Playlist 2022

Meistgehört: Re: M Field.

Wie jedes Jahr folgt eine Liste der Songs, die mir in den vergangenen zwölf Monaten so gut gefallen haben, dass ich sie nicht nur gerne gehört habe, wenn sie zufällig im Shuffle kamen, sondern aktiv aufgesucht oder beim Durchskippen immer drauf hängen geblieben bin. Das qualifizierte sie dann irgendwann dafür, auf eine “Best of 2022” Playlist zu wandern, auf der ich in den letzten zwei Wochen noch einmal etwas ausgesiebt habe.

Diese Vorgehensweise ist ein interessanter Pattern des digitalen Zeitalters, aber es erleichtert auch ein wenig, sie inzwischen so kodifiziert zu haben. Genauso wie die Tatsache, dass ich ab 1. Dezember aufhöre, meine “Neue Musik für dich”-Listen zu hören, um mich ganz auf Rückschau und Genuss (z. B. ganze Alben durchhören) konzentrieren zu können.

1. The Beths – Silence Is Golden

NPRs “All Songs Considered” hat mich dieses Jahr auf diese coole neuseeländische Rockband gestoßen. “Silence is Golden” ist der Über-Banger des Albums “Expert in a Dying Field”, aber auch der Titelsong und der Rest der Platte lohnen sich.

2. Everything Everything – Bad Friday

Das Album, mit dem sich Everything Everything dieses Jahr zurückgemeldet haben, hat mich viel viel besser gefallen als die zwei davor. Die Lyrics wurden mit Hilfe einer KI geschrieben, aber was heißt das schon. Die Lead Single “Bad Friday” erinnert auf beste Art an ihren ersten Hit “MY KZ YR BF”, der in der Top 10 meiner Lieblingssongs aller Zeiten stehen dürfte.

I’m wondering: how did I get this battle over me?
I got the pictures here on my phone.

Everything Everything

3. Fickle Friends – Love You To Death

Ich freue mich wirklich über diesen Strom an knalligen Pop-Formationen mit weiblichem Leadgesang. Fickle Friends war ziemlich sicher eine algorithmische Empfehlung, aber der Song (und Teile des Albums) macht auch einfach Laune.

4. Kae Tempest – More Pressure (feat. Kevin Abstract)

Rap ist nicht die Musik, die mir am natürlichsten zufällt. Es braucht schon irgendeinen Vibe, der mich über Beats und Text (den ich meistens erst spät wahrnehme) hinaus anspricht und bei “More Pressure” war das dieses Jahr der Fall. Kae war mir schon vorher ein Begriff und ich feierte bereits den Albumtitel “The Beigeness” vor acht Jahren, aber hier treten Flow und Musikalität noch einmal auf eine besonders gute Art heraus. Und natürlich könnte man sich “More pressure, more release, more relief, more belief” auch problemlos tätowieren lassen.

More pressure, more release, more relief, more belief

Kae Tempest

5. M Field – House and Leisure

Es gibt keinen Musiker, der mich in den letzten zwei Jahren mehr begeistert hat als Matthew Field. Vor allem mit seinen Soloplatten, aber auch mit seiner Band Beatenberg, die ich dieses Jahr live sehen durfte. Hier drückt einfach alles meine Knöpfe: die versteckt-komplexen Instrumentierungen und Grooves, die Stimme, die Harmonien, die Texte, die oft tongue-in-cheek von alltäglichem Kram und den daraus erwachsenen “großen” Gedanken erzählen.

And as the Amazon burns
I water my little fern
I bought on Amazon Prime

M Field

6. Aoife O’Donovan – Age of Apathy

Die Vorab-Single “Phoenix” war letztes Jahr schon auf meiner Playlist, aber auch der Titelsong des Albums ist einfach toll. Ich bleibe dabei: Aoife hat eine der schönsten Stimmen der Musikwelt überhaupt und ihre Songs verbreiten genau die richtige Melancholie.

Oh, to be born in the age of apathy
When nothing’s got a hold on you, if you need someone to hold
You can hold me

Aoife O’Donovan

7. Stromae – L’enfer

Ich habe dieses Jahr aufs Neue gemerkt, dass ich eine besondere Schwäche für Französisch als gesungene Sprache habe und bei Stromae verbindet sich diese merkwürdige Liebe mit dem vielleicht genialsten Stotter-Beat des Jahres. Das ganze Album “Multitude” ist ein großartiges Erlebnis – “Mon Amour” hätte ich am liebsten auch noch auf die Liste genommen. (Der wäre auch etwas weniger depri gewesen.)

8. Midlake – Bethel Woods

Teile von Midlakes Album haben etwas an sich, das mich auf einer subkutanen Ebene an 70er Genesis erinnert (“Feast of Carrion”). Das kommt in diesem Song nicht so deutlich raus, aber dafür hat es dieses treibende Schlagzeug, bei dem ich einfach nicht widerstehen kann.

9. Robert Glasper – Why We Speak (feat. Q-Tip & Esperanza Spalding)

Da auch R&B ein Genre ist, zu dem ich mich nicht so sehr von selbst hingezogen fühle, bin ich auch hier dankbar für “All Songs Considered”, die manchmal Titel anspielen, die auch für mich anschlussfähig sind. Ich kann zu dem Song trotzdem nicht viel sagen, außer dass ich ihn mag und die Mischung – auch in der Bilingualität und der Stimme von Esperanza Spalding – irgendwie stimmt.

10. Nilüfer Yanya – the dealer

Weckt bei mir Erinnerungen an Rocktitel aus den 90ern, aber mit einem moderneren Beat. Einfach ne gute Nummer.

11. And So I Watch You From Afar – Dive Pt 2

Meine großen Post-Rock-Zeiten liegen hinter mir, aber manchmal gelingt es Bands, mich doch noch mal hinter dem Ofen hervorzulocken. ASIWYFA haben das mit den Arrangements und der Dramaturgie des Albums “Jettison” dieses Jahr geschafft.

12. Gang of Youths – in the wake of your leave

Noch ein Album (“angel in realtime”), das sich in Gänze lohnt. Also, wenn man auf dramatischen Indierock mit großen Refrains steht.

13. half*alive – Move Me

Die Veröffentlichungspolitik von half*alive gibt mir zwar Rätsel auf (dieses Jahr erschien zunächst eine EP auf der Songs drauf waren, die zum Teil schon 2021 veröffentlich wurden, dann eine LP, auf der zum Teil noch mal die gleichen Songs waren), aber ihre Songs bleiben konstant gut und ungewöhnlich. “Move Me” ist der schönste der neuesten Charge.

14. Sergey Golovin – Factory

Sergey Golovin ist ein israelischer Gitarren-Wizard, der mich seit Jahren mit seinen Instrumentals erfreut. Seine ersten Alben klangen nach Dream Theater Anno 1992, “Factory” und die anderen Singles, die er dieses Jahr veröffentlicht hat, erinnern eher an Fitness-Motivations-Rocknummern aus den 80ern. Aber in geil.

15. Weezer – All this Love

Mein Sommer-Song 2022. Weezer im vollen Pop-Modus mit einem herzerwärmenden Post-Pandemie-Text. Hoffen wir, dass er sich nächstes Jahr endlich bewahrheiten kann.

I’ve got all this love that I’ve been saving up
Let me let it out, let me let it out!

Weezer

16. MUNA – What I Want

MUNA begeistern mich bereits seit ihrem zweiten Album, aber hier ist mein dunkles Geheimnis: “Silk Chiffon” fand ich ziemlich langweilig. Gilt zum Glück nicht für den Rest des neuen Albums, und “What I Want” ist eine geniale Empowerment-Hymne, zu der ich hoffentlich irgendwann auch mal öffentlich tanzen kann. (Dieses Jahr beschränkte sich Tanzen auf die Firmenweihnachtsfeier und ich trug Maske dabei, worum ich aber im Nachhinein dankbar bin, denn die Menge an Corona-Meldungen vier Tage später machte keinen Spaß.)

17. Porcupine Tree – Rats Return

Was für ein Glück, dass sich diese drei Männer entschieden haben, doch noch ein Album zusammen zu machen. Bei “Closure / Continuation” ist der Name Programm, es bildet einen Abschluss eines erfolgreichen Albumzyklus, knüpft aber auch deutlich an alles an, was seit “In Absentia” kam. Und dazu gehören geniale Rhythmus-Riffs wie das in “Rats Return”. Instant Classic!

18. The Mars Volta – No Case Gain

Ich finde es gut, dass sich The Mars Volta mit dem unerwarteten neuen Album noch einmal auf neues, weniger proggiges Terrain gewagt haben. Nicht alle Songs sind bei mir hängengeblieben, aber dieser schon.

19. Remi Wolf – Sugar

Noch eine luftige Sommernummer. Für die gute Laune zwischendurch.

20. Regina Spektor – Becoming All Alone

Bei all dem Gerede über Interpolation, das dieses Jahr die Popmusik beherrschte, wundert es mich, dass niemand mal diesen Song und Aimee Manns “Wise Up” nebeneinandergelegt hat. Der Vibe ist schon sehr ähnlich, aber mich stört es definitiv auch nicht, zwei Lieder mit ihm zu haben.

And we wouldn’t even have to pay
‘Cause You Are God and You’re revered

Regina Spektor

21. Hans Zimmer & Andrew James Christie – Prehistoric Planet Theme

Serie nicht geguckt. Theme trotzdem immer wieder gerne gehört. So kann es gehen.

22. Von Wegen Lisbeth – Auf Eis

Sollte ich Von Wegen Lisbeth sauer sein, weil sie ein Lied gemacht haben, dessen Refrain lautet “Mach bitte, bitte, bitte keinen Podcast”? Kann ich nicht, weil sie gleichzeitig auch dieses Lied geschrieben haben, in dem sich der Protagonist mit der im Kreis fahrenden Claudia Pechstein identifiziert. Alberne Melancholie, sign me up. Bonuspunkte für den Reim von “Skaten” auf “Relaten”.

Ich interessier mich nicht für Skaten
Und schon gar nicht auf dem Eis
Doch ich kann gut mit ihr relaten
Denn sie fährt die ganze Zeit im Kreis

Von Wegen Lisbeth

23. Peter Fox – Zukunft Pink (feat. Inéz)

Der Song, an dem man diesen Herbst nicht vorbeikam. Aber er ist auch einfach so gut. Ich hoffe es schreibt irgendwann jemand mal eine gute Analyse darüber, wie der Ragaton-Rhythmus zum dominanten Stilmittel der letzten zehn Jahre wurde.

24. Eule – Kapitänin der Band

Die “Eule findet den Beat”-Kinder-Hörspiele sind über die letzten Alben immer weniger kindermäßig geworden und enthalten einfach objektiv gute Songs (Hier mein Interview mit Schöpferin Nina Addin). Klar, der Text ist hier immer noch ein bisschen drauf gemünzt, das Instrument zu erklären (auf der ganzen Platte geht es darum, die Welt der Instrumente zu entdecken) – aber ich wünschte ich hätte als Mini-Schlagzeuger diesen Song gehabt. “Overdrive” vom gleichen Album steht “Kapitänin der Band” übrigens in nichts nach.

Jetzt spiel ich richtig laut
Wenn sich der Song aufbaut

Eule

25. The Mountain Goats – Training Montage

Als jemand, der Musik selten wegen der Texte hört, dringen die Mountain Goats immer nur dann zu mir durch, wenn sie auch mal wieder einen Ohrwurm geschrieben haben. “Training Montage” vom Actionfilm-Konzeptalbum “Bleed Out” ist so ein Fall. “I’m doing this for revenge!” ist aber auch eine Textzeile, die sich sehr gut mitrufen lässt (mit Fistpump versteht sich).

26. Beatenberg & Msaki – White Shadow

Bitte noch einmal zu M Field (5.) zurückspringen und alles noch mal lesen. Diese Nummer ist dazu noch ein tolles Duett.

27. Harry Styles – Music For a Sushi Restaurant

Noch so ein Lied, dem man dieses Jahr nicht ausweichen konnte. Und immer Props für Songs, deren Refrain nur ein Bläser-Einsatz ist.

28. King Princess – Cursed

“Cursed” ist die Art Song, bei der ich erst nicht so sicher war, wie gut er mir gefällt, der mir dann aber immer wieder in den Kopf kam.

29. APRE – Submarine

Wie jedes Jahr haben sich auch 2022 die zwei Jungs von APRE mit einer ihrer Pop-Rock-Hymnen in meine Gehörgänge gewurmt und sind deswegen in dieser Liste vertreten.

30. Fergus McCreadle – The Unfurrowed Field

Mein Geheimtipp seit Jahren: Beim Mercury Prize gucken, welches Jazz-Album nominiert wurde. Dort finden sich häufig sehr mainstream-anschlussfähige Acts wie GoGo Penguin oder Moses Boyd. Dieses Jahr Fergus McCreadle, der einfache Themen am Piano über mehrere Minuten mit Trio variiert und immer weiter aufbaut. Sehr hörbar.

31. Roxette – Never Is A Long Time (EMI Demo May 26-30, 1987)

Marie Fredriksson ist vor drei Jahren gestorben, was mich immer noch jedes Mal traurig macht, wenn ich dran denke. Ihr musikalischer Partner Per Gessle veröffentlicht fröhlich weiter, sowohl neues Material (solo und als PG Roxette) als auch immer wieder ungewöhnliche Archiv-Funde, wie diese Version des Songs, der schließlich auf “Joyride” landen sollte und hier noch sehr nach 1987 und nach New Wave klingt. Faszinierend, wenn eine Band so regelmäßig Einblicke in ihren Produktionsprozess erlaubt.

Links zum Selbsthören: Apple MusicSpotify

No Children of the Revolution: Das Modell Moulin Rouge! hat sich nie durchgesetzt

© 20th Century Fox

In einem der besten DVD-Extras aller Zeiten spricht der australische Regisseur Baz Luhrmann alleine auf einer Bühne darüber, welchen Prozess er durchlaufen musste, um seine neonfarbene Inszenierung von William Shakespeares “Romeo und Julia” dem Hollywood-System zu verkaufen. Wer zehn Minuten Zeit hat, sollte sich das ganze Video anschauen, es ist urkomisch, aber für das Thema dieses Artikels reicht es, sich auf eine Stelle zu konzentrieren.

An diesem Punkt der Geschichte ist Luhrmann völlig entmutigt, dass irgendjemand sein Konzept interessant findet. Noch dazu hat er sich verbogen, um seine wahre Intention vor dem Studioboss, der ihm gegenübersitzt, zu verbergen. Dieser hat Mitleid mit ihm und versucht, dem Regisseur einen Rettungsring zuzuwerfen. “I hear there’s music in this film. What kind of music?”, bietet er an, und Luhrmann beißt sofort in die angebotene Karotte. “Contemporary music!”, ruft er, und auf die Nachfrage “What kind of contemporary music?”, platzt es aus ihm heraus: “More hits than you can possibly imagine!”

Generation Lovefool

Nun war das Soundtrack-Album von William Shakespeare’s Romeo + Juliet tatsächlich sehr erfolgreich. Obwohl es wahrscheinlich nur einen wahren Hit produzierte, “Lovefool” von der schwedischen Band The Cardigans1, gehört es in meiner Generation — gemeinsam mit dem drei Jahre später erschienenen Soundtrack von Cruel Intentions (dt. Eiskalte Engel) — zu den Soundtrack-CDs, die fast jeder Mittelstufler im Regal stehen hatte. Luhrmann hatte also bewiesen, dass er ein Auge bzw. ein Ohr dafür hatte, das Klassische in interessanter Weise auf das Moderne treffen zu lassen. Nur für seine Vision von den unvorstellbar vielen Hits musste die Welt sich noch einen Film lang gedulden.

Moulin Rouge! (nur echt mit Ausrufezeichen), Luhrmanns dritter Spielfilm aus dem Jahr 2001, wird den meisten Menschen filmhistorisch gesehen — falls überhaupt — eventuell im Gedächtnis bleiben, weil sein Erfolg in Hollywood eine Welle von neuen Musicalfilmen lostrat, in denen Stars, die nicht für ihre Singstimmen bekannt waren, plötzlich ihr Talent als moderne Bard_innen entdeckten. Gemeinsam mit Darren Aronofskys Requiem for a Dream wird Moulin Rouge!, mit seiner durchschnittlichen Einstellungslänge von 1,9 Sekunden2, außerdem auf ewig als Exempel für die Beschleunigung des Filmschnitts um die Jahrtausendwende herhalten dürfen.

Marmeladen-Ladies

Pophistorisch könnte Luhrmanns Film eventuell noch als einer der wichtigsten Meilensteine auf Christina Aguileras Pfad zum Superstar wahrgenommen werden — schließlich übernahm “Xtina” gewissermaßen die Hauptrolle in der Mega-Super-Smash-All-Star-Coverversion von Labelles “Lady Marmelade”, die den Soundtrack krönte und wochenlang weltweit die Popcharts regierte.3 Dabei hat der Film in seinen Musiknummern ein Modell aufgestellt, das bis heute nie wieder erreicht wurde.

Hinter Moulin Rouge! und seinem Songkonzept steht ein einfacher Gedanke: Dass die großen Poeten früherer Zeitalter heute wahrscheinlich Songwriter für Popsongs wären. In der berühmtesten Szene des Films versucht der mittellose Poet Christian (Ewan McGregor) die Zuneigung der begehrten Tänzerin Satine (Nicole Kidman) für sich zu gewinnen. Satine ist Christian durchaus zugetan, doch sie weiß, dass Christian ihr nichts bieten kann außer einem Leben in Armut. Noch dazu hat Satines Chef Zidler (Jim Broadbent), der Betreiber des Moulin Rouge, ihr jüngst in Aussicht gestellt, dass ein wohlhabender Kunde (Richard Roxburgh) bereit ist, eine große Menge Geld in das Theater zu investieren, wenn er dafür Satine bekommt. Während Christian der Tänzerin also Antrag auf Antrag macht, weist sie ihn immer wieder zurück.

Anatomie eines Elefantenmedleys

Das “Elephant Love Medley”, wie das dabei entstehende Werk auf dem Soundtrack heißt, weil die ganze Szene auf einem überdimensioniertem Stück indischer Dekoration spielt, besteht ausschließlich aus den Zeilen bekannter Lovesongs. Christian lässt nichts aus, um Satine zu umwerben, weder “All you need is love” noch “I was made for loving you”, “One more night”, “In the name of love”, “Don’t leave me this way” oder “Up where we belong”. Jeder Song ist ein neuer Ansatz, den Satine jedoch immer mit einer Verdrehung des Textes abweist. “The only way of loving me, baby, is to pay a lovely fee”, heißt es etwa in Antwort auf KISS’ größten Hit. Erst mit David Bowies “Heroes” – scheinbar dem Song zeitgenössischer Bohemiens – kann Christian Satine berühren und schon bald liegen sich die beiden zu “I will always love you” in den Armen, dem wahrscheinlich pompösesten und größten Lovesong aller Zeiten und Universen.

Die anderen großen Musiknummern des Films funktionieren nach dem gleichen Rezept – “more hits than you could possibly imagine”. Luhrmann und sein Music Developer Josh Abrahams plündern die Musikgeschichte mit maximaler Effektivität. Die schillernde Revue, die in mehreren, nur durch wenig Dialog unterbrochenen, Musikeinlagen das Moulin Rouge und seine Charaktere vorstellt, mischt Marilyn Monroes “Diamonds are a girl’s best friend” mit Madonnas “Material Girl”, Marc Bolans “Children of the Revolution” und – am erinnernwertesten – einer einzelnen Zeile aus Nirvanas “Smells like Teen Spirit”: “Here we are, now entertain us!”.

Mehr als eine Jukebox

Elton Johns “Your Song”, Madonnas “Like a Virgin”, Randy Crawfords “One Day, I’ll Fly Away” und Queens “The Show Must Go On” bilden weitere Bausteine des Gesamtkunstwerks Moulin Rouge!. “El Tango de Roxanne”, der dramatische Höhepunkt des Films lässt mehrere Charaktere an verschiedenen Orten, in unterschiedlichen Stufen der Verzweiflung gegeneinander ansingen.4 Das Leitmotiv bildet “Roxanne” von The Police, das im Rotlichtmilieu des Films und als Tango arrangiert plötzlich einen ganz anderen Effet bekommt. Nach und nach mischt es sich mit “Come what may”, der einzig prominenten Originalkomposition des Films.

So genannte “Jukebox Musicals”, die den Katalog eines Interpreten oder einer musikalischen Ära plündern, und mit viel Mühe versuchen, eine Geschichte drumherum zu stricken, sind eins der erfolgreichsten Bühnenkonzepte des 21. Jahrhunderts — von “Mamma Mia” und “We Will Rock You” bis zu ihren deutschen Nachahmern wie “Hinterm Horizont”. Doch während diese Chimären des Musiktheaters meist nur gnadenlos unsere Sucht nach Retromania bedienen, erschafft Luhrmann in Moulin Rouge! aus seinem Bric-a-brac der Musikgeschichte etwas Eigenes. Er nutzt die zeitlosen Songs nicht als Bezeichnetes, an das wir uns nostalgisch zurückerinnern, sondern als Materialien für ein Patchwork unseres kollektiven Unbewussten, in dem sie nahtlos verschwinden.

Das merkt man etwa daran, dass Luhrmann kein Problem damit hat, Textzeilen einfach zu ändern, wenn sie nicht passen. “Like a virgin” ist im Original ein Song in der ersten Person Singular, doch in Moulin Rouge! wird er zum Bericht an eine zweite und über eine dritte Person. Die Zeile “When your heart beats next to mine” ändert der Film daher kurzerhand in “When your hearts beat both in time”. Wer sich Madonna voll hingeben will, ist irritiert, doch der Song ist eben nur kultureller Lehm, endlos formbar unter den Händen seines Künstlers.

Der Prototyp

Das Mashup ist, neben Dubstep, wohl die prominenteste “neue” Musikrichtung, die in den 2000er Jahren den Mainstream erreicht habt, und sie dient den Kulturpessimisten gerne als Beweis dafür, dass die digitale Ära eine ist, in der nichts Neues mehr erschaffen, sondern nur noch Vorhandenes rekombiniert wird. Ein gutes Mash-up aber lässt seine Elemente so aufeinanderprallen, dass in ihrer Reaktion miteinander etwas Neues entsteht. Die Musik von Moulin Rouge! ist sozusagen ein Prototyp eines solchen Mash-ups.

Baz Luhrmann hat das Mashup um Himmels Willen nicht erfunden.5 Er kannte es sozusagen nur, bevor es, wahrscheinlich spätestens mit Danger Mousens “Grey Album”, berühmt wurde. Doch Moulin Rouge!s Pionierfunktion geht noch weiter. In gewisser Weise nehmen die Arrangements des Films die bombastische Showtune-isierung sämtlicher Popklassiker durch die musikalischen Castingshows dieser Welt und die Fernsehserie Glee vorweg, von den heute total hippen Bollywood-Tonalitäten, die Luhrmann schwerelos in seinen Songteppich einwebt, ganz zu schweigen.

Moulin Rouge! ist also nicht nur ein Meilenstein des musikalischen Kinos, es ist auch eine Bestandaufnahme musikalischer Strömungen um die Jahrtausendwende. Dennoch wurde sein Konzept nie weiträumig kopiert. Das Filmmusical erhielt, wie erwähnt, einen Aufschwung, meist jedoch entweder in Produktionen von etablierten Broadway-Hits wie Chicago und jüngst Les Misérables oder in den oben genannten Jukebox-Musicals wie Mamma Mia, Across the Universe oder Rock of Ages. Selbst Baz Luhrmann traute sich nicht, sein eigenes Konzept weiterzuentwickeln. The Great Gatsby von 2013 paart zwar F. Scott Fitzgeralds literarisches Gemälde der Roaring Twenties mit der modernen Dekadenz von Lana Del Rey und Jay-Z, ist in seinen Musikeinsätzen damit aber eher wieder im Territorium von Romeo + Juliet angekommen.

Der einzige Nachahmer

Einen einzigen Film gibt es, der sich traute, den Moulin Rouge!-Weg zu gehen, und obwohl er in seinem Erscheinungsjahr 2006 recht erfolgreich war, dürfte er wohl kaum die Geschichte überdauern. Die animierte Pinguinfabel Happy Feet — interessanterweise ebenfalls von einem Australier, George Miller, inszeniert — ist ebenfalls ein Musical, das sich seine Songs aus der gesamten Musikgeschichte zusammenklaut und sie fröhlich miteinander verquirlt. Hugh Jackman und Nicole Kidman (mal wieder) imitieren Elvis Presley und Marilyn Monroe und paaren sich zu einem Mashup von Princes “Kiss” und Elvis’ “Heartbreak Hotel”. Weitere Highlights sind eine Interpretation der spanischen Übersetzung von “Comme d’habitude” (“My Way”) durch Robin Williams und Brittany Murphys Rockin-Southern-Church-Version von Queens “Somebody to Love”.

Happy Feet erreicht allerdings nicht annähernd die Dichte und schiere Wucht von Moulin Rouge! und vielleicht ist das auch der Grund, warum sich sonst niemand mehr an Luhrmanns Konzept versucht hat. Der Film ist so archetypisch. Sein Plot ist im Grunde eine Variante von “Orpheus in der Unterwelt”, was ebenfalls in mehrfach gebrochenen Referenzebenen reflektiert wird — die Figuren des Films führen ein Stück auf, das ihre eigene Situation reflektiert und nutzen dafür Passagen aus Jacques Offenbachs “Can can”. Seine wichtigsten Songs sind so bekannt, so eingebrannt in unser kulturelles Gedächtnis, dass jeder weitere Versuch, das Konzept zu adaptieren, wie eine schale Imitation wirken muss.

Moulin Rouge! bleibt also ein Beinahe-Einzelfall, entweder ein Meisterwerk oder ein freak accident der Filmgeschichte, mit Sicherheit aber Baz Luhrmanns vielschichtigster und vielleicht auch bester Film bisher. Und sein Erbe lebt fort. Come what may.

Inspiriert wurde dieser Artikel übrigens vom Besuch der Ausstellung “Esprit Montmartre” in der Frankfurter Schirn Kunsthalle. Die Ausstellung ist noch bis 1. Juni 2014 zu sehen und sehr empfehlenswert.

1 Das Erbe von Luhrmanns Inszenierung des Stücks inklusive des Cardigans-Songs parodieren Simon Pegg und Edgar Wright kongenial in einer Szene in Hot Fuzz, in der die Dorftheatertruppe “Romeo und Julia” aufführt und dabei nicht nur in den Kostümen Luhrmann “schwedet”. Am Ende tanzt auch das ganze Ensemble zu einer Pianoversion von “Lovefool” von der Bühne.
2 Diese Zahl stammt aus einem Vortrag von David Bordwell, den ich 2003 gehört habe.
3 An dem Song bis heute bemerkenswert: Wie es Missy Elliot gelingt, das französische Wortpaar “Moulin Rouge” in einem ihrer Einwürfe bis zur Unkenntlichkeit zu amerikanisieren. Mew-Lahn Roosh, indeed.
4 Mein innerer Klugscheißer will behaupten, dass diese Tradition, die sich heute in vielen Musicals findet, auf Leonard Bernsteins “Quintet” aus West Side Story zurückgeht, ich bin mir aber nicht sicher.
5 Wikipedia nennt The Whipped Cream Mixes (1995) von Mark Gunderson als Vater des Genres.

Real Virtualitys willkürliche Blog-Preise 2013

Das Jahr neigt sich dem Ende zu – für mich immer zugleich die beste und die schlimmste Zeit des Jahres, weil ich immer ein starkes Bedürfnis nach dem mit mir herumtrage, was man im Englischen “Closure” nennt. Wahrscheinlich ist “Abschließen” die bestmögliche Übersetzung dafür. Ab Mitte Dezember erfasst mich der Wunsch, mit dem zurückliegenden Jahr abzuschließen, um an einem völlig willkürlich gewählten Datum, dem 1. Januar, ein neues zu beginnen. Im schlimmsten Fall mündet dieses Gefühl in einer tiefen Melancholie, die mir manchmal sogar schon die Feiertage vergällt hat, im besten Fall in einer warmen Zufriedenheit und einer Reihe von Listen.

In den vergangenen Jahren habe ich auf “Real Virtuality” lediglich eine Jahresends-Top 10 veröffentlicht, und diese wird auch dieses Mal wieder das Jahr beschließen. Aber 2013 habe ich irgendwie das Bedürfnis, noch ein paar weitere Momente, Personen und Institutionen des Jahres rückblickend zu ehren und ihnen eine Reihe willkürliche, undotierte und unsichtbare Preise aufzudrücken. Nehmt es einfach als meine Art hin, so etwas wie einen blogbezogenen Jahresrückblick zu verfassen.

Beste neue Filmwebsite

Wer noch nicht bei “The Dissolve” vorbeigeschaut hat, sollte das dringend tun. Nicht nur ist die Seite optisch ein Fest (was ich meist gar nicht merke, da ich sie hauptsächlich im Feedreader und auf Pocket genieße), sie versammelt auch ein Team der besten amerikanischen Online-FilmjournalistInnen, darunter mein oberster Held Matt Singer, die wirklich tolle Arbeit machen. Am liebsten lese ich die “Features”, die fast immer einen wertvollen Beitrag zu aktuellen Debatten liefern und manchmal auch selbst spannende Themen setzen. Dabei loten die neun Autorinnen und Autoren alle Formen des Filmjournalismus aus und inspirieren mich immer wieder – übrigens mit einem deutlich arthousigeren und internationaleren Blickwinkel als die vielen anderen, auf Geek-Kultur und Blockbuster fixierten, amerikanischen Filmblogs da draußen.

Beste Filmbuchentdeckung

Wie schon gelegentlich an dieser Stelle erwähnt, wollte ich 2008 mal eine Dissertation über Danny Boyle schreiben – damals war der Brite als “Marke” noch relativ unbekannt und es gab, außer zu Trainspotting wenig Literatur über ihn. Was mir aber damals schon klar war, aus Interviews und Audiokommentaren: der Mann hat durchaus was zu sagen. Dann kam Slumdog Millionaire und die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele von London und plötzlich war Boyle in Großbritannien so eine Art nationale Ikone. Trotzdem habe ich die Literatursituation um seine Person nicht weiter beobachtet und so schlug mein Herz wie verrückt, als ich im Urlaub in einem Buchladen in Oxford einen ganz aktuellen Boyle-Interviewband aus der Faber&Faber-Reihe entdeckte. Die Einleitung verschlang ich noch im Bus zum Flughafen und nutzte das Wi-Fi im Terminal um mich überschwänglich bei der Autorin auf Twitter zu bedanken (Dafür liebe ich das Netz). Boyle enttäuscht nicht in dem Buch – er kann sein Werk klug reflektieren ohne in übertriebene Selbst-Exegese abzudriften. Trance zum Trotz – ich glaube, er hat noch einige große Filme in sich.

Bester Celebrity-Fanboy-Moment

Als er damals für Vodafone Werbung machte, war es unter Netzleuten sehr en vogue, Sascha Lobo blöd zu finden. Ich bin unsicher, ob sich das inzwischen – vielleicht auch durch seine “Spiegel Online”-Kolumne – gelegt hat. Ich jedenfalls fand ihn immer schon klüger als seinen Ruf, mehr als nur einen reinen Selbstvermarkter, sondern jemanden, der mit großer Ernsthaftigkeit und mit großer Ironie versucht, herauszufinden, was uns im Internetzeitalter zum Ticken bringt. Das Buch, was er mit Kathrin Passig zum Thema geschrieben hat, ist durchaus lesenswert weil ausgewogener als man denkt. Ich habe mich also sehr gefreut, dass ich im November die Gelegenheit bekam, Sascha Lobo bei einem Vortrag in Wiesbaden reden zu sehen. Noch mehr habe ich mich aber gefreut, dass sich anschließend noch die Gelegenheit ergab, mit Sascha und Jannis “Netzfeuilleton” Kucharz gemeinsam zum Bahnhof zu spazieren und noch ein wenig zu plaudern. Mein Bild, dass ich immer von ihm hatte, hat sich in der persönlichen Begegnung positiv bestätigt – oder er ist zumindest sehr gut darin, eine von ihm kreierte Figur zu spielen.

Beste filmbezogene Reise

Es wäre zu einfach, hier den Trip zur Berlinale im Februar auszuzeichnen, bei dem unter anderem das Bloggertreffen stattfand und ich einige der Filme sah, die jetzt auf meiner Jahresliste stehen. Der war zwar toll, aber auch ziemlich anstrengend und kalt. Irgendwie auf der Awesome-Skala weiter oben war mein Kurztrip nach Berlin im Sommer. Neben dem Hauptzweck dieser Dienstreise, dem wunderbar lockeren Interview mit Charlotte Roche für “Close up”, konnte ich auf der “Haben”-Seite des Trips noch ein Treffen mit Jenny und Matthias vom “Wollmilchcast”, höchst amüsante Pressevorführungen von City of Bones und White House Down, ein kurzes Hallo mit Patrick, Björn und Sophie aus dem Filmosophie/Kontroversum-Kosmos und ein Bierchen mit Rochus vom “Kinderfilmblog” und Martin von “ReiheSieben” verbuchen. Wenn man überlegt, wie trist sonst oft die Übergangsnächte von Dienstreisen an der Hotelbar enden, hätte ich mir nichts Besseres wünschen können.

Unerwartetste Medien-Leben-Wechselwirkung

Ich schreibe auf “Real Virtuality” nie über Musik, zwei Themenfelder müssen reichen, aber als leidenschaftlicher Musikhörer und Schlagzeuger spielt Musik dennoch eine sehr große Rolle in meinem Leben. Für neue Empfehlungen bin ich immer offen, und dieses Jahr habe ich mein Album des Jahres ab einem sehr ungewöhnlichen Ort entdeckt: dem Wissenschafts-Podcast “Radiolab“. Dort haben sie nämlich im Sommer aus einem unerfindlichen Grund der Gruppe Dawn of Midi und ihrem aktuellen Album “Dysnomia” eine Sendung gewidmet. Dawn of Midi hat als Free Jazz Trio angefangen, aber “Dysnomia” ist etwas ganz anderes – eine pulsierende, 50-minütige Suite, die sich im Spannungfeld zwischen der modernsten aller großen Musikrichtungen, Techno, und den ältesten Klängen der Menschheit überhaupt bewegt. Gletscherähnlich verschieben sich die akustischen Rhythmen auf “Dysnomia” zu einem hypnotischen Gesamtbild. Danke, Radiolab!

Ärgerlichster Kinobesuch

Als jemand, der selbst mal in einem Kino gearbeitet hat, erwarte ich eine gewisse Projektionsqualität, wenn ich zehn Euro und mehr für einen Film über den Tresen geschoben habe. Üblen Laufstreifen und ähnlichen Verbrechen hat die digitale Projektion zum Glück den Garaus gemacht, aber das Feld der möglichen Kinosaal-Sünden bleibt weit. Das Cineplex Saalfeld gefiel mir von seiner Gestaltung her eigentlich sehr gut und erinnerte mich sogar ein bisschen an “mein” altes Kino in der Heimat. Doch die 3D-Vorstellung von Frozen war dann alles andere als erfreulich. Ich bin bisher noch nie Opfer des “Nicht genug Licht”-Problems bei 3D-Vorstellungen geworden, das wohl in den USA regelmäßig für Ärger sorgt. Aber auch in Saalfeld war es sehr schwer, dass 3D ordentlich zu genießen. Der Grund: Strahlende Lichtbänder an jeder Stufe des Bodens, die den Saal in ein fröhliches Zwielicht tauchten. Auf meinen Hinweis, es wäre zu hell im Kino, sagte man mir, dass sei die Notbeleuchtung und die müsse an bleiben. So viel Not kann doch gar nicht herrschen …

Erstaunlichste filmbezogene Erfahrung

Durch meine Redakteursstelle bei 3sat haben sich mir viele Türen geöffnet, hinter die ich schon immer mal blicken wollte. Zu den absoluten Highlights gehörte dabei für mich, dass ich Anfang des Jahres die Synchronisation des Films Kairo 678 betreuen durfte, den 3sat anschließend in seiner Filmreihe über Frauen im Islam gezeigt hat und der inzwischen auch bei good!movies auf DVD erschienen ist. Obwohl ich persönlich Filme am liebsten im Original sehe, egal ob ich die Sprache spreche oder nicht, habe ich doch als Wortfetischist und Hobbyübersetzer großen Respekt vor der Kunst der Synchronisation. Hier reihte sich quasi ein Wow-Moment an den nächsten. Das Durchsprechen des Synchronbuchs mit der Regisseurin, der Besuch bei den Aufnahmen, und schließlich die Abnahme der Mischung in den heiligen Hallen der Berliner Synchron mit einem Toningenieur, der ebenfalls zu den inspirierendsten Menschen gehört, die ich dieses Jahr kennenlernen durfte. Auf jeden Fall eine Erfahrung, von der ich noch lange zehren werde.

Awesomeste Netzbekanntschaft

Durch meinen Blogosphäre-Artikel und die darauf aufbauenden Aktionen wie die Bloggertreffen und Group Hug habe ich viele tolle Menschen kennengelernt, die mein Leben auf mannigfaltige Weise bereichert haben (mehr dazu im Januar). Aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass sich im Endeffekt aus einem Interview noch einmal eine Freundschaft ergeben würde, wie ich sie zuletzt mit 16 hatte, als ich meine ersten Schritte im Internet machte. Ohne sich jemals persönlich getroffen zu haben mal wieder eine solche Vertrautheit aufzubauen und gemeinsam unverschämt offen dämliche Leidenschaften zu diskutieren – das ist schon etwas besonderes und hat mir so manchen Tag gerettet. Ich hoffe, die betroffene Person weiß, dass sie gemeint ist. Danke.

(Das sind übrigens meine Hände auf dem Bild, die da einen echten Oscar halten. Den von Richard Halsey, für seinen Schnitt von Rocky)

Eine kleine Geschichte des “echten” Gesangs im Film

Bild: Universal Pictures International

Die Musical-Verfilmung Les Misérables hatte meiner Ansicht nach so einige Probleme. Unter anderem litt sie unter schlecht inszenierter Action und einem furchtbar langweiligen dritten Akt, dessen essenzielle Konflikte ständig in einer Ariensoße zu ertrinken drohten. Was mich allerdings nicht gestört hat, obwohl es (exemplarisch) anderswo originell beschimpft wurde, war der am Set aufgenommene Live-Gesang, der an die Stelle des traditionellen Vollplaybacks zu einer im Studio aufgenommenen Version trat.

Tom Hooper und sein Team wurden nicht müde, das Alleinstellungsmerkmal dieses Verfahrens zu betonen (obwohl Julie Taymor es vor fünf Jahren in Across the Universe auch schon gemacht hat, was sogar Improvisation am Set zuließ) – und ich fand es funktionierte. Die velorene Gesangsqualität wurde durch rohe Emotion ausgeglichen.

Zur wahren Emotionalität fehlt Les Misérables aber dennoch der entscheidende Schritt. Denn all das endlose Gesinge in Paris findet ja nach wie vor außerhalb der Diegese der Handlung statt. Es ist eine Konvention des Genres, dass alle Charaktere singen, statt zu sprechen. Behandelt werden ihre stimmlichen Äußerungen aber so – egal ob live oder nicht – als würden sie sprechen; was man daran erkennt, dass die Musik aus dem Nichts kommt und niemand zugibt, dass er gerade singt.

Echtes Singen aber ist ein zutiefst emotionaler Akt, bei dem ein Mensch ein Stück seiner Seele offenbart. Und außerhalb von (technisch unterstützten) Performance-Situationen steigt diese Seelenoffenbarung, diese Zurschaustellung von Verletzlichkeit, die dadurch aber eine umso intensivere emotionale Bindung zulässt, noch um ein Vielfaches.

Daher liebe ich es, wenn Menschen in Filmen “echt” singen, das heißt der Akt des Singens findet innerhalb der Handlungswelt statt. Keiner der Singenden steht dabei auf einer Bühne, in einer anderen Sphäre, sondern der Gesang ist Teil der unmittelbaren Lebenswelt aller beteiligten Figuren. Eine schwammige Definition, ich weiß, aber vielleicht kann die folgendes Sammlung meiner Lieblingsbeispiele demonstrieren, was ich meine. Ich freue mich auf die weitere Sammlung in den Kommentaren – vor allem, um das 40-jährige Loch in der Mitte zu stopfen. [Auf Facebook sind schon ein paar gute Ergänzungen eingegangen]

1. It Happened One Night (1934)

Das Video zeigt den ganzen Film, die relevante Stelle ist hier.

Das waren noch Zeiten, als man Songs noch ungestraft mitten in einen Film einbauen konnte. Hier haben sich Clark Gable und Claudette Colbert lange angekabbelt und nun endlich eine gemeinsame Linie gefunden, als sie zusammen im Bus sitzen. Dem Publikum und derm Film selbst wird daher eine Atempause zugestanden, indem der ganze Bus anfängt vom “Daring Young Man on a Flying Trapeze” zu singen. Das wärmt das Herz, sorgt für Gemeinschaftsgefühl und beschwingt den Busfahrer so sehr, dass er in den Graben lenkt – wo die Screwball-Handlung wieder weitergehen kann. Ein echter Coup!

2. Casablanca (1942)

Die wahrscheinlich berühmteste Szene in meiner Aufzählung. In einem Krieg der Lieder gewinnt das Lied der Unterdrückten (dessen textlichen Inhalt man an dieser Stelle besser ausblendet).

3. Paths of Glory (1957)

Genau genommen steht die junge Christiane Kubrick hier natürlich schon auf einer Bühne, doch es gibt keine trennende Linie zwischen Performer und Zuhörer. Im Gegenteil: Die ganze Szene zielt darauf ab, die Demarkationslinie zwischen Soldaten und Zivilisten, Besatzern und Besetzten, “Guten” und “Bösen” einzureißen. Das Motiv des traurigen Lieds von der Heimat, das die Soldaten in ihrer Menschlichkeit vereint, taucht hier weder zum ersten, noch zum letzten Mal auf.

4. Almost Famous (2001)

Cameron Crowe schummelt ein bisschen, weil er die Original-Aufnahme des Songs unter die Szene legt, das nimmt dieser entfernten Kusine von Szene Nummer 1 aber nichts von ihrer Wirkung. An einem absoluten Tiefpunkt angekommen, groovt sich eine zerstrittene Band hier mit einem Song, den sie liebt, wieder zurück in die positive Zone. Wer sich jemals wirklich mit einer Band im Auto/Bus die Fahrt mit Musik vertrieben hat, weiß, dass solche Momente magisch sind.

5. Moneyball (2011)

“I’m just a little girl lost in the moment.” Hier wird ein Song zum Bindeglied zwischen einer Tochter und dem Vater, der sie vernachlässigt hat, weil er von Baseball-Statisken besessen ist und der sich eben nicht zurücklehnen kann “and just enjoy the show”. Und der Song verbindet sie bis zum Ende des Films, wenn die Baseball-Mission des Vaters gescheitert ist, Tochter und Song aber zum Glück noch da sind.

Kreative Zeichensetzung mit Radio Energy

Eben erreicht mich eine Pressemitteilung mit der Überschrift “Detlef D! Soost äußert sich erstmals zu Sidos Anschuldigungen im ENERGY Berlin Interview”. Hui, hab ich mir gedacht. Da geht’s heiß her bei den Topjurys der Republik.

Nach dem Lesen der ganzen Meldung weiß ich auch, was vorgefallen ist. Sido hat in der “Bravo” über D! gesagt: “Er ist ein Vollidiot und privat genauso abgebrüht wie in der Sendung”. Hammer!

Interessant ist, was D! laut dem Radiosender Energy dem entgegnet:

“Also das ist jetzt das einzige Mal, wo ich sarkastisch werde, wenn mir 20 Jahre nach dem Mauerfall zum Jubiläum, erst einfällt, nur weil meine Single vom Osten handelt, das ich ja eigentlich aus dem Osten bin und erst später ins Märkische Viertel gekommen bin, spätestens mal dann muss ich sagen wie hoch ist die Glaubwürdigkeit Sido”, so Detlef D! Soost gegenüber ENERGY Berlin.

Ja, sprechen Sie ruhig mit: WAS?! Lesen Sie es nochmal. Jetzt klar? Mhm, das kommt dabei raus, wenn man wörtliche Äußerungen im Radio transkribiert und alle Zeichen außer dem Komma klemmen.

An anderen Stellen hätte dann vielleicht auch ein Komma ganz gut getan. Wobei, “die Glaubwürdigkeit Sido” ist vielleicht analog gebildet zu “das Leiden Jesu” – klingt ja auch ähnlich.

Worte zum Wochenende

For all the reassuring hype surrounding this week’s release of the remastered back catalogue – all the gruff bellows of solidarity stating that anyone who claims not to like the Beatles is either “a fool or a liar” – I’ve found that being a Beatles fan in 2009 is decidedly uncool.

Mark Beaumont , guardian.co.uk
// Help! The Beatles are my favourite band!

Der erste World Hoop Day fand übrigens am 7.7.07 statt, seitdem wandert das Datum und wird es auch weiterhin tun – bis 2013 das böse Erwachen kommt, manche Leute scheinen wirklich nichts aus dem Jahr-2000-Problem gelernt zu haben.

Michael Brake , Riesenmaschine
// WHD mit geringem MHD

This was and still is annoying to sports writers, but as a strategy it made sense. Jocks may not all be geniuses, but they realize that boasting can lead to little good and a lot of bad:

Ben Yagoda , Slate
// A Modesty Proposal

Nimmt man die Aufführung von “24h Berlin” als Stadt-Event, so war es offenbar nur ein mäßiger Erfolg. Glücklicherweise wurde der Film nicht, wie man befürchten konnte, zu einer Unterform von Stadtmarketing. Ohnehin verschluckt eine Großstadt noch ganz andere Events, ohne dass die meisten davon etwas bemerken, an diesem Tag etwa die Demonstration von 35.000 Atomkraftgegnern. Oder den weltgrößten Elektronikspielplatz, die Internationale Funkausstellung, die eigentlich in der gleichen Branche spielt, wo aber eine ganz andere Vorstellung von Realität in den Medien regiert. Wirklichkeit wird hier als etwas definiert, das man jetzt superscharf sehen und in jeder Lebenslage empfangen kann. Der Rest ist Content.

Fritz Wolf , epd medien
// Begegnungen und Bündnisse, epd medien 71/09, S. 3

Worte zum Wochenende

I wonder how long it’ll be before a trailer opens with: “In a world where Megan Fox gets naked …” It might not represent the whole film, but it would make some studio bosses ever so happy.

Anna Pickard , guardian.co.uk
// Jennifer’s Body trailer: not to be confused with Juno

Die Berufsethoswächter mögen ein Nachsehen mit mir haben, denn die Zeit drängt und ich möchte mich doch auch noch einmal auf das Niveau herunterlassen, auf dem nun auch das Panorama der Süddeutschen Zeitung sich einpendelt, und vermelde: Angela Merkel hat einen Bums-Platz in ihrem Haus. Jawohl, ein privates Bumsodrom.

Silke Burmester , taz
// Wer nix wird, wird kompakt

Das Telefonnetz ist ein Ort der Obszönitäten, der Niedertracht und der Drogengeschäfte. Liebende hauchen Sätze in die Muschel, bei denen sich jeder Dudenredakteur ins Tomatenhafte verfärben würde, Beleidigungen und üble Nachrede sind an der Tagesordnung, Straftaten werden geplant. Das Telefonnetz ist ein rechtsfreier Raum.

Malte Welding , Netzeitung
// Das geSpiegelte Internet

Das Stück kann unsere Familien bis ans Lebensende ernähren. Und wahrscheinlich auch die Familien unserer Enkel und Urenkel.

Michael Münzing (SNAP!), im Interview mit dem SZ-Magazin
// “Dieses Stück kann unsere Familien bis ans Lebensende ernähren.”
[via Medienlese]

Worte zum Wochenende

Fast nichts gab in den letzten Monaten so viel Gesprächsstoff her wie „Twitter”. Jetzt stößt der Kurzmitteilungsdienst an Grenzen – Ende eines Hypes?

Christian Jakubetz , JakBlog
// Und alles Gute noch bei der Revolution

There’s a reason why Coldplay are the biggest band in the world and it has nothing to do with musical innovation or winning personalities. It’s because of that song with the piano bit, the surging chorus and the message about you and me and life and stuff. The one you recognise.

Ben Meyers , The Guardian
// One-trick Ponies

In den Exzessen von Facebook, kurz FB, scheinen sich Medienleute besonders wohl zu fühlen. Ästhetisierung des Lebens zwischen Dada light und Camp light.

Tom Kummer , Freitag
// Moritz trinkt immer noch

Nej, det vore oärligt! Det finns upphovsrätt! De som har skrivit och spelat musiken måste ju ha sitt levebröd.

Knatte, Fnatte och Tjatte , Kalle Anka
// En laddad affär
[via taz]

Nächste Woche keine Worte zum Wochenende, ich bin im Urlaub!

Pop-Taubheit bei der ARD

Dank diesem Artikel bin ich gerade auf diese Abstimmung aufmerksam geworden und kann nur den Kopf schütteln. Steckt hinter dieser vollkommen willkürlichen Liste irgendeine Systematik – außer “möglichst Weichspülerhaft”? “HR4-geeignet + Tokio Hotel”?

Wo ist die Hälfte der NDW? Wo sind Ärzte, Hosen, Neubauten? Wo ist die DDR? Wo sind selbst Dancefloor-Deppen wie Blümchen? Dafür ist ausgerechnet Stefan Raab gleich zweimal dabei – unter anderem auch (oh Wunder!) mit seinem ARD-Titel “Hier kommt die Maus” (in die gleiche Kategorie fällt wohl auch “Schnappi”, der ganz bestimmt nicht zu den wichtigsten deutschen Hits der letzten 10 Jahre zählt). Dafür fehlt dann wiederum Guildo Horn. Und zwei Drittel der deutschen Musikgeschichte scheinen sich in den Siebzigern abgespielt zu haben.

Und am Ende wird das ganze dann als ernsthaftes Ranking “Die schönsten Hits der Deutschen” verkauft. Und mich fragt wirklich noch jemand, warum ich nur noch Filme auf DVD und “Daily Show”-Folgen im Netz gucke?