächlich in ein Fernsehformat vorwagen will, mit “SHIELD”.
Nicht direkt mit dem Thema dieses Artikels verwandt, aber ebenfalls bemerkenswert: Kevin Feige hat gesagt, The Winter Soldier, der zweite Film mit Captain America wird ein Polit-Thriller. Auch Iron Man 3 soll anders werden als seine beiden Vorgänger und so den Charakteren neues Leben einhauchen. Ich finde das Konzept interessant, sich zu überlegen, aus dem “Superhelden-Film” weniger ein Genre als eine Gattung zu machen, dem man, so Feige, “Sub-Genres anheften” kann. Wenn Marvel weiter so erfolgreich ist, könnte innerhalb des MCU theoretisch in Zukunft Filme jeden Genres entstehen. Mit Joss Whedon im Team, der ja im Buffyversum auch schon Musicals veranstaltet hat, bin ich gespannt, was da noch kommt.
Kassel, Herbst 2001. Mein Chef hat mich freundlicherweise mitgenommen auf die Tradeshow der Filmverleiher, auf der den Kinobesitzern die möglichen Hits der nächsten Monate vorgestellt werden. Highlight Film stellt dort den Film Serendipity mit John Cusack und Kate Beckinsale vor, eine romantische Komödie, die ihren Titel im Trailer erklärt.
When Love Feels Like Magic, It’s called Destiny. When Destiny Has A Sense of Humor, It’s Called Serendipity.
“Wir suchen übrigens noch einen deutschen Titel”, heißt es nach dem Trailer aus der Richtung der Verleiher. Klar, “Serendipity” ist für Deutsche nicht nur ein Zugenbrecher, es lässt sich auch nicht direkt übersetzen. “Glücklicher Zufall”, vielleicht, aber dem fehlt dieser besondere, fröhlich klimpernde Klang des Wortes. Ich schlage “Ironie des Zufalls” vor, auch eine eher schwache Idee. Am Ende kommt der Film ein halbes Jahr später als Weil es dich gibt in die Kinos. Love, Magic, Destiny, Humor – und ein fröhlich klimperndes Wort ausgemerzt zugunsten einer hohlen Grußkartenformel. Man kann deutsche Filmtitel nur hassen.
Mainz, Jahresanfang 2013. Im März zeigt 3sat eine ambitionierte Filmreihe über die unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen in islamischen Ländern. Die Filmredaktion hat zwei Spielfilme beigesteuert, für die ich als Redakteur fungiere. Für Leila Kilanis faszinierenden Genremix Sur la Planche suchen wir in der Redaktionskonferenz einen deutschen Titel. “Sur La Planche” bedeutet “auf der Planke”, “auf dem Sprungbrett”, vor der Entscheidung in ein neues Leben zu springen oder in den Abgrund zu fallen – so sieht Badia, die Hauptfigur des Films, sich selbst. Der englische Festivaltitel lautet “On the Edge”. Eine deutsche Entsprechung wäre vielleicht “Auf Messsers Schneide” oder “Auf dem Sprung”. Wir diskutieren angeregt und immer wieder fällt das Argument, dass der Film herausstechen, dass der Titel etwas aussagen muss. Am Ende entscheiden wir uns, auch mit meiner Stimme, für den Titel Nachts in Tanger. Die spannungsgeladene Lebensentscheidung einer jungen Frau, geopfert zugunsten eines Titels, der Mysterien und einen exotischen Schauplatz verheißt (beides bietet der Film übrigens auch tatsächlich). Deutsche Filmtitel, das Geschmeiß der internationalen Filmlandschaft.
Ich bin Mittäter. Ich bin mit dafür verantwortlich, dass bei der Übertragung von Originaltiteln für die deutsche Vermarktung hässliche Kompromisse eingegangen werden. Und das obwohl ich jahrelang nichts anderes gemacht habe, als auf deutsche Titel zu schimpfen. Ich hatte sogar mal mit einem Kollegen überlegt, ein Buch mit den “100 bescheuertsten deutschen Filmtiteln” herauszugeben – von den Schauspieler/Figur-vertauschenden Entgleisungen der sechziger Jahre (Frankie und seine Spießgesellen), über die (häufig mehrfachen) Sinnentstellungen des B-Movie und Direct-To-Video-Marktes, bis hin zum nouveau-anglais der 2000er, in denen englischsprachige Filme einen anderen englischen Titel bekommen und so aus Rabbit-Proof Fence in Deutschland Long Walk Home wird.
Kein Wunder, dass Woody Allen sich in seine Verträge schreiben lässt, dass die Titel seiner Filme im Ausland nicht geändert werden dürfen. Und ebenso kein Wunder, dass im Sinne internationalen Markenerhalts immer mehr große Filme einfach ihren Originaltitel behalten. Das Ergebnis: Zuschauer, die auch nicht so richtig wissen, was der Filmtitel eigentlich bedeutet (sogar ich mit meinem Magister in Anglistik musste mir Zero Dark Thirty erklären lassen) und sich an der Kinokasse die Zunge verrenken.
Aber ist das nicht immer noch besser, als der sonst übliche Krampf, bei dem oberstes Gesetz ist, dass schon der Titel des Films nur eine mögliche Assoziation zulässt, die dem Zuschauer jedes eigenständige Denken abnimmt. Bridesmaids mit “Brautjungfern” zu übersetzen kommt nicht in die Tüte, nur Brautalarm schreit laut genug KOMÖDIE!!!! – auch noch, wenn der Film aus den Kinos ist und beim Blättern in der Videothek oder der Fernsehzeitschrift gefunden werden soll. Am meisten lache ich mir immer ins Fäustchen, wenn sich Titelentscheidungen im Nachhinein als dumm herausstellen, und Dan Browns Buch in Deutschland als “Sakrileg” erscheint (denn Bahnhofsbuchhandlungs-Thriller dürfen immer nur reißerische Ein-Wort-Titel haben – oder brauchen, wie Terry Pratchett schon festgestellt hat, mindestens einen griechischen Buchstaben im Titel), dann aber als “Da Vinci Code” ein globales Phänomen wird und der Film quasi mit zwei Titeln ins Kino kommen muss.
Dabei wird uns Deutschen doch mit unseren eigenen Filmtiteln viel mehr eigenes Denkvermögen zugetraut. Selbst bei Keinohrhasen würde doch nicht sofort jeder an eine romantische Komödie denken, es ist einfach ein clever klingendes Wort, das Interesse weckt (soviel muss man dem Film schon zugestehen). Schutzengel (um mal im Schweigerversum zu bleiben) könnte genau so gut ein Liebesdrama im Rettungssanitäter-Milieu sein wie ein Thriller über einen Ex-Cop und seine Tochter. Wäre der Film ein englischer und hieße “Guardian Angel”, hieße er in Deutschland sicher “Der Guardian” (weil das härter klingt) oder er würde einen markigen Untertitel wie “- er lässt dich nicht allein” bekommen (man denke an The Rock – Fels der Entscheidung). Bestimmte Phrasen stehen für alle Genres ja auch schon readymade zur Verfügung, “… zum Verlieben” für Romantik und “… zum Knutschen” für Komödien, zum Beispiel.
Und doch: ich kann die Denke dahinter verstehen, weil ich inzwischen in der gleichen Situation war. Nachts in Tanger erweckt einfach mehr Aufmerksamkeit als “Auf dem Sprung”, ein Filmtitel, hinter dem alles und nichts stecken kann. Und ich möchte ja, dass diese Perle von einem Film, in dessen Akquise und Bearbeitung viel Mühe geflossen ist, gefunden und geschaut wird. Denn Wörtlichkeit in der Übersetzung ist auch gar nicht das, worauf es ankommt – jeder der mal übersetzt hat, wird mir da hoffentlich zustimmen. Vielleicht gibt es ja einen Mittelweg, in dem man sich Freiheiten erlaubt, aber sein Publikum trotzdem nicht restlos für dumm verkauft. Ich hoffe, dass mir das mit Nachts in Tanger gelungen ist.
Die 3sat-Filmreihe “Frauen im Islam” startet am 3. März. Nachts in Tanger läuft am 7. März um 22.25 Uhr, im arabischen Original mit deutschen Untertiteln.