Eurodance ist eine merkwürdige Obsession von mir. Ich bin 1983 geboren, und damit fiel die dominante Zeit des Genres genau in die Zeit, in der ich begann, Popmusik für mich zu entdecken. Ich war sehr begeistert davon und mein Zimmer war übersät mit Postern von 2 Unlimited und Twenty 4 Seven. Recht gleichzeitig mit dem Ende des Eurodance-Booms jedoch hatte ich einen rockist turn und wandte mich komplett von elektronischer Musik ab. Statt also meine Studienzeit tanzend in Clubs zu verbringen, wurde ich zum Experten für Prog-Rock – so weit entfernt vom Dunstkreis “Techno”, wie man nur sein kann.
Vor einigen Jahren, im Zuge genereller Kindheits-Nostalgie-Neubewertung, habe ich Eurodance auch noch einmal neu betrachtet. Mir sind sofort ein paar Dinge an dieser kuriosen musikalischen Randerscheinung aufgefallen und ich wollte mehr dazu herausfinden. Also habe ich eine ARTE-Doku gesehen und ein paar Bücher gelesen. Wirklich gute gibt es nicht. Das Fan-Werk Move Your Body ist vor allem ein recht enzyklopädischer Überblick, Marcel Feiges Deep in Techno streift Eurodance nur sehr am Rande. Am aufschlussreichsten war das niederländische No Limits, in dem eine Menge Interview- und Recherchearbeit steckt, das aber am Ende doch vor allem unterhalten will.
Eurodance bleibt also vergleichsweise unentdeckt, vor allem, wenn es darum geht, es nicht nur als 90er-Nostalgie-Kuriosum, sondern als musik- und kulturgeschichtliches Phänomen zu begreifen. Mein Traum wäre es, an dieser Aufarbeitung mitzuwirken – ein Buch dazu zu schreiben oder einen Podcast zu produzieren. Das wird aber sehr wahrscheinlich nicht passieren, deswegen teile ich einfach an dieser Stelle in Form von acht Thesen schon mal die Gedanken, die ich mir bisher gemacht habe. Die meisten von ihnen sind relativ einfach und einleuchtend, aber ich finde, dass sie in ihrer Gesamtheit ein differenziertes Bild ergeben und das Potenzial einer guten Geschichte haben.
1. Eurodance ist die populäre Evolution von elektronischer Tanzmusik
Die Wurzeln des Eurodance liegen im Detroiter House (stampfende Beats) und im Hip-Hop (Rap-Gesang). Über die Übergangsform des Hip-House fügte Eurodance seinen Vorgängern etwas hinzu, was diese nicht hatten: mitsingbare Refrains (meist mit “Diva Vocals”) und Performer, die die Songs auf der Bühne verkörpern konnten. Damit wurde Eurodance zu einer Pop-Radio-tauglichen Evolution von allem, was sich unter Labels wie “Dance” oder “Techno” zusammenfassen lässt.
2. Eurodance war ein Strohfeuer …
“Rhythm is a Dancer” von Snap! gilt gemeinhin als der erste prototypische Eurodance-Track. Der Song wurde 1992 veröffentlicht. Der letzte richtig große Eurodance-Hit war Aquas “Barbie Girl”, fünf Jahre später. Wenn man großzügig ist, könnte man Eiffel 65s “Blue” und die Songs der Vengaboys noch dazurechnen, aber 1999 waren sie schon eher Außenseiter in der Popmusik-Landschaft. Die Jahre 1993 bis 1996 waren die dominanten Jahre des Eurodance, in denen die Jahres-Hitlisten voll davon sind. Wie die Kraans in No Limit anmerken, kann man die Zeit noch grob in zwei Phasen unterteilen, die der Pioniere (1992-1994) und die der Epigonen (1995-1996). Zu unterscheiden vor allem am Originalitätsgrad – etwa 2 Unlimited vs. Dolls United.
3. … mit spürbarem Einfluss
Musikgeschichtlich bekommt man immer ein wenig den Eindruck, die Welt sei spätestens 1996 aufgewacht, hat sich ein bisschen dafür geschämt, dass sie in den letzten drei Jahren etwas zu viel Ecstasy eingeworfen hatte, und hätte dann schnell so getan, als habe es Eurodance nicht gegeben. Elektronische Musik im Mainstream wurde gefälliger und weniger Popsong-mäßig (Gigi D’Agostino, Dario G), die restliche Popmusik konzentrierte sich auf Boygroups und Britney Spears. Aber nicht nur gab es natürlich weiter Eurodance-Acts und bis heute einen Revival-Circuit der auf der Nostalgiewelle reitet (meiner Ansicht nach der langweiligste Aspekt des ganzen Phänomens), aber die Kombi aus House Beats und Pop-Produktion war nach den 90ern einfach als ein Standard im Mainstream-Pop gesetzt, bis sie rund 10-15 Jahre später von den jetzt dominanten Reggaeton- und Afrobeats-Einflüssen abgelöst wurde. Der Siegeszug von “EDM” in den USA wäre ohne Eurodance schwer denkbar, denn in europäischen Clubs wurde zu diesem Zeitpunkt längst andere Musik gehört.
4. Es gibt zwei Geschichten des Eurodance
Dance/Techno/Wie immer man es nennen will, ist Musik von Producer-DJs für Producer-DJs. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich dieses Ökosystem kapiert hatte – dass also diejenigen, die die Musik am Computer bauen, in der Regel die gleichen sind, die sie später im Club auflegen. Eurodance hat dem (siehe 1.) eine weitere Komponente hinzugefügt: Personen, die die Songs auf einer Bühne performen, meist Sängerinnen und Rapper. No Limits war zwischen den Zeilen zu entnehmen, dass es dadurch im Grunde zwei Erzählstränge gibt: Die Performer reisten auf dem Erfolg ihrer Songs rund um die Welt und erlebten klassische Popstar-Höhen und -Tiefen. Sie kannten sich auch untereinander und feierten zusammen, weil sie gemeinsam auf Festivals und in Fernsehshows auftraten. Die Produzenten, die die Songs in der Regel (mit Ausnahme der Raps) geschrieben hatten, saßen zu Hause in den Studios, verdienten zwar teilweise auch viel Geld, aber waren meist weit entfernt vom Glitzern der Popwelt. Zwischen ihnen gab es auch allem Anschein nach wenig Austausch, obwohl sie die eigentlichen Architekten des Eurodance waren. In der Diskrepanz zwischen diesen beiden Geschichten liegt eine zu erforschende Spannung.
5. Was die Mainstreamisierung mit der Techno-Szene gemacht hat, ist mir noch nicht ganz klar
In Deep in Techno und anderen Berichten aus der deutschen Techno-Zeit in der ersten Hälfte der 90er Jahre (z. B. Der Klang der Familie) tropft die Verachtung für Eurodance und seine Nutznießer innerhalb der deutschen Szene, Leute wie Marusha oder Mark’Oh, aus jeder Pore. Die DJs, bei denen sich H.P. Baxxter in “Hyper Hyper” bedankt, waren der Legende nach alles andere als glücklich, in einem solchen Song aufzutauchen. Gleichzeitig hat der Mainstream-Boom elektronischer Musik mit Love Parade & Co zu enormer Popularität verholfen und dafür gesorgt, dass sie heute eine dominante Form von Ausgehkultur ist. In den Niederlanden, wo der Eurodance eher aus dem Gabber und Hardcore in den Mainstream geschwappt ist, schein mir das Verhältnis zu den Popstars von damals ein anderes zu sein. Ist das alles nur der übliche Beef, der immer entsteht, wenn ein Underground-Phänomen populär wird und sich “ausverkauft”, oder ist hier mehr im Spiel?
6. Eurodance ist ein europäisches Phänomen
Als ich 1999 das erste Mal in den USA war, war ich erstaunt, wie wenig die elektronische Musik, die ich in Europa als absolut dominant erlebt hatte, dort stattgefunden hatte. Einzelne Songs wie “Mr. Vain” waren zwar auch in den USA Charterfolge, aber “Techno” wurde dort eher als Randerscheinung belächelt, während Schwarze Musik, insbesondere R&B, ein wesentlich größeres Stück des Popmusik-Kuchens ausmachte. Eurodance ist Musik von Europäern für Europäer. Es ist eine Melange verschiedener Strömungen und Traditionen in der europäischen Pop- und elektronischen Musik – englischer Hardcore, Frankfurter House, niederländischer Gabber, Italo-Disco, schwedischer Pop im Kielwasser von Abba – der nur hier entstehen konnte.
7. Eurodance hat eine politische Dimension
Das ist der große Punkt, der irgendwie in allen Geschichten der Musik ausgespart wird, und bei dem ich gespannt bin, ob 90er-Kulturgeschichten wie das bald erscheinende Jahrzehnte-Buch von Pop-Historiker Jens Balzer mehr zu sagen haben. Irgendwas muss diese neu erwachte, knallbunte pan-europäische Feierkultur doch mit dem Fall des eisernen Vorhangs zu tun haben. Eurodance ist Party-Mucke mit sinnlosen Texten, in der es selten um mehr als Liebe und Freude am Tanzen geht, und eins von vielen Bildern, das man von den frühen 90ern haben kann, ist das einer nicht endenden Party. Im Allgemeinen wird diese Korrelation immer nur dem Techno zugeschrieben und nicht seinem Pop-Cousin, dem Eurodance. Aber die beiden gehören zusammen.
8. Eurodance bedeutete Sichtbarkeit für People of Color
Ich war sehr dankbar für einen Artikel von Nadia Shehadeh, die mich auf einen Aspekt von Eurodance aufmerksam gemacht hat, über den ich zuvor kaum nachgedacht hatte. Viele der Performer im Eurodance, vor allem Sängerinnen und Rapper, waren People of Color. Bei deutschen Eurodance-Acts waren es vor allem Menschen aus dem Umfeld des in Deutschland stationierten US-Militärs, die als PoC auf den Bühnen standen. In den Niederlanden waren es eher Menschen mit Wurzeln in ehemaligen Kolonien wie Surinam, am prominentesten sicherlich Anita Doth von 2 Unlimited. Wie Nadia schreibt, war diese Sichtbarkeit ein zweischneidiges Schwert, das sowohl große Diversität in der Pop-Welt, aber auch eine Exotisierung und Austauschbarkeit mit sich brachte. Ein Aspekt, den es auf jeden Fall zu bedenken gilt.
Ich freue mich auf Austausch zu diesem Thema. Gibt es noch andere Menschen, die sich mit diesem Blick dafür begeistern könnten? Gibt es jemanden, der einen Autor oder Podcast-Producer braucht, der sich dem Thema annehmen könnte? Ich wäre bereit.
Alles beschleunigt, aber nichts verändert sich. Das ist das dominante Zeitgefühl der Postmoderne, spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends. Die Krisen mögen zunehmen, die Computerchips kleiner werden, aber wann war das letzte Mal, dass wir in der nördlichen Hemisphäre wirklich das Gefühl hatten: Oh, das ist neu, und das wird alles verändern?
Die globale Pandemie? Na ja, ich arbeite jetzt halt vier Tage die Woche von zu Hause und habe drei Jahre lang Maske getragen, aber trotz der vielen Toten – mein Leben hat sich eher trotz als wegen Covid verändert. Der Krieg in der Ukraine? Ich habe meine Abschlagszahlung für Öl und Gas etwas erhöht, fertig. Ich weiß natürlich, dass es viele individuelle Schicksale gibt, die die Auswirkungen deutlich mehr gespürt haben, als ich. Aber aus breiterer Perspektive hat sich doch das Leben im Rest der Welt auch nicht mehr verändert als bei einem Krieg, der weiter weg gewesen wäre. Das ist ja das absurde.
Simon Reynolds hat für dieses Gefühl in seinem Buch Retromania den Begriff Hyper-Stasis geschaffen. Ich habe mal das längere Originalzitat rausgesucht, das sich ursprünglich nur auf Musik bezieht. Reynolds beschreibt,
feeling impressed by the restless intelligence at work in the music, but missing that sensation of absolute newness, the sorely craved ‘never heard anything like this before’. Hyper-stasis can apply to particular works by individual artists, but also to entire fields of music. (…) In the analogue era, everyday life moved slowly (you had to wait for the news, and for new releases) but the culture as a whole felt like it was surging forward. In the digital present, everyday life consists of hyper-acceleration and near-instantaneity (downloading, web pages constantly being refreshed, the impatient skimming of text on screens), but on the macro-cultural level things feel static and stalled. We have this paradoxical combination of speed and standstill.
Simon Reynolds: Retromania: Pop Culture’s Addiction to its Own Past (2010)
Ich denke über dieses Gefühl seit mindestens zwölf Jahren nach, und ich suche entsprechend seit zwölf Jahren nach einem Ausweg daraus. Jetzt, 2023, bin ich erstmals bereit, zu behaupten: Ich denke, er steht bevor. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine folgt der Formel Change by Disaster. Der andere hat Kulturproduktion jetzt schon grundlegend verändert – und dabei hat seine Zeit gerade erst begonnen.
Klimawandel oder Klimakatastrophe?
Das erste, was mir einfiel, nachdem ich Retromania gelesen hatte, war: Wie hängt das alles mit Untergangsdenken zusammen? Ich habe sogar Simon Reynolds bei einer Lesung danach gefragt: Wäre nicht eine Katastrophe der Ausweg aus der Hyper-Stasis? Er hat gelacht und hatte keine weiteren Gedanken dazu, aber ich bleibe dabei: Ist das nicht in einer apokalyptisch geprägten Kultur wie der unseren eigentlich sogar der explizite Wunsch, auf den wir hinsteuern? Eine großeZäsur, eine wirkliche Zeitenwende, die die Spreu vom Weizen trennt und uns in einem Zug endlich von der großen Ennui befreit, die mit der Hyper-Stasis einhergeht.
Die Pandemie hatte ja bei vielen Menschen interessanterweise genau den gegenteiligen Effekt. Sie war etwas Schleichendes, Unsichtbares. Keine unmittelbare Bedrohung, sondern etwas, was für noch mehr Zeitlosigkeit sorgte.
Aber: Wie steht es mit der bevorstehenden Klimakatastrophe?
Als ich mit meinem Kulturindustrie-Co-Host Sascha im November 2019 über Nostalgie gesprochen habe, hat er etwas gesagt, was mir sehr im Kopf geblieben ist: “Ich glaube, dass das alles in der Zukunft noch schlimmer wird.” Die Angst vor der Zukunft werde die ganze Welt in die Vergangenheit treiben, meinte er. Das passt zu dem, was ich im Oktober geschrieben habe: Eventuell besteht die Reaktion der Menschheit im Angesicht der Katastrophe vor allem in einem herzhaften “Weiter so”.
Vielleicht aber sorgen die zunehmenden Vorboten des Kollapses aber auch für eine Veränderung der eigenen Wahrnehmung in der großen Erzählung der Menschheit. Eventuell möchte diese doch lieber eine sein, die die Katastrophe in letzter Minute abgewendet hat, als eine, die sehenden Auges und trägen Geistes in sie hineingelaufen ist.
Bei mir und bei einem signifikanten Teil der Bevölkerung, insbesondere in den Generationen nach mir, ist dieses Bewusstsein ja bereits erwacht. Ich glaube, dass es nicht nur die reine Angst ist, die alle antreibt, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzen, sondern auch der Wunsch, aus der bisherigen Rückwärtsgewandtheit auszubrechen.
Das also ist der erste Faktor für den Weg aus der Hyper-Stasis. Die Katastrophe kommt. Und egal ob wir sie abwenden oder nicht – die Welt, auch die kulturelle, wird dadurch auf jeden Fall neu geformt.
Geist in die und aus der Maschine
Der zweite wird seit letzem Jahr so viel diskutiert, dass es fast schon müßig scheint, ihn zu erwähnen. Aber dennoch: Ich denke, dass die zunehmende Macht von generativer Künstlicher Intelligenz uns aus der Hyper-Stasis führen könnte. Was Midjourney, ChatGPT und Co derzeit so fabrizieren, hat bei mir auf jeden Fall das erste Mal seit sehr langer Zeit ein Gefühl von Neuheit und Revolution in der Kulturproduktion hervorgerufen, wie Reynolds es beschreibt. Und das, obwohl generative KIs nur auf Daten und Referenzen zugreifen können, die bereits bestehen, also per Definition eigentlich nichts Neues schaffen können.
Und tatsächlich ist ein großer Einsatzort von generativer KI derzeit die Heraufbeschwörung von Nostalgie und Retromanie, meist für Dinge, die es nie gegeben hat (was Roland Meyer unter #ArtificialNostalgia und #NostalgicWeirdness zusammengefasst hat). Aber nicht nur werden die Maschinen-Lernmodelle schon jetzt von Monat zu Monat besser, sondern auch ihre Operatoren lernen ständig dazu.
Wenn man bedenkt, dass die letzte große Neuheit etwa in der Musik der Einsatz von Computern als Werkzeug war, erscheint es mir nur logisch, dass der nächste große Schritt in der Kulturproduktion der Einsatz von Software sein wird, die in der Lage ist, selbst Kultur zu schaffen. Wird sie damit alleine gelassen, dürfte sie nie etwas genuin Neues erzeugen, allen Befürchtungen von “self-aware” KIs zum Trotz. Aber Mensch und KI sollten gemeinsam in der Lage sein, Kultur zu schöpfen, die keiner von beiden alleine hätte generieren können und die sie wirklich neu anfühlt.
Ich habe bei Zukunftsvorhersagen und Potenzial-Prognosen neuer Technologien nicht die beste Bilanz. Vielleicht bin ich auch nur älter geworden und habe einfach ein großes Bedürfnis nach Ausbruch aus dem Bisherigen. Aber ich denke doch, dass der Hyper-Stasis-Vibe-Shift uns bereits erfasst hat.
Am 25. Februar bin ich 40 Jahre alt geworden. Um ehrlich zu sein beschäftigt mich diese Tatsache seit mindestens einem Jahr. Natürlich sind Alterszahlen relativ willkürliche Grenzen im Leben, aber irgendwas verändert sich ja doch, wenn nicht in einem selbst, dann zumindest in der Wahrnehmung durch andere. Mit 40 ist man auf jeden Fall nicht mehr „jung“. Auch nicht unbedingt alt (außer vielleicht in den Augen meines bald fünfjährigen Kindes), aber doch an einem Punkt angelangt, wo ein entscheidender Teil des Lebens meistens bereits abgeschlossen ist: Adoleszenz, Ausbildung, Berufswahl, Familiengründung.
Es ist logischerweise nicht zu spät, um sich neu zu orientieren. Darüber habe ich mit vielen, die mir ein paar Jahre voraus sind und von denen einige genau das getan haben, in den letzten zwölf Monaten gesprochen. Ich selbst habe das vor einem Jahr beruflich in Angriff genommen, mich nach vielen Jahren in der PR wieder stärker in Richtung Journalismus orientiert und ein wenig Freiberuflichkeit ausprobiert. Da meine größte Angst mehr oder weniger ist, in meinen 40ern irgendwie außerhalb meiner Familie irrelevant zu werden (eine sehr eitle Angst, ich weiß), fühlte sich das schon mal wie ein guter Schritt an. Ich hoffe, dass es gleichzeitig auch ergänzt wird von einer gewissen, auf Erfahrung beruhenden Gelassenheit, von der mir einige Ü40-Menschen erzählt haben. Wir werden sehen.
Ich bin nicht Kevin Kelly
Ich habe lange überlegt, wie ich diesen Augenblick im Blog festhalten kann. Lange Zeit hatte ich die Idee, Ratschläge aus genau der eben erwähnten Erfahrung weiterzugeben, weil ich beispielsweise Kevin Kellys derartige Liste total toll fand. Aber ich fühle mich noch nicht bereit dafür. Also habe ich mich entschieden, zurück und nach innen zu schauen und zu überlegen, welche kulturellen Dinge (ich bin Schließlich im weitesten Sinn Kulturjournalist) mich als Person in den letzten 40 Jahren besonders geprägt haben.
Mein Maßstab dafür war weniger, was noch heute meine „Lieblings“-Bücher, Filme, Musik usw. sind und somit die Zeit überdauert haben, sondern woran ich immer noch öfter als formende Erfahrungen zurückdenke. Momente, in denen ich plötzlich einen neuen Blick auf die Welt wahrnahm, der mein Denken oder Fühlen verändert hat. Außerdem Erfahrungen von Kultur, die etwas in mir geweckt haben: ein Interesse, eine Leidenschaft, eine Gewohnheit, manchmal sogar einen Charakterzug, den ich heute noch in mir erkenne.
Zwischen 8 und 12
Beim Erstellen der Liste, die übrigens natürlich trotz aller Überlegung sehr willkürlich ist und in mindestens der Hälfte der Einträge auch anders aussehen könnte, ist mir aufgefallen, dass die entscheidendste kulturelle Phase meines Lebens etwa die Zeit zwischen 8 und 12 Jahren war. Keine große Erkenntnis aus entwicklungspsychologischer Sicht, ich weiß, aber es hat mich doch erstaunt, wie viele Grundsteine in dieser Zeit gelegt wurden, die ich heute als einen essenziellen Teil von mir betrachte, während vieles, was später kam, sich weniger entscheidend anfühlte – selbst viele Dinge, denen ich im Studium begegnet bin.
Je kürzer zurück die Erinnerungen reichen, desto spärlicher werden sie. Auch das ist logisch. Erstens kann man ihre Wirkkraft noch nicht so gut sehen wie bei älteren Erfahrungen. Zweitens waren für mich etwa die letzten zehn Jahre vermutlich mehr vom Erlernen von sozialen und beruflichen Fähigkeiten geprägt als von kulturellen Ideen. Ich glaube aber auch, dass es eine Rolle spielt, dass ich mein inneres Alter immer ungefähr auf 27 oder 28 beziffern würde. Zu dieser Zeit hatte ich mein Studium, meine ersten zwei Jobs und die ersten ernsthaften Beziehungen gemeistert, fühlte mich also etwas erfahren, aber gleichzeitig kaum festgelegt. Ich konnte überall auftauchen und als Mensch mit Potenzial wahrgenommen werden, und ich verhielt mich auch so. Jetzt, zwölf Jahre später fühle ich mich deutlich mehr „gesetzt“, sowohl innerlich als auch von außen betrachtet. Es wird in den nächsten Jahren wichtig sein, diese Gesetztheit aufzubrechen ohne im Prozess Fundamente zu verlieren, die mir wichtig sind.
Und jetzt endlich: die Liste. Ein größeres Mammutwerk, als ich gedacht hätte. Die Reihenfolge orientiert sich an der ungefähren Zeit, in der ich den Dingen begegnet bin.
1. Chris de Burgh: Spark to a Flame. Meine erste popkulturelle Erinnerung ist Mitsingen zu „Don’t Pay the Ferryman“. Der relativ softe Musikgeschmack meiner Eltern hat mich in jedem Fall geprägt. Noch heute sehe ich immer wieder, dass Popmusik, die eher im Folk als im Blues verwurzelt ist, mich stärker anspricht.
2. Cats und Starlight Express. Ich habe beide Musicals als Kind gesehen und natürlich anschließend die Alben in Dauerrotation gehört. „Musical Theatre“ und besonders der Stil von Andrew Lloyd Webber hat sich in meine DNA eingeschrieben. Trotz allem anderen, was ich im Leben so gemacht habe, würde ich mich, müsste ich mich einem US-Highschool-Clan zuordnen, am ehesten als „Theatre Kid“ bezeichnen.
3. Knister. Späteren Leser*innen dürfte der Kinderbuchautor Knister vor allem als Erfinder der Hexe Lilli bekannt sein. In den 90ern hat er aber eine Reihe Bücher geschrieben, die ich sehr mochte („Teppichpiloten“ zum Beispiel), darunter eins namens „Mikromaus mit Mikrofon“, in dem es darum ging, wie man mit Mikro und Recorder Hörspiele und andere Klangexperimente machen kann. Von dort zum Podcasten war es quasi ein logischer Schritt.
4. Otto Waalkes. Meine Eltern hatten fast alle Otto-Platten aus den 1970er Jahren, und ich habe sie als Kind rauf- und runtergehört – sicherlich ohne sie in all ihren Nuancen zu verstehen. Rückblickend kann ich sagen, dass mein Humor davon stark geprägt wurde. Das gilt für Nonsens und Sprachwitz gleichermaßen wie für die große Musikalität, die Ottos Bühnenprogrammen innewohnt. Dass er ein fantastischer Musiker ist, habe ich erst mit erwachsenen Ohren zu schätzen gelernt.
5. Bart Simpson. Die Simpsons sind inzwischen zum kulturellen Teppich einer ganzen Generation geworden, aber am Anfang war für mich vor allem die Figur von Bart interessant, noch bevor ich die Serie überhaupt geschaut habe. Der Schlingel auf dem Skateboard war lange Zeit mein Idol (ich wollte sogar „Bart“ heißen), obwohl ich weder Skateboard fuhr noch besonders schlecht in der Schule war.
6. Die Sendung mit der Maus. Meine Eltern hatten lange eine sehr restriktive Fernseh-Police und „Die Sendung mit der Maus“ war in den ersten 8 Jahren meines Lebens oft das einzige, das ich überhaupt schauen durfte.
7. Queen: Bohemian Rhapsody. Wie für wahrscheinlich viel Menschen war dieser Song, der sich über seine Laufzeit so stark verändert aber sein Pathos-Level unverändert hochhält, für mich ein musikalisches Erweckungserlebnis. Ich halte ihn für unerreicht.
8. Eurodance. Zwischen 1992 und 1995 bestanden große Teile meiner musikalischen Welt aus, wie ich es damals nannte, „Techno“. „No Limit“ von 2 Unlimited war meine erste Single. Obwohl ich kein großer Hörer elektronischer Musik geworden bin, fasziniert mich Eurodance, dieser Clash aus dem Elektro-Underground und Maximalpop, noch immer. So sehr, dass ich am liebsten mal eine große journalistische Recherche zur damaligen Zeit und ihrer Dynamik, die außerhalb Europas kaum eine Rolle spielte, umsetzen würde.
Tourism (1993)
9. Roxette: Tourism. Meine erste CD war „Joyride“, aber „Tourism“ ist das besonderere Album, weil es ein so ungewöhnliches Konzept hat – eine Mischung aus Aufnahmen, die während einer Welttournee entstanden – manche im Studio, manche live, manche improvisiert. Die Musik von Per Gessle würde ich als eine weitere wichtige Säule meines Musikgeschmacks positionieren. Außerdem war ich damals schwer in Marie Fredriksson verknallt, die ich ebenfalls bis heute toll finde und deren früher Tod bis heute schmerzt.
10. M. C. Escher. Die mathematischen Muster und visuellen Verrenkungen im Werk von M. C. Escher haben mich sofort in ihren Bann gezogen. Ich hatte lange das Bild „Tekenen“ als Druck an der Wand hängen. 2022 habe ich mir ein Penrose Dreieck, das Escher zu einigen seiner Werke inspiriert hat, als Tattoo stechen lassen.
11. 4D Sports Driving („Stunts“). Videospiele wurden ab ca. 1993 ein fester Teil meines Lebens und ich habe viele Klassiker ausführlich gespielt. Am meisten im Kopf geblieben ist mir aber „Stunts“, ein Rennspiel, in dem man mit seinem Fahrzeug durch Loopings fahren und über Brücken springen und – das wichtigste – selbst Strecken bauen konnte. Bis heute sind Sportspiele, von direkten Nachfolgern wie Trackmania bis zu Tony Hawk’s Pro Skater und Fifa eigentlich meine Lieblingsspiele.
12. X-Base.X-Base war eine leider kurzlebige Show im Nachmittagsprogramm des ZDF, die versuchte, das neu aufkommende Computerzeitalter für ein junges Publikum aufzubereiten. Es gab Videospiel-Wettkämpfe, Reportagen, einen digitalen Moderator namens Eddie Highscore und Auftritte von Elektro-Popgruppen. Ich fand X-Base von vorne bis hinten großartig, sie enthielt alles, was ich zu diesem Zeitpunkt toll fand. Leider wurde die Show nach einem halben Jahr eingestellt, aber sie hat in mir definitiv ein größeres Interesse für digitale Kultur geweckt.
13. Terminator II: Judgment Day. Dieser Film, den ich verbotenerweise viel früher schaute, als seine FSK-Einschätzung vorgab, hat sehr wahrscheinlich meine lebenslange Faszination mit Visual Effects und Computeranimation auf dem Gewissen.
Meine erste Lektüre fand nicht mit dieser Ausgabe statt, aber meine zweite.
14. J. R. R. Tolkien: The Lord of the Rings. Mit Tolkiens Buch, das ich las während ich eine Woche krank zu Hause war, hat sich für mich alles verändert. In seiner Folge gab es für mich über viele Jahre kaum etwas anderes als Fantasy und Science-Fiction zu lesen und bis heute sind Tolkiens Werke für mich literarische Texte, die ich – durch die zahllosen Veröffentlichungen zum Thema – weiter studiere.
15. Shadowrun. Das in Deutschland von Fantasy Productions veröffentlichte Spiel, das uns ein Klassenkamerad auf dem Rückweg einer Klassenfahrt im Bus erklärte, war mein erster Kontakt mit Tabletop-Rollenspielen. Nicht nur spiele ich diese bis heute (wenn auch selten), aber ich bin auch nach wie vor absolut fasziniert von der Cyberpunk-Vision, die Shadowrun dazu noch mit Fantasy-Tropes kombiniert.
16. Magic: The Gathering. Magic besiegelte meine Fantasy-Gaming-Obsession 1995 endgültig. Diesem Spiel gehörte fast jede freie Minute. Ich konnte alle Karten auswendig, bis die Faszination rund um mein Abitur 2001 irgendwann nachließ aber nie ganz einschlief. 2017 fing ich schließlich wieder an zu spielen und mich aufs Neue zu faszinieren. 2021 habe ich mir die fünf Mana-Symbole als Tattoo stechen lassen.
InQuest
17. InQuest. Diese amerikanische Zeitschrift begriff sich als Begleitmagazin zu Magic und den anderen damals aufkommenden Collectible Card Games. Später erweiterte sie ihr Spektrum auf Rollenspiele und andere Phantastik-Hobbies. InQuest hat nicht nur meinen Blick auf die Welt der Phantastik nachhaltig geprägt (die darin von Zeit zu Zeit aufgestellten Kanons bester Filme oder Romane lassen sich bis heute schwer abschütteln), sondern auch den damals verbreiteten, sehr männlichen Nerd-Humor in mich eingeschrieben. Es hat einige Jahre gedauert, mich von dieser Prägung zu emanzipieren, die in einigen Ecken des Internets immer noch sehr stark ist.
18. Dream Theater: A Change of Seasons. Der Song, der meinen gesamten Musikgeschmack veränderte. Tendenzen waren eventuell durch Queen schon da, aber in den kommenden zehn Jahren würde sich für mich alles mehr und mehr um Progressive Rock drehen. Dream Theater war auch die Band, bei der ich zum ersten Mal Fandom im Internet erlebte, mit Mailinglisten und Online-Foren.
A Change of Seasons (1995)
19. Blind Guardian: Nightfall in Middle Earth. Was mit Dream Theater begann, setzte sich mit Blind Guardian und anderen Bands, die hymnischen Metal zu Fantasy-Themen präsentierten, fort. Aus heutiger Sicht kann ich es klar der Pubertät anlasten, dass ich ausgerechnet diesem Wahre-Männer-Kämpfen-Metal damals so verfallen war. Schlich sich zum Glück zum Studium hin dann aus.
20. Robert Jordan: The Wheel of Time. In gewisser Weise beendete The Wheel of Time, die endlose und endlos derivative Fantasy-Saga rund um eine Gruppe Jugendliche und eine alte Prophezeiung, was Der Herr der Ringe begonnen hatte. Im Rückblick steht die Buchreihe, die ich nie beendet habe, für mich für die Abkehr von der großen Erzählung der Fantasy, der ich mich eine gute Dekade hingegeben hatte, und ein neues Erwachsenheitsgefühl.
21. DVD Extras. Schon bevor die DVD das dominante audiovisuelle Medium wurde, hatte ich mich dafür interessiert, wie Filme gemacht werden. Aber DVDs, mit ihren Featurettes und Audiokommentaren – und manchmal auch mit ernstzunehmenden Einblicken ins Filmemachen – haben meinen Blick auf die Filmwelt enorm geprägt. Ich habe sie alle geschaut und gehört, selbst dort, wo ich die Filme nicht besonders gut fand. Die Kombination aus Streaming und Zeitmangel durch Elternschaft hat dem leider weitgehend ein Ende gesetzt.
Die DVD-Extras von The Fellowship of the Ring waren ein Erlebnis
22. The Fellowship of the Ring. Was war das für ein Glück, dass ich in einer Zeit lebte, in der das 50 Jahre alte Buch, in das ich mich gerade verliebt hatte, dann auch noch grandios verfilmt wurde. An Fellowship brachen sich alle Dinge Bahn, die mich interessierten: Computer-Effekte, Internet-Hype-Kampagnen, Fantasy, eine fantastische Nutzung des DVD-Formats. Der Film meines 18-jährigen Lebens.
23. Futurama. Wo die Simpsons den Boden bestellt hatten, konnte Futurama ernten. Die nerdigere Variante von Matt Groenings und David Cohen Humor war eine große Faszination für mich. So sehr, dass ich alle fünf Staffeln vor der ersten Absetzung als DVD-Boxen besaß.
24. 65daysofstatic: Retreat! Retreat!. Mit dem Beginn meines Studiums begann für mich auch eine neue Ära der Musikentdeckung, besonders durch meinen Freund Carsten. Ich weiß nicht, wie sich mein musikalisches Leben ohne 65daysofstatic entwickelt hätte. Die Band hat so viele interessante Sachen in den letzten 20 Jahren gemacht, ihre Livekonzerte gehören zu meinen liebsten Dingen überhaupt. Und dieser erste Song, den ich von ihnen gehört habe, gehört immer noch zu den besten Songs aller Zeiten.
25. Neal Morse: One. Andererseits: Noch war meine Prog-Begeisterung lange nicht gebrochen. Als Spock’s Beard-Frontmann Neal Morse Anfang der 2000er sein Coming Out als Born-Again-Christ hatte und künftig nur noch christliche Prog-Alben machte, hat das, gemeinsam mit einigen anderen Faktoren, etwas in mir bewegt. Ohne Neal wäre ich wahrscheinlich nicht in der evangelischen Kirche und beim Kirchentag gelandet.
26. Pink Floyd: The Wall. Konzeptalben waren ein großes Ding für mich in der ersten Hälfte der 2000er und The Wall, zu dem es ja auch einen werden aber coolen Film gibt, war mein liebstes. Ich habe mich sehr ausführlich damit beschäftigt und meine Vorstellungen von gelungen transmedialen Erfahrungen, wie ich sie zehn Jahre später erforschen würde, wurden sehr davon geprägt. Aber nur damit das klar ist: Roger Waters kann hingehen, wo der Pfeffer wächst!
White Teeth (2000)
27. Zadie Smith: White Teeth. „Black British Fiction by Women“ hieß das Seminar, das ich im Anglistik-Studium eher aus Verlegenheit besuchte, und das mich in vielerlei Hinsicht erstmals dazu zwang, mich erstmals mit Marginalisierung, Feminismus und Postkolonialismus zu beschäftigen. Zadie Smiths Debütroman, der den Fächer der damit verbundenen Erfahrungen und Erzählungen weit aufmacht, war für mich der Schlüssel dazu. Zadie Smith hat mein Denken geprägt und bis heute gehört sie zu den wenigen Autor*innen, von denen ich kein Buch verpasse.
28. Cinematical. Ich habe auch eine Weile Ain’t It Cool News gelesen, aber Cinematical (RIP) war mein Einstieg in die US-Filmblog-Kultur, über die ich mein Film-Nerdtun lange Zeit gepflegt habe.
29. The Guardian Film Weekly. Mein allererster Podcast. Dass er mich geprägt hat, sieht man daran, dass ich heute selbst ein Format mit zwei Interviews pro Folge moderiere.
30. Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Etwas hat „Klick“ bei mir gemacht, als ich von diesem 90 Jahre alten Buch das erste Mal hörte. Arnheim ist ein sehr konservativer Denker, aber er sein Verständnis davon, wie die Materialität des Mediums sein Output beeinflusst, entspricht einfach sehr gut meinem eigenen Kunst-Empfinden. Arnheims Text bildete dann einen Teil des Rückgrats meiner Magister-Arbeit, die leider aus anderen Gründen nicht das ruhmreichste Ende nahm.
Film als Kunst (1932)
31. Stefan Niggemeiers Blog. Übermedien-Gründer Stefan Niggemeier war der erste deutsche Blogger, den ich bewusst wahrgenommen habe, erst über das Bildblog, dann über sein eigenes medienjournalistisches Blog. Ich muss einfach sagen, dass er auch ein großes Vorbild für mich war (und wahrscheinlich noch immer ist). Vielleicht nicht das beste, da ich immer wieder feststelle, dass ich von meiner Arbeitsweise ganz anders ticke, aber zumindest stilistisch glaube ich, dass er mich sehr beeinflusst hat. Fun fact: Zum ersten Mal persönlich miteinander gesprochen haben wir 2022.
32. Wired. Obwohl ich von Wired immer schon viel gehört hatte, hatte ich erst 2008 (nach einem USA-Urlaub) das erste Mal eine Ausgabe in der Hand und war sofort schockverliebt. Diese Art von Technikoptimismus passte exakt in diesen Moment meines Lebens zum Ende meines Studiums und zu beginn meines Berufslebens, das sich sehr bald stark in Richtung Online-Kommunikation drehen würde. Ich habe Wired kurz danach abonniert und ziemlich religiös gelesen. Erst als Chris Anderson als Chefredakteur ging, verlor ich das Interesse.
33. Slate’s Culture Gabfest. Dieser Podcast, den ich immer noch höre und zu dessen Hosts ich eine starke paarsoziale Beziehung habe, hat mich an das Podcastformat „stark moderierte Roundtable-Kulturdiskussion“ herangeführt, das ich viele Jahre später für meinen eigenen Podcast Kulturindustrie versucht habe, zu kopieren.
34. The Avengers. Als das Marvel Cinematic Universe noch keine Punchline war, sondern eine ganz neue Entwicklung – der Versuch, Erzählmechaniken aus seriellen Comics auf das Blockbuster-Kino zu übertragen – war ich völlig besessen davon. Ich fand die Idee einfach so revolutionär gut und neu. The Avengers halte ich für den Höhepunkt dieser Idee und bis heute für einen erstaunlichen Film.
35. This American Life. Die Art von Ira Glass und seinen Kolleg*innen, Radio zu machen, hat eine ganze Generation von Radioleuten und Podcastern beeinflusst. Auch mich hat sie von Anfang an gefangen genommen und sehr beeindruckt. Ich höre TAL immer noch jede Woche und lerne nach wie vor davon. Wenn es um den wahrhaft ausgelutschten Begriff „Storytelling“ im Journalismus geht, denke ich immer noch als erstes an TAL.
36. Simon Reynolds: Retromania. Auf der Suche nach dem Zeitgeist stieß ich 2011 auf dieses Buch, das in den kommenden Jahren als eine Art Prisma für meinen Blick auf große Teile der Kulturwelt diente (und das ich entsprechend oft zitiert habe). Interessanterweise denke ich, dass der Lebenszyklus des Buchs in den letzten zwei bis drei Jahren ein Ende gefunden hat, da sich der Eindruck einer „Hyper-Stasis“ (alles wird schneller, aber nichts verändert sich) vielerorts durch die am Horizont drohende Klimakatastrophe verändert hat.
37. re:publica. Lange bevor ich das erste Mal selbst auf die re:publica fahren konnte (2014) war sie ein Sehnsuchtsort. Der Raum, in dem sich alle Menschen trafen, die ich im Internet toll fand. Das beste: Bei meinem ersten Besuch (und auch meinem zweiten, wo ich zum ersten Mal selbst Speaker war) stellten sich viele Projektionen sogar als wahr heraus und ich hatte jedes Mal eine krasse Zeit. In den letzten Jahren hat, zugegeben, ein gewisser Gewöhnungseffekt eingesetzt.
38. Mark Rosewaters Kolumnen & Podcasts. Ich denke, der Head Designer von Magic: The Gathering ist einer der einflussreichsten Menschen in meinen Gedanken der letzten fünf Jahre. Erst im letzten halben Jahr habe ich den Eindruck, dass der Hype bei mir ein bisschen nachgelassen hat. Rosewater steht mit seiner Kolumne Making Magic und seinem Drive to Work Podcast für einen sehr transparenten Umgang mit Game Design und erklärt sehr regelmäßig genau, warum welche Entscheidungen für die Weiterentwicklung des komplexen Spiels getroffen wurden. Gleichzeitig ist er ein sehr sympathischer Typ, der seine Design-Lektionen auch gerne in Lebensweisheiten umwandelt.
39. Game Knights. Das YouTube-Format, in dem Menschen miteinander die Magic-Variante „Commander“ spielen, hat mir nicht nur das Format selbst nähergebracht, es hat mich (der sonst kaum YouTube-Formate schaut) auch viel darüber gelehrt, wie Spiele und Hobbys im Internet präsentiert werden können. Ich habe großen Respekt vor dem ganzen Team der „Command Zone“, die aus einem Zwei-Personen-Podcast ein kleines Nischen-Medienimperium mit einem dutzend Angestellten aufgebaut haben.
40. Terra Ignota. Ada Palmers vierbändiger Science-Fiction-Zyklus hat mich sehr beeindruckt und stark beeinflusst, wie ich derzeit über Science-Fiction, Worldbuilding und die Zukunft der Menschheit nachdenke.
Wie jedes Jahr folgt eine Liste der Songs, die mir in den vergangenen zwölf Monaten so gut gefallen haben, dass ich sie nicht nur gerne gehört habe, wenn sie zufällig im Shuffle kamen, sondern aktiv aufgesucht oder beim Durchskippen immer drauf hängen geblieben bin. Das qualifizierte sie dann irgendwann dafür, auf eine “Best of 2022” Playlist zu wandern, auf der ich in den letzten zwei Wochen noch einmal etwas ausgesiebt habe.
Diese Vorgehensweise ist ein interessanter Pattern des digitalen Zeitalters, aber es erleichtert auch ein wenig, sie inzwischen so kodifiziert zu haben. Genauso wie die Tatsache, dass ich ab 1. Dezember aufhöre, meine “Neue Musik für dich”-Listen zu hören, um mich ganz auf Rückschau und Genuss (z. B. ganze Alben durchhören) konzentrieren zu können.
1. The Beths – Silence Is Golden
NPRs “All Songs Considered” hat mich dieses Jahr auf diese coole neuseeländische Rockband gestoßen. “Silence is Golden” ist der Über-Banger des Albums “Expert in a Dying Field”, aber auch der Titelsong und der Rest der Platte lohnen sich.
2. Everything Everything – Bad Friday
Das Album, mit dem sich Everything Everything dieses Jahr zurückgemeldet haben, hat mich viel viel besser gefallen als die zwei davor. Die Lyrics wurden mit Hilfe einer KI geschrieben, aber was heißt das schon. Die Lead Single “Bad Friday” erinnert auf beste Art an ihren ersten Hit “MY KZ YR BF”, der in der Top 10 meiner Lieblingssongs aller Zeiten stehen dürfte.
I’m wondering: how did I get this battle over me? I got the pictures here on my phone.
Everything Everything
3. Fickle Friends – Love You To Death
Ich freue mich wirklich über diesen Strom an knalligen Pop-Formationen mit weiblichem Leadgesang. Fickle Friends war ziemlich sicher eine algorithmische Empfehlung, aber der Song (und Teile des Albums) macht auch einfach Laune.
4. Kae Tempest – More Pressure (feat. Kevin Abstract)
Rap ist nicht die Musik, die mir am natürlichsten zufällt. Es braucht schon irgendeinen Vibe, der mich über Beats und Text (den ich meistens erst spät wahrnehme) hinaus anspricht und bei “More Pressure” war das dieses Jahr der Fall. Kae war mir schon vorher ein Begriff und ich feierte bereits den Albumtitel “The Beigeness” vor acht Jahren, aber hier treten Flow und Musikalität noch einmal auf eine besonders gute Art heraus. Und natürlich könnte man sich “More pressure, more release, more relief, more belief” auch problemlos tätowieren lassen.
More pressure, more release, more relief, more belief
Kae Tempest
5. M Field – House and Leisure
Es gibt keinen Musiker, der mich in den letzten zwei Jahren mehr begeistert hat als Matthew Field. Vor allem mit seinen Soloplatten, aber auch mit seiner Band Beatenberg, die ich dieses Jahr live sehen durfte. Hier drückt einfach alles meine Knöpfe: die versteckt-komplexen Instrumentierungen und Grooves, die Stimme, die Harmonien, die Texte, die oft tongue-in-cheek von alltäglichem Kram und den daraus erwachsenen “großen” Gedanken erzählen.
And as the Amazon burns I water my little fern I bought on Amazon Prime
M Field
6. Aoife O’Donovan – Age of Apathy
Die Vorab-Single “Phoenix” war letztes Jahr schon auf meiner Playlist, aber auch der Titelsong des Albums ist einfach toll. Ich bleibe dabei: Aoife hat eine der schönsten Stimmen der Musikwelt überhaupt und ihre Songs verbreiten genau die richtige Melancholie.
Oh, to be born in the age of apathy When nothing’s got a hold on you, if you need someone to hold You can hold me
Aoife O’Donovan
7. Stromae – L’enfer
Ich habe dieses Jahr aufs Neue gemerkt, dass ich eine besondere Schwäche für Französisch als gesungene Sprache habe und bei Stromae verbindet sich diese merkwürdige Liebe mit dem vielleicht genialsten Stotter-Beat des Jahres. Das ganze Album “Multitude” ist ein großartiges Erlebnis – “Mon Amour” hätte ich am liebsten auch noch auf die Liste genommen. (Der wäre auch etwas weniger depri gewesen.)
8. Midlake – Bethel Woods
Teile von Midlakes Album haben etwas an sich, das mich auf einer subkutanen Ebene an 70er Genesis erinnert (“Feast of Carrion”). Das kommt in diesem Song nicht so deutlich raus, aber dafür hat es dieses treibende Schlagzeug, bei dem ich einfach nicht widerstehen kann.
9. Robert Glasper – Why We Speak (feat. Q-Tip & Esperanza Spalding)
Da auch R&B ein Genre ist, zu dem ich mich nicht so sehr von selbst hingezogen fühle, bin ich auch hier dankbar für “All Songs Considered”, die manchmal Titel anspielen, die auch für mich anschlussfähig sind. Ich kann zu dem Song trotzdem nicht viel sagen, außer dass ich ihn mag und die Mischung – auch in der Bilingualität und der Stimme von Esperanza Spalding – irgendwie stimmt.
10. Nilüfer Yanya – the dealer
Weckt bei mir Erinnerungen an Rocktitel aus den 90ern, aber mit einem moderneren Beat. Einfach ne gute Nummer.
11. And So I Watch You From Afar – Dive Pt 2
Meine großen Post-Rock-Zeiten liegen hinter mir, aber manchmal gelingt es Bands, mich doch noch mal hinter dem Ofen hervorzulocken. ASIWYFA haben das mit den Arrangements und der Dramaturgie des Albums “Jettison” dieses Jahr geschafft.
12. Gang of Youths – in the wake of your leave
Noch ein Album (“angel in realtime”), das sich in Gänze lohnt. Also, wenn man auf dramatischen Indierock mit großen Refrains steht.
13. half*alive – Move Me
Die Veröffentlichungspolitik von half*alive gibt mir zwar Rätsel auf (dieses Jahr erschien zunächst eine EP auf der Songs drauf waren, die zum Teil schon 2021 veröffentlich wurden, dann eine LP, auf der zum Teil noch mal die gleichen Songs waren), aber ihre Songs bleiben konstant gut und ungewöhnlich. “Move Me” ist der schönste der neuesten Charge.
14. Sergey Golovin – Factory
Sergey Golovin ist ein israelischer Gitarren-Wizard, der mich seit Jahren mit seinen Instrumentals erfreut. Seine ersten Alben klangen nach Dream Theater Anno 1992, “Factory” und die anderen Singles, die er dieses Jahr veröffentlicht hat, erinnern eher an Fitness-Motivations-Rocknummern aus den 80ern. Aber in geil.
15. Weezer – All this Love
Mein Sommer-Song 2022. Weezer im vollen Pop-Modus mit einem herzerwärmenden Post-Pandemie-Text. Hoffen wir, dass er sich nächstes Jahr endlich bewahrheiten kann.
I’ve got all this love that I’ve been saving up Let me let it out, let me let it out!
Weezer
16. MUNA – What I Want
MUNA begeistern mich bereits seit ihrem zweiten Album, aber hier ist mein dunkles Geheimnis: “Silk Chiffon” fand ich ziemlich langweilig. Gilt zum Glück nicht für den Rest des neuen Albums, und “What I Want” ist eine geniale Empowerment-Hymne, zu der ich hoffentlich irgendwann auch mal öffentlich tanzen kann. (Dieses Jahr beschränkte sich Tanzen auf die Firmenweihnachtsfeier und ich trug Maske dabei, worum ich aber im Nachhinein dankbar bin, denn die Menge an Corona-Meldungen vier Tage später machte keinen Spaß.)
17. Porcupine Tree – Rats Return
Was für ein Glück, dass sich diese drei Männer entschieden haben, doch noch ein Album zusammen zu machen. Bei “Closure / Continuation” ist der Name Programm, es bildet einen Abschluss eines erfolgreichen Albumzyklus, knüpft aber auch deutlich an alles an, was seit “In Absentia” kam. Und dazu gehören geniale Rhythmus-Riffs wie das in “Rats Return”. Instant Classic!
18. The Mars Volta – No Case Gain
Ich finde es gut, dass sich The Mars Volta mit dem unerwarteten neuen Album noch einmal auf neues, weniger proggiges Terrain gewagt haben. Nicht alle Songs sind bei mir hängengeblieben, aber dieser schon.
19. Remi Wolf – Sugar
Noch eine luftige Sommernummer. Für die gute Laune zwischendurch.
20. Regina Spektor – Becoming All Alone
Bei all dem Gerede über Interpolation, das dieses Jahr die Popmusik beherrschte, wundert es mich, dass niemand mal diesen Song und Aimee Manns “Wise Up” nebeneinandergelegt hat. Der Vibe ist schon sehr ähnlich, aber mich stört es definitiv auch nicht, zwei Lieder mit ihm zu haben.
And we wouldn’t even have to pay ‘Cause You Are God and You’re revered
Regina Spektor
21. Hans Zimmer & Andrew James Christie – Prehistoric Planet Theme
Serie nicht geguckt. Theme trotzdem immer wieder gerne gehört. So kann es gehen.
22. Von Wegen Lisbeth – Auf Eis
Sollte ich Von Wegen Lisbeth sauer sein, weil sie ein Lied gemacht haben, dessen Refrain lautet “Mach bitte, bitte, bitte keinen Podcast”? Kann ich nicht, weil sie gleichzeitig auch dieses Lied geschrieben haben, in dem sich der Protagonist mit der im Kreis fahrenden Claudia Pechstein identifiziert. Alberne Melancholie, sign me up. Bonuspunkte für den Reim von “Skaten” auf “Relaten”.
Ich interessier mich nicht für Skaten Und schon gar nicht auf dem Eis Doch ich kann gut mit ihr relaten Denn sie fährt die ganze Zeit im Kreis
Von Wegen Lisbeth
23. Peter Fox – Zukunft Pink (feat. Inéz)
Der Song, an dem man diesen Herbst nicht vorbeikam. Aber er ist auch einfach so gut. Ich hoffe es schreibt irgendwann jemand mal eine gute Analyse darüber, wie der Ragaton-Rhythmus zum dominanten Stilmittel der letzten zehn Jahre wurde.
24. Eule – Kapitänin der Band
Die “Eule findet den Beat”-Kinder-Hörspiele sind über die letzten Alben immer weniger kindermäßig geworden und enthalten einfach objektiv gute Songs (Hier mein Interview mit Schöpferin Nina Addin). Klar, der Text ist hier immer noch ein bisschen drauf gemünzt, das Instrument zu erklären (auf der ganzen Platte geht es darum, die Welt der Instrumente zu entdecken) – aber ich wünschte ich hätte als Mini-Schlagzeuger diesen Song gehabt. “Overdrive” vom gleichen Album steht “Kapitänin der Band” übrigens in nichts nach.
Jetzt spiel ich richtig laut Wenn sich der Song aufbaut
Eule
25. The Mountain Goats – Training Montage
Als jemand, der Musik selten wegen der Texte hört, dringen die Mountain Goats immer nur dann zu mir durch, wenn sie auch mal wieder einen Ohrwurm geschrieben haben. “Training Montage” vom Actionfilm-Konzeptalbum “Bleed Out” ist so ein Fall. “I’m doing this for revenge!” ist aber auch eine Textzeile, die sich sehr gut mitrufen lässt (mit Fistpump versteht sich).
26. Beatenberg & Msaki – White Shadow
Bitte noch einmal zu M Field (5.) zurückspringen und alles noch mal lesen. Diese Nummer ist dazu noch ein tolles Duett.
27. Harry Styles – Music For a Sushi Restaurant
Noch so ein Lied, dem man dieses Jahr nicht ausweichen konnte. Und immer Props für Songs, deren Refrain nur ein Bläser-Einsatz ist.
28. King Princess – Cursed
“Cursed” ist die Art Song, bei der ich erst nicht so sicher war, wie gut er mir gefällt, der mir dann aber immer wieder in den Kopf kam.
29. APRE – Submarine
Wie jedes Jahr haben sich auch 2022 die zwei Jungs von APRE mit einer ihrer Pop-Rock-Hymnen in meine Gehörgänge gewurmt und sind deswegen in dieser Liste vertreten.
30. Fergus McCreadle – The Unfurrowed Field
Mein Geheimtipp seit Jahren: Beim Mercury Prize gucken, welches Jazz-Album nominiert wurde. Dort finden sich häufig sehr mainstream-anschlussfähige Acts wie GoGo Penguin oder Moses Boyd. Dieses Jahr Fergus McCreadle, der einfache Themen am Piano über mehrere Minuten mit Trio variiert und immer weiter aufbaut. Sehr hörbar.
31. Roxette – Never Is A Long Time (EMI Demo May 26-30, 1987)
Marie Fredriksson ist vor drei Jahren gestorben, was mich immer noch jedes Mal traurig macht, wenn ich dran denke. Ihr musikalischer Partner Per Gessle veröffentlicht fröhlich weiter, sowohl neues Material (solo und als PG Roxette) als auch immer wieder ungewöhnliche Archiv-Funde, wie diese Version des Songs, der schließlich auf “Joyride” landen sollte und hier noch sehr nach 1987 und nach New Wave klingt. Faszinierend, wenn eine Band so regelmäßig Einblicke in ihren Produktionsprozess erlaubt.
Ausschnitt aus dem Backcover von X – Ⓒ Mascot Records
Im Jahr 2009 hatte die Band Spock’s Beard eine harte Zeit. Ihr Frontmann, Visionär und einziger Songschreiber hatte einige Jahre zuvor eine Solokarriere gestartet, weil er Born-Again Christ geworden war. Die letzten zwei Alben, in denen die Band versucht hatte, zu zeigen, was das restliche Personal so produzieren kann, hatten sich nur mäßig verkauft. Spock’s Beard entschieden sich also, einen damals noch recht neuen, aber von anderen Bands mit hartem Fan-Kern wie Marillion vorgelebten, Weg zu gehen, und die Studiozeit für das neue Album X per Crowdfunding vorzufinanzieren.
Wie damals auch schon üblich gab es verschiedene Stufen, auf denen man die Band unterstützen konnte. Nur das Album, das Album und ein T-Shirt, diverse Deluxe-Ausstattungen. Das “Ultra Package” aber enthielt etwas noch Krasseres:
your name written into the lyrics of a new Spock’s Beard song. This track will include a vocal section where your name (or somone you choose) will be sung by the band. This will be a full band, fully-produced song that requires a long list of names be sung as part of the lyric.
Die Diskussionen in den Fan-Foren liefen heiß. War das eine gute Idee? Ging das nicht eine Spur zu weit in Sachen Gimmickiness? Es war ja eine Sache, Namen von Unterstützern in den Credits aufzulisten (wie es inzwischen jeder zweite Patreon macht), aber ein Lied mit 100 oder mehr Namen drin? Das konnte ja nur schief gehen.
Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber ich finde “Their Names Escape Me” ist vielleicht der beste Song, den Spock’s Beard in dieser Bandkonstellation geschrieben haben. (Und er ist nicht einmal auf der regulären Verkaufsversion des Albums enthalten.)
Im Text geht es um jemand (vielleicht einen Priester oder einen Seher), der vor ein Orakel geschleift wird. Die göttliche Kraft, die hinter dem Orakel steht, herrscht ihn an, er möge die Namen aller Verräter nennen, die “arms against the nation” führen würden. Der Priester bittet um Vergebung, dass er die Namen gegenüber seinem Gott nicht geheimhalten kann – und zählt auf. Erst ganz leise, dann immer lauter und wilder steigert er sich in den Verrat hinein, während die Musik hinter ihm anschwillt. (Wer nur mal reinhören will, dieser Teil beginnt bei 3:39 Minuten.)
“Their Names Escape Me” profitiert natürlich davon, dass 9-minütige Songs, in denen es minutenlange, langsame Steigerungen gibt, im Progrock, in dem sich Spock’s Beard bewegen, keine Seltenheit sind. Seine ernsthafte Stimmung wird an einigen Stellen dadurch gebrochen, dass Sänger Nick D’Virgilio Quatschnamen wie “Simon D’Progcat” singen muss. Aber ein Gimmick ist er auf keinen Fall. Er besitzt dafür, dass er im Endeffekt eine Crowdfunding-Belohnung war, eine erstaunliche Gravitas. Mir schaudert es heute noch wohlig an einigen Stellen, gerade in dem Wissen, das hinter den Namen echte Fans stehen, die bereit waren, ihre Band großzügig zu unterstützen (mein Name ist übrigens nicht dabei).
Crowdfunding Rewards auf Plattformen wie Steady, Patreon oder Kickstarter haben eine gewisse Routine erreicht. Auf den unteren Levels gibt es einfachen Zugang, auf den höheren besseren Zugang, persönliche Grüße, Credits, Autogramme und Merch. Das ist vollkommen in Ordnung so. Diese Plattformen sollen Künstler*innnen ja in erster Linie dazu dienen, ihnen Freiheit für ihre Kunst zu gewähren. Aber wenn es mal, wie in diesem Fall, dazu kommt, dass die Fans in der Kunst selbst verewigt werden können, gehört das zusätzlich gefeiert.
Unplugged-Musik hat eine feste Ästhetik bekommen. Was vor 30 Jahren, als MTV Unplugged startete, noch eine neue Idee war – Rockbands spielen ihre Songs “ohne Strom”, eigentlich also ohne Verzerrer, elektrische Tonabnehmer und Keyboardchips, ist inzwischen ein Satz an Konventionen, einem der voreingestellten Instagram-Filter vergleichbar. Elektrische Gitarren und Bässe werden durch akustische ersetzt, Keyboards durch Klaviere, dazu kommen je nach Budget ein paar Streicher. Der Schlagzeuger spielt statt mit Stöcken mit Power Rods, damit alles etwas sanfter klingt. Auf Streamingdiensten gibt es Künstler, die vermutlich gar nicht schlecht damit nebenbei verdienen, bekannte Rock- und Popsongs genau in dieser Ästhetik zu covern. Cottagecore für den Rock’n’Roll.
Ich höre immer wieder gerne ein etwas vergessenes Album, was dieses Prinzip etwas auf den Kopf stellt. Nick D’Virgilio, damals Kopf der Progtruppe Spock’s Beard und Sessiondrummer in diversen Projekten, und der Produzent Mark Hornsby kamen Ende der 2000er auf die Idee, das gesamte Magnum Opus The Lamb Lies Down on Broadway von Genesis zu covern, ein verschlungenes Doppelkonzeptalbum mit traumwandlerischer Story von 1975. Aber statt auf die bekannte Ästhetik zu setzen, klingt Rewiring Genesis, wie das Album am Ende heißen sollte, ziemlich einzigartig.
Längst nicht alle Stecker sind gezogen, es gibt durchaus elektrische Gitarren zu hören, und das Schlagzeug spielt mit ganzer Power, aber die für die Genesis-Besetzung der Ära typische Mischung aus 12-saitigen Gitarre´n mit vielen Effekten sowie analogen Synthesizern, E-Orgeln und experimentellen Tasteninstrumenten wie dem Mellotron, ist völlig aufgelöst. An ihre Stelle treten Streicher, Bläser, Melodikas, Akkordeons, A-Capella-Chöre und eine kleine Prise Jazz. Das Ergebnis hat die volle Wucht des Originals, es ist keine sanfte Akustikversion, die man leicht nebenbei hören kann, aber es klingt gleichzeitig ganz anders. Ein kleiner Vergleich:
Diese Art von Arrangements scheint Drummern zu liegen. Gavin Harrison, der Schlagzeuger von Porcupine Tree, hat vor ein paar Jahren auf seinem Soloalbum etwas ähnliches gemacht. Die von Gitarrenwänden und Keyboardflächen geprägten Songs der Band erschallen im hier vollends jazzigen Gewand auf ähnliche Weise genauso kräftig, aber eben anders.
Ich wollte eigentlich nur in der Erinnerungskiste wühlen und ein Album empfehlen , das zu meinen meistgehörten zählt (und das es leider nirgendwo digital zu kaufen oder zu streamen gibt).
Aber steckt darin vielleicht auch eine Lebensweisheit? Wenn es um digitalen Medienkonsum geht, ist ja auch oft die Rede davon, mal den Stecker zu ziehen und Digital Detox zu machen. Und tatsächlich tauchen dabei vor meinem geistigen Auge ähnlich geronnene Bilder auf, wie bei Unplugged-Musik – ein Bauernhaus auf dem Land, im Wind wehende Leinenstoffe, eine perfekt für den Katalog inszenierte Gemütlichkeit and not a cell phone in sight. Eventuell (auf jeden Fall für mich) ist auch in diesem Fall ein Rewiring die interessantere Lösung. Statt Handy und Laptop im Garten zu vergraben (wenn man denn einen hat), vielleicht einfach mal schauen, was man damit statt Doomscrolling machen könnte. Mal wieder Blogs lesen, statt Twitter. Mal wieder einen längeren Gedanken festhalten, statt eine Insta-Story zu posten. Die Aufmerksamkeit neu auswildern. Die Wucht behalten. Die Instrumentierung ändern.
Wisst ihr noch, letztes Jahr, als alle sehnlichst darauf gewartet haben, dass 2020 endlich vorbei ist? Jetzt sind wir wieder etwas schlauer. Immerhin gibt es Musik. Meine Playlist dieses Jahr ein paar echte Ausreißer. Normalerweise habe ich ein oder zwei davon und stecke sie ganz ans Ende, aber dieses Jahr sind ein paar mehr “uncoole” Songs dabei, und ich bin zu alt, um mich dafür zu schämen.
Ich weiß ja, über Geschmack lässt sich nicht streiten, aber ist das eine groß angelegte Troll-Aktion? Ich habe irgendwie eine andere Playlist erwartet.
Es gibt deutlich mehr Songs, die ich 2021 gerne gehört habe. Um auf diese Liste zu kommen, muss ein Song sich irgendwo bei mir im Kopf festgesetzt haben. Häufig bedeutet das entweder, dass ich ihn bewusst immer wieder gehört habe, oder, dass ich ihn mit einem Ereignis verbinde.
Es sind 30 Songs auf der Liste. Ich versuche, mich mit den Kommentaren kurz zu fassen.
1. A Capella Science – Soon May the Vaccine Come (Covid Wellerman)
Ich weiß auch nicht. Irgendwie hat mich dieser TikTok-Clip gerührt, als ich noch nicht geimpft war, und ich fand es witzig, dass er am Ende in einen kompletten Raggaeton-Dance-Song abdriftet. Und dann musste ich ihn 20 mal mit meinem Kind gucken.
2.. Frost* – Day and Age
Frost* sind eine alte Liebe, und dieses Jahr haben sie wieder ein Album rausgebracht, dass ich lieben kann. Irgendwo zwischen späten Pink Floyd, 80er-Genesis und ELO, mit etwas knalligeren Drums.
3. Public Service Broadcasting – Blue Heaven
Diese kleine Prise Retrofuturismus zwischen Post-Rock und Blade Runner-Soundtrack hat mir meinen Oktober versüßt. Unter anderem bin ich dazu durchs ICC spaziert.
4. Jane Weaver – The Revolution of Super Visions
Die Magie liegt im Refrain.
5. Ryley Walker – Striking Down Your Big Premiere
Ryley Walker hat sich dieses Jahr mit einem sehr proggigen Album zurückggemeldet, das nach Yes und Canterbury klingt. Ich feiere es.
6. Katy Kirby – Traffic!
Das erste Album, das mich 2021 begeistern konnte. Fluffiger Singer-Songwriter-Pop.
7. Kishi Bashi – Early Morning Breeze
Kishi Bashi covert Dolly Parton. Hat mir im düstersten Covid-Winter gute Laune gemacht.
8. Anna Fox Rochinski – Everybody’s Down
Dazu bin ich im Sommer Longboard gefahren.
9. Dodie – Cool Girl
Build a Problem, das Album, ist nicht mein liebstes Werk von Dodie, leider doch etwas zu viel Gehauche für meinen Geschmack. Aber ich bleibe Fan von ihr und das ist der beste Song.
10. Edie Bricknell & New Bohemians – Sleeve
Ein Algorithmus-Song, der mir einfach gefiel. Und dann im November noch mal thematische Resonanz bekam.
11. Marcella Rockefeller – Anders als geplant
Es muss an meiner Musical-Zuneigung liegen (und daran dass Peter Plate und Leo Sommer gerade ein Musical geschrieben haben, aus dem ich mal einen Song gehört habe), dass mir dieses Rosenstolz-Cover eines Travestie-Künstlers in den Algorithmus geflogen ist. Und was soll ich sagen: Es ist schmalzig, aber ich mag es. (Den Rest der Platte jedoch nicht.)
11. Eternity’s End – Hounds of Tindalos
Metal zum Aufwachen. Eine sanfte Ironie, die ich immer wieder gerne betrachte, ist folgende: Als ich jung war, hatte ich zehn Jahre lang eine Band. Unser Gitarrist hatte einen deutlich jüngeren Bruder. Und heute ist der Gitarrist Physiker und der Bruder professioneller Gitarrist und ein Gniedelmonster vor dem Herrn. Eternity’s End ist eine seiner Bands, und ich fühle mich damit in die Zeit zurückversetzt als ich 15 war und Blind Guardian und Hammerfall gehört habe.
12. The Paper Kites – Climb on Your Tears (feat. Aoife O’Donovan)
Aoife O’Donovan hat eine der schönsten Stimmen der Musikwelt, deswegen taucht sie auch als einzige zweimal in der Liste auf.
13. Zucchero – Soul Mama (Acoustic Version)
Ich habe irgendeine tiefsitzende, grundlose Liebe für Zucchero und für diesen sinnlosen Song (Beep beep!).
14. Attacca Quartet – Real Life
Beats und Streichquartett. Gehört, als ich aus dem Impfzentrum nach der zweiten Impfung kam.
15. Ashnikko – L8r Boi
Ich finde die Idee total gut, statt eines Antwort-Songs einfach den Original-Song umzuschreiben. Und deswegen wird der Sk8r Boi hier halt nicht später zum Star und das Mädchen ist traurig, sondern sie lebt einfach ihr eigenes Leben und er bleibt alleine zurück. Was soll sie auch machen, er hat sie nicht befriedigt und sie ist nicht seine Therapeutin.
16. Partner – Here I am World
Der Drum-Break vor der zweiten Strophe und dieses generelle 90s-College-Rock-Gefühl.
17. Lorde – Solar Power
Auf die Akkorde von “Freedom ’90” würde ich vielleicht jeden Song gut finden.
18. Half-Alive – Summerland
Eine wunderbare, melancholische Sommerhymne.
19. Aoife O’Donovan – Phoenix
Mein Song des Jahres. So viel Schmerz und Hoffnung zugleich in einem Lied.
20. Orla Gartland – More Like You
Oh, I heard it from a woman on the internet She told me to eat well and try to love myself Then maybe I won’t wish that I was someone else
Das ganze Album ist toll. Ich freue mich sehr auf das Konzert im April.
21. Matilda Mann – Bloom
Kam irgendwann als Ohrwurm zurück, obwohl ich ihn lange nicht gehört hatte.
22. M Field – Fiona
Ganz tolle EP. Ich brauchte eine Weile, um zu merken, dass es natürlich sehr an Graceland erinnert, denn Matthew Field stammt aus Südafrika. Aber dieses synkopierte Gitarrenspiel kombiniert mit der weichen Stimme beschwingt einfach.
23. Judith Holofernes – Ich wär so gern gut
Ich patronisiere Judith und lese dort ihre autobiografischen Essays, denn sie kann eigentlich gerade gesundheitlich gar nicht singen. Diesen Song hat sie aus der Schatzkiste gezogen und abgesehen davon, dass ich das Wort “gut” irgendwie gleichzeitig passend und unpassend finde, mag ich ihn, vor allem den Refrain.
24. Mickey Guyton – Different
Jeder kann einen Empowerment-Country-Rock-Song brauchen, der anfängt wie das Löwenzahn-Thema.
25. APRE – You
Die Jungs von APRE machen seit Jahren gute Hymnen. Das ist keine Ausnahme.
26. Laura Mvula – What Matters (feat. Simon Neil)
Laura Mvulas Stimme ist toll, und der Song erinnert ja ganz bewusst an 80s-Synthieballaden. Ich habe lange überlegt, ob ich nicht lieber “Conditional” vom gleichen Album nehmen soll, weil er mehr knallt, aber mich dann doch hierfür entschieden.
Zugegeben: Im Unterschied zum neuen Stereomix von Sgt. Pepper höre ich hier kaum Unterschiede, aber mir ist jede Entschuldigung recht, um meinen Lieblings-Beatlesong auf eine Playlist zu schreiben.
29. Carolin Kebekus – La Vida Sin Corona (feat. Karl Lauterbach)
Ich fand das Thema Covid als Klammer dieser Playlist irgendwie passend, und die beiden Songs haben auch eine ähnliche Funktion. Sie haben im Frühsommer durch Albernheit Hoffnung gestiftet. Beide Songs sind übrigens auch gar nicht so triumphal, wie sie wirken. In ihnen stecken viele Mollakkorde und diese klassische Melancholie von Musik, zu der man sich bewegen soll, hat mich berührt. Dieser Wunsch, Karl Lauterbach einfach durch Autotune wegzupusten und so zu tun, als gäbe es diese ganze Scheiß-Pandemie nicht mehr, kommt irgendwie von ganz tief unten.
Seit ich ihn gelernt habe, beim Schreiben meiner Magisterarbeit vor etwa 15 Jahren, lässt mich der Begriff des Simulakrums nicht mehr los. Ich weiß nicht, ob Jean Baudrillard ihn erfunden oder nur adaptiert hat (und bin gerade zu faul zum Googeln, der Sinn dieser Blogposts soll sein, dass ich sie schnell runterschreibe) und ich weiß auch, dass er sie deutlich politischer aufgeladen hat, als es heute meistens getan wird. Aber ich mag ihn einfach sehr, diesen Gedanken, von einem Zeichen, das auf etwas verweist, was nicht mehr da ist und somit nur noch als leerer Verweis stehen bleibt – wie ein Hyperlink auf eine 404-Seite.
In den vergangenen Jahren habe ich schon oft über Retromanie und reaktionäreNostalgie geschrieben, aber das, was mir im Jahr 2021 begegnet, halte ich oft für harmloser. Ich denke, es stammt meist aus einer genuinen Liebe für etwas Vergangenes, und dem Wunsch, ihm ein zweites Leben einzuhauchen. Musik-Streaming etwa hat musikalischen Nischen den Weg bereitet, die sehr stark in diesen Topf greifen. Die Musik der Band LeBrock klingt eins zu eins nach Powerballaden und Hairmetal-Hymnen der 1980er, so nah dran, dass man es fast schon für Parodie halten könnte – es ist aber bierernst. Wir leben aber nicht mehr in den 1980ern, sondern 40 Jahre später. Worauf die musikalische Ästhetik der Zeit reagiert hat, etwa den Überhang der Hippie-Ära oder den Maximalismus der politischen Rhetorik, hat sich gewandelt. Somit wird die Musik von LeBrock zum Simulakrum, zum Zeichen ohne Bezeichnetes. (Ich finde sie trotzdem gar nicht schlecht, ehrlich gesagt)
Im Streaming-TV sehen wir etwas Ähnliches. Wir haben darüber unter anderem in der bald kommenden Folge von Kulturindustrie gesprochen, deswegen will ich nicht zu sehr vorgreifen, aber was genau will eigentlich Cowboy Bebop? Wenn man ein kulturelles Produkt remaket, das seinerseits bereits auf alle Lieblingsdinge der Macher*innen verweist, was bleibt dann übrig?`
Die Ästhetik, die entsteht, wenn man diesen Produktionen einerseits genug Geld gibt, um sie stellenweise poliert aussehen zu lassen, andererseits aber auch wieder nicht so viel, um sie wirklich ins Detail zu durchdenken und etwas eigenes schaffen zu können, ist so eine merkwürdige Middlebrow-Hohlheit. Nicht underdog-mäßig genug, um in seiner niedrigen Qualität charmant und roh zu sein (was man evtl. für den Original-Anime argumentieren könnte, aber auch für andere Kultprodukte wie etwa Evil Dead), aber auch nicht so mit Budget zugeschissen, dass es für echte Hochwertigkeit reicht.
Bei The Wheel of Time, von dem ich – so viel Transparenz muss sein – erst eine Folge gesehen habe, verhält es sich meiner Ansicht nach ähnlich. Die Serie ist auf Glamour gebürstet, der ruft “Schau mal, ich bin hochwertig”, es scheint ihr aber an wirklicher Qualität zu fehlen. Die Hauptdarsteller*innen, mit Ausnahme von Rosamund Pike, fallen alle in die Kategorie “Hübsch, aber charakterlos”, für die Ausstattung gilt Ähnliches. Passt aber vielleicht dann auch wieder ganz gut für eine Buchvorlage, die zwar ein großer Fantasy-Erfolg war, sich aber im Rückblick vor allem wie eine Neuverquirlung aller bis dahin bekannten Fantasy-Klischees, von Bibel über Tolkien bis Dune, mit wenigen eigenen Ideen liest.
Das sind sie, die Popkultur-Simulakren von 2021 – Verweise auf Verweise, aber nicht originell und postmodern verspielt, sondern außen poliert und innen hohl. Streaming-Golems, gut genug für Netflix und Amazon Prime.
Bei allen Umwälzungen, die das Jahr mit sich brachte (mehr dazu bald hier): Musikhören ging relativ konstant weiter, gehemmt höchstens durch meinen permanenten Podcastkonsum. Der allerdings zum Teil auch wieder zurückgibt, denn Podcasts wie All Songs Considered (jetzt auch mit “New Music Friday”), Song Exploder und Switched on Pop sind mindestens für die Hälfte meiner Musikentdeckungen verantwortlich. Ein weiterer großer Teil stammt aus Apple Musics “Neue Musik für dich”-Playlist, ein dritter aus Songs in Serien, Filmen und im Zeitgeist.
Dieses Jahr sind es 25 Songs geworden. Passt nicht mehr auf ein wirkliches Mixtape (1 Stunde, 36 Minuten), ist aber eine durchschnittliche Playlistlänge, denke ich. So wandelt sich die Zeit.
1. Lorne Balfe – Fallout
Zu sehen, wie Filmkomponisten aus dem “Mission: Impossible”-Thema mit jeder Iteration wieder neue Nuancen rauskitzeln, ist inzwischen so interessant geworden, wie die Filme zu gucken. Balfes Signatur-Instrument für diesen Soundtrack ist ausgerechnet die Bongo (hier am Anfang zu hören, sehr prominent im Track “Stairs and Rooftops”), die für permanente Spannung sorgt. Aber ich mag auch, wie er das Thema für die Main Titles aggressiv zersticht und zerhaut. Kann man immer wieder hören.
2. Janelle Monáe – Make Me Feel
2018 war Janelle Monáes Jahr. Ihr Album “Dirty Computer” ist auf so vielen Bestenlisten vertreten, dass es schon fast lächerlich ist, angesichts der Tatsache, dass es musikalisch bei weitem schwächer ist als die Vorgänger. Aber manchmal muss der Zeitgeist halt erst mit einem aufholen. “Make Me Feel”, Monáes Prince-Pastiche und Ode an ihren im Vorjahr verstorbenen Mentor, macht trotzdem mächtig Laune. (“Pynk” ist auch noch nicht schlecht.)
3. Dave Matthews Band – Do You Remember
In einer All Songs Considered-Sendung habe ich vor kurzem gehört, das Alben im Playlist-Zeitalter wie Filme geworden sind. Man hört sie meist nur noch einmal ganz, außer man verliebt sich wirklich in sie. Die 90er-DMB-Alben wie Crash und Before these Crowded Streets waren für mich als Alben wichtig, aber in jüngerer Zeit reicht es mir, von jedem Album nur noch ein bis zwei Tracks zu picken, die mir gefallen. “Again and Again” wäre die andere Wahl gewesen, ansonsten ist das Album Come Tomorrow routiniert und nett, aber nicht herausragend.
4. RADWIMPS – Zenzenzense
Laut iTunes ist dieser Titel schon 2016 erschienen. Er stammt aus dem Soundtrack von “Your Name.”, und der Film kam in Deutschland erst dieses Jahr ins Kino, daher mache ich eine Ausnahme. Außerdem scheint der Song in einem Labor für mich gezüchtet: episch, temporeich und ein wirklich hypermotivierter Schlagzeuger. Da ist es auch völlig egal, dass ich den japanischen Text nicht verstehe. Das Ding geht wirklich immer, egal in welcher Stimmung ich bin. Ich habe schon seit geraumer Zeit, den Eindruck, dass ich mit dem richtigen Einstieg an J- oder K-Pop großen Gefallen finden könnte, aber ich suche noch jemanden, der mir mal eine gute Playlist baut.
5. Sergey Golovin – Depth
Durch die Geburt meines Kindes hatte 2018 eine gewisse regressive Qualität bei mir. Ich habe mich viel mit den Sachen beschäftigt, die mir in unschuldigeren Zeiten etwas bedeutet haben. Das Kartenspiel Magic natürlich, aber auch die Musik, die zu dieser Phase meines Lebens in den 90ern dazu gehört: Progressive Metal. Sergey Golovin, auf den ich durch Zufall per Apple Music gestoßen bin, klingt wirklich exakt wie mein Lieblings-Dream-Theater-Album Images and Words – bis hin zum Drumsound.. Seine Songs sind, dafür dass sie instrumental sind, erstaunlich rund, und das ganze Album lässt sich super hören. EIne echte Entdeckung.
6. Rayland Baxter – Strange American Dream
Manchmal spült einem der “New Music Friday” von NPR Künstler und Alben in die Bibliothek, die man erst nur ganz nett findet, aber dann stellt man zum Ende des Jahres fest, dass sie doch irgendwie hängengeblieben sind. Baxters Album Wide Awake und besonders dieser erste Song des Albums war so ein Fall.
7. The Essex Green – Sloane Ranger
Es gibt eine Reihe von musikalischen Figuren, die die Chance, dass ich einen Song mag, sofort exponenziell erhöhen. Halbe Triolen gehören dazu, Falsettgesang, interessante Synkopierungen, und – wie in diesem Fall – Call- and Response-Passagen, am besten zwischen männlichen und weiblichen Stimmen. Noch ein catchy Refrain obendrauf und fertig ist der Mixtapeeintrag.
8. The Decemberists – Once in My Life
Dieser Song hat eine neue Qualität für mich gewonnen, nachdem ich die Song Exploder-Folge mit Colin Meloy gehört habe. Dort sagt er nämlich etwas über “Once in My Life”, was mich sehr bewegt hat, und was ich jetzt immer mit dem Song verbinde:
“‘I’m a professional musician, have two wonderful kids, I have my wife, I’m fairly happy. I feel like so many things have gone right for me, and I have so much gratitude for that. Where do I get off, singing ‘Oh, for once in my life, could something go right’?
And we talked about it a little bit, and I still believe it’s a universal enough feeling. I think it’s something that everybody, regardless of their situation, should give themselves license to really throw themselves into, every once in a while.”
9. APRE – Without Your Love
Einer von diesen “Neue Musik für dich”-Songs, der einfach genau auf mich passt. Britischer Indiepop mit netten Melodielinien. Gekauft.
10. Christine and the Queens – Doesn’t Matter (Voleur de Soleil)
Auch hier stand wieder eine Folge Song Exploder Pate. Die Nummer hat auch so schon eine Menge Energie, aber wenn man dazu noch die Geschichte zum (französischen) Text im Hinterkopf hat, die – wie Christine selbst zugibt – selbstmitleidig-aggressive Haltung, die der Song nach vorne bringt, hängt man sich doppelt so gerne rein. Und dann kommt dieser krasse B-Teil zum Schluss und alles ist sowieso großartig.
11. Frankie Simone – War Paint
Eine queere Kampfhymne, die aber auch generell als Pump-Up-Song großartige Dienste leistet. Diese Kombi aus Harmoniegesang und krachender Percussion reißt einfach mit.
12. Half-Alive – Still Feel.
Irgendwas musste dieses Jahr das Loch füllen, dass Everything Everything (deren letztes Album mir nicht so zusagte) und OK Go (die seit vier Jahren keine Musik veröffentlicht haben) hinterlassen haben. Diese Nummer stellt sich dabei schon ganz gut an: Funky, zittrig, hymnisch, mit großartigem Finale. Das Video ist auch nicht zu verachten:
13. Amy Shark – All Loved-Up
Wir hatten die Indiebanger, die Progrocker, die Filmmusik und die lauten Frauen. Was fehlt? Richtig: zuckersüßer Pop. Auch “All Loved-Up” hat ein Merkmal, das ich fast immer mag: den Refrain, bei dem der Rhythmus wegfällt, nur um später mit doppelter Wucht zurückzukommen.
14. Nation of Language – On Division Street
Es herrscht eindeutig zuviel 80er-Nostalgie in der Welt, aber das heißt nicht, dass sich eine Band, die ich nicht kenne, nicht mit einem Depeche-Mode-Pastiche in mein Ohr wurmen kann.
15. Troye Sivan – Seventeen
Noch ein Popsong, der einfach gut ins Ohr geht und mit Troye Sivan eine tolle Stimme am Mikrofon hat. Hier habe ich definitiv noch vor, mehr vom Album zu hören.
16. IDER – Body Love
“Body Love” war der erste Song, der aus der regulären Rotation in meine “Best of”-Playlist gewandert ist. Er lässt einen einfach nicht mehr los mit diesem herrlich synkopisch gereimten Refrain und den engen Harmonien. Hat ein bisschen was von Imogen Heap.
17. Sherry Kean – People Talk
Abgesehen von den guten Drum-Fills, hat mich “People Talk” vor allem mit seiner Gesangsmelodie begeistert, irgendwie fröhlich und melancholisch zugleich. Und: Gibt es eventuell eine unironische Rückkehr des Saxophons im Indiepop? Gerade diese Bariton-Bops, wie sie hier zu hören sind, habe ich in letzter Zeit öfter entdeckt.
18. Lemuria – Sliver of Change
Mein meistgehörter Song des Jahres. Steigt direkt ein und macht eine Ansage, das Schlagzeug weiß was es will, Gitarre und Bass folgen der Melodie und im Refrain gibt es dann diese männlichen Backing Vocals, die sind wahrscheinlich mein Lieblingsteil des Lieds.
19. Alexander Scheer und Band – Linda
Was diese Version von Gundermanns Lied für seine Tochte mit mir im Kino gemacht hat, habe ich für “Kino-Zeit” aufgeschrieben.
20. Eels – The Deconstruction
Eels wollten wir dieses Jahr eigentlich mal live sehen, aber dann haben wir doch eingesehen, dass das mit einem zwei Monate alten Baby nicht realistisch ist. Ins neue Album habe ich trotzdem reingehört und den Opener als kleines Memoriam mit mir durchs Jahr getragen.
21. Death Cab for Cutie – Gold Rush
Death Cab for Cutie sind so eine Band, die immer in meinem Augenwinkel existiert hat, irgendwie “Coldplay, wenn sie nicht so kommerziell wären”. Sie tauchen immer wieder auf meinem Radar auf, aber ich habe sie nie richtig entdeckt. Dieses Jahr drückte mir Apple Music die Songs des neuen Albums gnadenlos in die “Neue Musik für dich”-Playlist, aber vom ganzen Album blieb nur ein Song wirklich hängen. “Gold Rush” hat die richtige Mischung aus Melodie, Harmonie und Groove.
22. Plini – Salt + Charcoal
Noch eine Entdeckung aus meiner erwähnten Progphase, die dann vor allem zu Instrumental-Künstlern führte. Dazu gehört der Australier Plini, der in seinen Stücken mit Slap Bass und so einem Start-Stop-Gestus irgendwie Funk in das Gitarrengefuddel bringt. Das klingt einfach insgesamt sehr cool.
23. Frank Turner – Be More Kind
Diese Art von Hymnen brauchen wir 2018 und Frank Turner kann es irgendwie rüberbringen, ohne dass es allzu kitschig klingt: “In a world that has decided / that it’s going to lose its mind, / be more kind, my friends, try to be more kind”. Passt besonders gut in die Endzeit des Jahres, in der ich immer besonders sentimental werde.
24. Weezer – Africa
An diesem Cover hat sich die Musikjournaille wirklich abgearbeitet, aufgrund seiner Entstehungsgeschichte und der Entstehungsgeschichte des Originalsongs von Toto. Die Existenz von Weezers “Africa” sei ein Beweis für die “Beigeness” (also Langeweile) des Internets, meinte etwa Ann Powers bei NPR. Mag sein, dass der Song wenig Sinnvolles über Afrika erzählt, aber musikalisch ist er einfach ein echtes Highlight des Pop und die Weezer-Version aktualisiert ihn subtil mit mehr Gitarren und einem guten Groove. Nur für das Keyboardsolo hätte ich mir mehr Einfallsreichtum gewünscht.
25. Roger Miller All Stars – King of the Road
Als Finale des Roger-Miller-Tribute-Albums “King of the Road” singen diese Version des gleichnamigen Hits sämtliche Country-Stars Zeile für Zeile, die man finden konnte. Von Willie Nelson und Merle Haggard bis Eric Church und Kacey Musgraves. Das ist irgendwie herzerwärmend, und der Originalsong bleibt einfach großartig – obwohl ich erst dieses Jahr zum ersten Mal wirklich auf den Text gehört und festgestellt habe, dass es um einen Hobo geht und nicht (wie ich immer dachte) um einen Trucker.