Kreative Archäologie: Der Comic zu The Star Wars

Der Brontosaurus hat nie gelebt. Er war eine Erfindung des Archäologen O. C. Marsh, der ein unvollständiges Fossil eines Apatosaurus mit einem anderen Kopf ergänzte, um es ausstellen zu können. Damals, Ende des 19. Jahrhunderts, fochten einige besonders ehrgeizige Archäologen untereinander gerade die sogenannten Bone Wars aus. Sie machten solche Akte kreativer Archäologie manchmal notwendig.

Nicht nur die “Bone Wars”, auch die Star Wars haben jüngst einen solchen kreativ-archäologischen Akt hervorgerbacht. Grundlage dafür sind die Prototypen der Star Wars Saga in Form von Lucas’ frühen Drehbüchern und Story-Umrissen aus den Jahren 1973 und 1974. Lucas hat nie damit hinter dem Berg gehalten, dass eine Version von Star Wars existierte, in der ein Charakter Starkiller heißt, Han Solo ein grünes Alien ist und der Slogan noch “May the Force of Others be with you” hieß. Genau aus dieser Version, dem Rough Draft “The Star Wars” vom Mai 1974, hat Dark Horse Comics seit Herbst letzten Jahres eine Comicserie gemacht, die im Sommer auch als gesammeltes Paperback erschienen ist. (Ganz im Stil des neuen Trends, Filme und Serien in Comics fortzusetzen, siehe Buffy oder Fight Club.)

Das Ergebnis dieses Experiments ist ein Faszinosum an kreativer Archäologie. Lucas’ Drehbuchentwurf bleibt intakt und erlaubt so das “Studium” der Evolution von Star Wars, doch die Aufbereitung als Comic sorgt dafür, dass dieses Studium eine unterhaltsame SF-Achterbahnfahrt ist. Außerdem schafft sie durch die Art und Weise, wie die Macher (Star Wars-Chefhistoriker J. W. Rinzler und Grafiker Mike Mayhew) den Text visuell interpretiert haben, eine neue interessante Metaebene.

Der “Rough Draft” ist, wie gesagt, schon länger in der Welt, daher erspare ich mir hier sowohl eine Zusammenfassung als auch eine längere Analyse des Textes und seiner zeitgenössischen Inspirationen. Aus heutiger Zeit ist im Rückblick sicher vor allem interessant, dass Lucas die Erschaffung der Prequels anscheinend als Gelegenheit gesehen hat, ungenutzte Ideen aus seinen Prototypen abzustauben und wiederzuverwerten. In The Star Wars fällt, besonders am Anfang, die starke politisch-bürokratische Dimension von Lucas’ SF auf, die ja auch in den Prequels eine (leider schwerfällig umgesetzte) wichtige Rolle spielt. Bei der Eroberung der Galaxie geht es genau so sehr um Ressourcen, Budgets und Legitimation, wie um Abenteuer und Erforschung fremder Welten.

Ebenso bemerkenswert ist, dass Lucas anscheinend schon 1974 eine schrecklich minnesängerische Vorstellung von romantischer Liebe hatte. Liebe entsteht in Lucas’ Star Wars Universum nicht durch erotische Spannung, gemeinsame Interessen oder gar banale Attraktivität, sondern durch Deklamation. Episode II lässt grüßen.

Die visuelle Interpretation dieser frühen Träumereien von Lucas muss eine spannende Aufgabe gewesen sein. Es ging ja weniger darum, eine eigene Bildsprache zu entwickeln, sondern vielmehr jenes freakige Paralleluniversum ausfindig zu machen, in dem eben nicht Star Wars verfilmt wurde, sondern The Star Wars. Grafiker Mike Mayhew erklärt im Interview mit “Bleeding Cool”, dass es ihm vor allem darum ging, sich in den jungen George Lucas hineinzuversetzen: “Maintaining the integrity of George’s purest and wildest ideas for what would become STAR WARS is paramount”.

Als Ausgangsmaterial zog das Team nicht nur die SF der Zeit – Filme wie Zardoz, Bilder von Künstlern wie Roger Dean, die galaktischen Comics von Jack Kirby – heran, sondern griff vor allem auch die vielen visuellen Alter Egos der Star Wars Saga wieder auf, die ja in Form von Konzeptzeichnungen noch in den Lucasfilm-Archiven existieren und an denen sich auch J. J. Abrams derzeit für Episode VII wieder bedient. Im Interview mit “Newsarama” beschreibt Rinzler den Prozess:

What Mike Mayhew, Randy Stradley and I did was pore over the different designs and go back-and-forth with each other on what would work for each character. I know a lot of the artwork pretty well from doing the Making Of books, and I could point to certain things, like an off-hand McQuarrie sketch, and say it might work for such and such.

Dank der Fülle an Material blieb nur wenig, was aus dem Nichts erschaffen werden musste. Und schließlich gab es als Inspirationsquelle ja auch noch die Prequels, in denen sich wie erwähnt einige Echos des Drafts finden. Und so sieht der Palast auf Aquilae sicherlich nicht nur zufällig ein bisschen aus wie der Palast auf Naboo und auch einige Sternenschiff-Designs könnten verworfene Ideen aus The Phantom Menace sein.

Das Experiment ist gelungen. Es muss auf unfassbar nerdige Weise Spaß gemacht haben, sich ein alternatives Star Wars-Universum aus so disparaten Teilen zusammenzukleben – auch wenn Lucas’ erster Draft dem Film, der tatsächlich entstand, deutlich unterlegen ist. Das Ergebnis unterhält folglich auch vor allem auf einer Metaebene für Fans – das aber richtig gut. Im Gegensatz zum Brontosaurus reicht das hier ja auch.

In eigener Sache: Alex im INTERVIEVV

David Streit hat mir geschmeichelt und mich in die Riege seiner “Intervievv“-Partner aufgenommen, in der unter anderem auch schon Gunter Dueck und Richard Gutjahr mitgemacht haben. Das Rezept ist simpel: David stellt die Fragen und der Interviewte zeichnet sein eigenes Video auf. Ich nehme darin “Stellung” zu meinen Steckenpferd-Themen Film-Blogosphäre und Digitale Ästhetik und dem jüngsten Brouhaha um die Sperrfrist zu Guardians of the Galaxy. Einblicke in eine Ecke meines Wohnzimmers gibt es inklusive. Für Kamera und Schnitt danke ich natürlich Cutterina.

Quotes of Quotes (XXIV) – Glenn Kenny on the Film Criticism Landscape

But in terms of the film critic landscape, it’s just weird that these people get into these arguments. There’s all this weird drama. Like, people are talking about being afraid to say bad things about “Boyhood?” Who the fuck is afraid to say bad things about “Boyhood?” Who gives a shit? People say, “We need a culture that embraces dissent.” It’s not dissent! Dissent is… (impersonates old Russian Grandmother) “Dissent is when you’re living in Soviet Russia and you’re put under house arrest!” Big fucking deal, you have a different opinion. We don’t have to embrace different opinions, it’s called arguing. It’s what we do. “Oh, poor me, I’m the only person who didn’t like ‘Boyhood.’” Just get the fuck off the cross, man, we need the wood.
– Glenn Kenny, Film Critic, interviewed by Greg Cwik for “Criticwire“,
probably inspired by Kenneth Turan

Was uns Dawn of the Planet of the Apes über gute Prequels lehrt

Spoilerfrei bis fast zum Schluss (mit Extrawarnung)

Schon Eddie Izzard hat gesagt: “Guns don’t kill people, people kill people – but monkeys do too, if they’ve got a gun.” Und noch befindet sich ein Film in unseren Kinos, der genau diese Comedy-Routine zu illustrieren scheint. “Without a gun, they’re pretty friendly, but with a gun, they’re pretty dangerous …”

Ich mochte Dawn of the Planet of the Apes, den neuesten Ableger des Planet-der-Affen-Franchises, das vor drei Jahren mit dem ersten Prequel Rise of the Planet of the Apes neues Leben eingehaucht bekam. (Warum der Dawn nach dem Rise kommt, weiß bis heute niemand.) Ich fand die Story gut und klar strukturiert, die Charaktere ordentlich ausgearbeitet und die Themen nicht allzu ungelenk aufgetischt. Dawn ist kein philosophisches Meisterstück, aber seine gute Regie und seine erstaunlichen visuellen Effekte erheben ihn über seinen By-the-numbers-Plot.

Der Weg ist das Ziel

Vor allem aber ist er ein hervorragendes Studienobjekt für die Regeln eines (guten) Prequels. In einer Zeit, in der Filmemacher und andere Erzähler überall nach Möglichkeiten suchen, im Rahmen einer etablierten Marke neue Handlungsbögen zu finden, wenden sie sich oftmals der Vorgeschichte eines Ur-Texts zu, um diese zu erzählen. Laut Wikipedia wurde der Begriff “Prequel” im Filmbereich erstmals in den 70ern breiter benutzt (Butch and Sundance: The Early Days) – reifte aber zu einem Wort, das jeder kennt, erst mit den Star Wars-Prequels heran. Die wiederum traten fast in jede Falle, die ein Prequel enthält.

In seinem Standardwerk Building Imaginary Worlds schreibt Mark J. P. Wolf zu Prequels:

Prequels are constrained by the works which come before them, […] since characters’ fates and situations’ outcomes, which appear in the original work, are already known; thus surprise can be lost, and the final state is more than predictable, it is already known for certain.

Wir wissen, zum Beispiel, welche Charaktere nicht sterben können, schreibt Wolf. Insofern gehe es bei einem Prequel eher um den Weg, als um das Ziel. Ein Prequel erschafft einen neuen Startpunkt für diesen Weg und beschreitet ihn bis zu dem Punkt der Reise, den wir bereits kennen.

Ich werkle immer noch an meinem Magnum Opus “Continuity” und dieser Blogartikel ist so eine Art Vorstudie zu einem Kapitel und damit vielleicht etwas ausführlicher als gewohnt. Wer direkt weiter zu den Affen springen möchte, kann das hier tun.

Reverse Engineering

Die beste Analogie aus einem anderen Weltbereich, die man für die Erschaffung eines Prequels ziehen kann ist “Reverse Engineering”. Dabei geht es darum, ein fertiges Produkt in seine Bestandteile zu zerlegen, um herauszufinden, warum es wie funktioniert. Das ultimative Ziel kann sein, eine Kopie herzustellen. Zunächst einmal geht es aber vor allem darum, das Zusammenwirken der Einzelteile zu verstehen, ohne die Originalbaupläne zu besitzen.

Der größte Unterschied zwischen Reverse Engineering in der Kohlenstoffwelt und dem Reverse Engineering, was ein Geschichtenerzähler betreibt, ist, dass ich nach dem Auseinanderbauen eines Gerätes nur die Teile vor mir liegen habe, die zuvor im Gerät enthalten waren. Wenn ich das Gerät wieder zusammenbauen will, kann ich folglich auch nur diese nutzen. Für die Erschaffung eines Prequels aber bin ich nicht auf diese Exklusivität angewiesen. Genau in diesem Unterschied lauern bereits die ersten Fallstricke.

Der Sirenenruf der dramatischen Ironie

Man könnte ja meinen, dass es aufgrund der oben geschilderten Limitierung eines Prequels durch den Originaltext für einen Zuschauer besser ist, wenn es das Original gar nicht erst kennt. Dem widerspricht Mark Wolf, wenn er schreibt:

[O]ften a prequel will rely on the audience’s knowledge of the original work, creating dramatic irony through the audience’s knowledge of how things will eventually turn out and knowing what the characters do not know.

Das Vorwissen um das, was später passiert, ist also integraler Bestandteil eines Prequel-Bauplans. Dramatische Ironie hingegen ist in unserer postmodernen Zeit ein machtvolles Werkzeug und wenige Autoren können sich ihrem Sirenenruf entziehen. Dieser Ruf wird allerdings umso lauter, je mehr man sich auf die oben erwähnten Original-Bauteile verlässt und je weniger man versucht, eine möglichst unabhängige Geschichte zu erzählen.

It’s a small world

Dann nämlich bleibt einem nichts anderes üblich, als die vorhandenen Puzzlestücke neu zu arrangieren und dadurch notwendigerweise neue Beziehungen zu schaffen, die vorher nicht vorhanden waren – und die es auch nicht gebraucht hätte. In den Star Wars-Prequels entstehen durch zu hohes Vertrauen in Bekanntes unter anderem die beinahe absurd scheinenden Tatsachen, dass Anakin Skywalker (später Darth Vader) C-3PO konstruiert hat oder das Boba Fetts Vater Jango der Ur-Klon aller Klonkrieger ist. Mit anderen Worten: Die epische, viele Sternensysteme umspannende Saga über das Schicksal einer Galaxie findet im Kern fast ausschließlich im Zusammenspiel einer Handvoll Figuren statt, die über die Jahre hinweg immer und immer wieder zusammenstoßen.

Der Reiz dahinter ist klar: Es gefällt uns, als Zuschauer Mitwisser zu sein und – anders als die Charaktere – einen Schritt zurücktreten zu können und zu sehen, wie alle Zahnräder ineinandergreifen (→ Operationelle Ästhetik). Das Auftauchen vertrauter Elemente gibt dem Story-Universum Konsistenz. Zu wissen, dass zwei Charaktere einander später noch einmal begegnen werden oder dass ein Charakter seine Meinung zu einem Thema später radikal ändern wird, deutet auf die elementare Ironie unserer Existenz hin.

Meistens nutzen Prequels dieses Wissen für kleine Insider-Gags. Etwa wenn Wolverine in X-Men: First Class auf eine Rekrutierungsanfrage mit einem beherzten “Fuck you” antwortet. Wenn Gloín in The Hobbit: The Desolation of Smaug ein Bild verliert und Legolas erklären muss, dass darauf sein Sohn Gimli (in gut 80 Jahren Legolas’ BFF) zu sehen ist. Und auch das Apes-Franchise konnte in Rise nicht widerstehen, der berühmtesten Dialogzeile des 1968er-Originals ironisch Tribut zu zollen: “Take your stinking paws off me, you damn dirty ape.” (Natürlich kein Vergleich mit Troy McClures Darbietung)

Der Königsweg durch gefährliche Fahrwasser

Geht man über spielerische Andeutungen wie die oben erwähnten hinaus, begibt man sich sehr schnell in gefährliches Fahrwasser. Die Resultate ähneln dabei manchmal fast schon Zeitreise-Paradoxa: Man erschafft Beziehungen zwischen Charakteren von denen diese dann zu einem späteren Zeitpunkt (in der diegetischen Zeit) nichts mehr wissen, weil dieser spätere Zeitpunkt (in der extradiegetischen Zeit) eigentlich ein früherer Zeitpunkt ist.

Die vermeintlich elegantere Methode ist es, diesen Widerspruch einfach zu ignorieren und das extradiegetische Wissen des Zuschauers als Teil der Gleichung zu begreifen. Alternativ kann man den Nerdweg gehen und eine oft unnötig komplizierte “Retcon”-Lösung suchen, die dafür aber zumindest streng genommen keine Widersprüche mehr enthält. Wer es drauf anlegt, kann genau aus solchen Konstruktionen eigene Plots generieren.

Ein Beispiel für den ersten Weg findet sich im Pixar-Prequel Monsters University, dem beinahe eine einzige Dialogzeile aus dem Originalwerk das Kreuz gebrochen hätte, bis man sich entschied, mit dem Widerspruch zu leben. Bryan Singer wählte in X-Men: Days of Future Past eine Art Mittelweg, vielleicht sogar den Königsweg: Er hatte für jede vermeintliche Ungereimtheit zu den Vorgängerfilmen eine Erklärung parat, walzte diese aber nicht auf der Leinwand aus.

Affen auf Pferden

Und damit kommen wir dann auch endlich zu Dawn of the Planet of the Apes. Die Apes-Serie gehört, was die Continuity angeht, zu den kompliziertesten Franchises, die es gibt. Bereits die fünf ursprünglichen Filme enthielten Zeitreisen und damit auch Retcons (Affen, die aus der Zukunft in unsere Gegenwart reisen, bringen den Ursprung für die spätere Zerstörung der Menschheit mit sich). Die neuen Filme Rise und Dawn ignorieren Teile der ursprünglichen Timeline, sind aber auch keine richtigen Reboots der Gesamtserie, weil sie die Bezüge zum Originalfilm von 1968 beibehalten. (Eine ausführliche Analyse inklusive Zeitstrahl findet sich auf “io9”)

Dawn ist (ebenso wie Rise) also auf jeden Fall ein Prequel zu Planet of the Apes und, wie ich finde, ein gutes. Mit all den Vor-Erklärungen dieses Artikels kann man das Warum vielleicht auf drei Punkte reduzieren:

1. Er verweigert sich der Zirkellogik und damit der begrenzten Welt der Original-Sequels Escape und Conquest, in denen der Ursprung für die frühere Geschichte in der späteren Geschichte und damit wieder in der früheren Geschichte liegt. Stattdessen öffnet er die Welt der Geschichte für neue Zeiten, neue Figuren und neue Geschichten, die zwar auf den Ur-Text hinführen, diesen aber erzählerisch kaum beeinträchtigen.

2. Seine Verwandtschaft zum Ur-Text beweist der Film statt durch direkte erzählerische Bezüge lieber durch visuelle Motive, die wie Echos durch die Saga hallen. Meiner Ansicht nach das stärkste Motiv dieser Art sind Affen, die wie Menschen auf Pferden reiten – ein Bild das Charlton Heston dereinst im Original den Atem raubte und das hier eine ähnliche Wirkung entfalten soll (eine wirklich naheliegende Erklärung für die equestrische Kriegsführung gibt es in Dawn nämlich nicht [Ergänzung, 24.11.2014, @die_krabbe sieht das anders und das stimmt wohl]).

3. Den direkten Bezug findet der Film, indem er nach einem entscheidenden Moment sucht, der sozusagen die Timeline der Welt endgültig in Richtung des Originaltextes ausrichtet. Rise erforschte den ultimativen Ursprung der Apes-Saga, indem er den Moment fand, in dem die Apes-Timeline sozusagen von unserer realen abweicht. Dawn sucht den “Sündenfall”, in dem sich eine friedliebende Affen-Gemeinschaft auf den Weg macht, die kriegerische Affen-Zivilisation aus dem Ursprungsfilm zu werden.

(Spoiler in diesem Absatz) Drehbuchautor Mark Bomback beschreibt diesen Moment – in dem Caesar die goldene Regel bricht und Koba tötet, was auch mir im Kino am meisten Bauchgrimmen verursacht hat – im Podcast bei Jeff Goldsmith sehr genau (ungefähr bei 59:00): “He has to come to this very complicated decision, which is: this rule must be broken if we are to survive, but in breaking it, I’m actually breaking something in our community that’s never going to be healed.” (SPOILER ENDE)

Apes vs. George Lucas

Durch diese drei Merkmale – die Öffnung der Welt, die visuelle Verwandschaft und die Erforschung von Schlüsselmomenten – wird aus Dawn of the Planet of the Apes ein Prequel, das die Welt des Originalwerks erweitert, dessen Geschichte weitererzählt in dem es den Weg zum Ziel beschreibt, aber ohne dass es sich zu sehr auf die reine Rekombination von bereits vorhandenem verlässt.

In gewisser Weise kann man dem die Star Wars-Prequels entgegensetzen, welche die Welt nur sehr zaghaft öffneten (indem sie viele Schauplätze und Charaktere recyceln), kaum visuelle Verwandschaft demonstrieren (die Welt der Prequels sieht ganz anders aus als die der Originalfilme) und im Endeffekt einen einzelnen Schlüsselmoment “Wie wurde Anakin Skywalker zu Darth Vader” auf drei Filme auswalzen, bis man ihn nicht mehr sehen will. (Für Red Letter Media ist diese Konzentration auf die Vader-Story der Hauptgrund für die Ineffektivität der Prequels.)

Da inzwischen klar ist, dass es einen dritten Apes-Film aus der neuen Serie geben wird (denn aller guten Trilogien sind drei), bleibt zu hoffen, dass Bomback und Regisseur Matt Reeves auch dort noch gutes Prequel-Material finden werden. Die Zeichen dafür stehen ja eigentlich ganz gut. Alternativ könnte man der Izzard-Idee folgen, einen Affen mit Waffe in Charlton Hestons Haus einschließen und gucken, was passiert.

Quotes of Quotes (XXIII) – Der neue Kanon von Star Wars

Die Neuordnung des erzählerischen Universums bei Lucasfilm ist für mich als Franchising-Beobachter im Moment der interessanteste Prozess neben dem Marvel Cinematic Universe. Gute drei Jahrzehnte Worldbuilding und Storytelling werden über den Haufen geworfen, um für die Zukunft einen stärkeren Markenkern und mehr erzählerische Freiheiten zu besitzen. Allerdings wird, anders als so oft in anderen Erzählwelten, kein Komplett-Reboot durchgeführt, sondern ein Teil der bisherigen Texte (die Filme und die Fernsehserie The Clone Wars) bleiben als kanonisch erhalten, während alles, was um sie herum gebaut wurde, für die Zukunft irrelevant ist. Eine ungewöhnliche Mischung.

Noch ungewöhnlicher ist allerdings, dass der entschiedene Wandel aufgrund der starken Fanstrukturen und der von mir immer wieder gerne zitierten “Running the Asylum”-Situation – das heißt: die Macher der neuen Erzählungen waren früher Fans der alten – so öffentlich ausgetragen wird. Lucasfilm kann nicht einfach beschließen, dass jetzt alles anders ist. Es muss Wege finden, diesen Prozess öffentlich zu rechtfertigen. Das bedeutet auch, dass sie öffentlich in Diskussionsstrukturen um Kanonizität vordringen muss, die eigentlich typisch nur für obsessive Fans sind.

Die Webseite “Screenrant” hat auf der San Diego Comic-Con, wo einige Schlüsselfiguren anwesend waren, vor allem um die erste weithin sichtbare Manifestation des neuen Kanons – die Fernsehserie Rebels – vorzustellen, den Machern ein paar Fragen gestellt und sehr interessante Antworten bekommen.

Wichtig ist, wie sowohl Lucasfilm Storygroup-Mitglied Pablo Hidalgo, wie auch Verlagsfrau Shelly Shapiro darauf hinweisen, dass Kanonizität an sich noch kein Werturteil ist. Hidalgo:

The word ‘canon’ is so loaded […] the folks that were making novels in the ’90s didn’t have an opportunity to know [that there would be new films]. So that’s a purely functional, production-driven definition of that word. If something as a result is not declared ‘canon,’ don’t let that word be a value base. It doesn’t mean that story is now worthless or meaningless. (Hervorhebung von mir)

Shapiros Aussage ist fast noch besser:

Everything now – starting from [novel] “A New Dawn” on – is canon. So if you care about that – which you really probably shouldn’t, but if you do – it’s all a part of this whole new collaborative process. All of this stuff happened. But not really; it’s fiction. (Hervorhebung von mir)

Selten wird die Schere zwischen arbeitstechnischen Notwendigkeiten im Franchising-Prozess und den Fan-Erwartungen, dass die operationelle Ästhetik erhalten bleibt, so sichtbar wie in solchen Momenten. Umso cleverer ist daher die Strategie der Macher, allen bisherigen “Expanded Universe”-Geschichten das Banner “Legends” zu verpassen und somit quasi eine Welten-intrinsische Motivation für die De-Kanonisierung zu finden. Shapiro:

Even though they would no longer be part of a Star Wars official history, they’re still stories that mean something, and they can mean something to you, even if they didn’t ‘happen.’ That they are legends. […] So that’s why we called it Legends… So it wouldn’t get shoved off too far to the side, and treated like it never happened.

Ich brauchte das 80er-Revival, um die 80er zu verstehen

The Lost Boys © Warner Bros.

Die Achtziger sind meine Problemdekade.

Meine Eltern sind mittlere Babyboomer. Als Angehörige des Jahrgangs 1952 waren sie 1968 gerade so nicht alt genug, um den ganzen Rummel vollständig mitzuerleben und nicht jung genug, um von ihren Eltern mitgerissen zu werden. Meine Mutter erzählt gerne, dass sie eine Mao-Bibel und ein Che-Guevara-Poster besaß, aber auch nicht genau wusste, warum sie “Ho-ho-ho-chi-minh” rief. Mein Vater hing zu seiner Abizeit gern in Freiburger Studentenkneipen rum und spielte Schach, aber dann wurde er trotzdem Zeitsoldat, um Wartesemester für sein Medizinstudium zu sammeln. Woodstock oder “Hair” – das war irgendwie ein Traum, aber keine wirkliche Realität.

Und dann haben sie beide nicht studiert. In den Siebzigern waren sie mehr damit beschäftigt, sich kennenzulernen und sich ein selbstständiges Leben zu schaffen – unabhängig von ihren Eltern. Ich hab sie nie gefragt, wo sie 1977 waren, als der Punk ausbrach. Aber dass sie es nie erwähnt haben, spricht eigentlich auch für sich.

Meine Fünf war keine Anti-Establishment-Geste

Und in den Achtzigern – nun, da haben sie Kinder bekommen, mich und meine Schwester. Da war der Popkultur-Zug dann endgültig abgefahren. Als Jahrgang 1983 sitze ich fett in der Mitte der Generation Y – die uncoole Stiefgeschwister-Generation der Generation X und der nervige ältere Cousin der Millennials. Als “Nevermind” erschien war mir noch nicht klar, dass meine gerade erhaltene Fünf in Schönschrift in der dritten Klasse eine Anti-Establishment-Geste sein könnte. Die Achtziger waren für mich nicht Postpunk und Gothic, sie waren das, was meine Eltern sich an Kultur in die Kinderkriegjahre hinübergerettet hatten: Andrew Lloyd Webber und Chris de Burgh.

Und deswegen hatte ich Zeit meines Lebens Schwierigkeiten, die Achtziger zu verstehen – jene Dekade, die von gefühlt allen Menschen, die auch nur ein bisschen älter sind als ich, endlos verehrt wird. 1982 oder 1984 – der beste Filmsommer aller Zeiten (USA)! Rip it up and start again (UK)! Ich will Spaß, ich geb Gas (Deutschland)!

Mein Popleben beginnt 1992

Die Achtziger, vor allem die frühen Achtziger, waren überall, wo ich hinsah, aber sie waren mir unendlich fern. Ich habe nicht einmal die deutsche Einheit so richtig mitbekommen. Mein Popleben beginnt irgendwie 1992 mit 2 Unlimited, Glitzerstickern und “Rhythm is a Dancer”, Jan Böhmermann hat das zuletzt gut auf den Punkt gebracht.

Klar, ich mochte E.T. und Back to the Future auch. Aber als ich als Teenager begann, selbst in der Zeit zurückzureisen und die Genre-Filmgeschichte zu entdecken, stieß ich in den Achtzigern ohne ältere Geschwister immer wieder auf Granit. Während sich mir sonnendurchflutete Hippiefabeln und ihre Nachwehen problemlos erschlossen (ganz wirkungslos waren die Beatles-Platten meines Vaters dann doch nicht), waren Filme zwischen 1980 und 1989 irgendwie merkwürdig. Dunkel. Schräg. Escape from New York – da erkannte man gar nichts! Blade Runner – ein Haufen kauderwelschiges Gelaber!

Albträume bis heute

Time Bandits, Legend, Labyrinth, The Dark Crystal, The Lost Boys – selbst die Filme, die ich streckenweise mochte, schienen wie aus einer anderen Welt zu sein. Viele Zeichentrickfilme aus den 80ern, etwa von Don Bluth und Prä-Katzenberg Disney – The Great Mouse Detective, The Secret of NIMH – sind fucking weird, man! Ich warte bis heute darauf, All Dogs go to Heaven noch einmal zu sehen, der mir damals merkwürdige Albträume bescherte.

Das war alles so anders als meine prägenden Filme: Jurassic Park, Terminator II, Toy Story, The Matrix – deutlich heller ausgeleuchtete, weniger synthie-lastige Märchen über Menschen und ihre Spielzeuge. Nicht so ein merkwürdiger Quatsch wie David Lynchs Dune.

Noch bis weit in meine Studienjahre hinein dachte ich, ich würde die Achtziger nie richtig verstehen. Metallica würden für mich ihre Karriere immer mit dem schwarzen Album begonnen, Yes ihre mit “Going for the One” beendet haben.

Tron:Legacy © Disney

Die Rückkehr

Dann aber wurden die Menschen 35, die die Achtziger als Kinder erlebt hatten. Und begannen Mitte der 2000er damit, ihre Kindheit zu remaken. Plötzlich waren die Achtziger wieder da. Egal ob Transformers, Indiana Jones, Tron, Die Hard oder Super 8; Turtles, My little Pony, Conan, Robocop und und und. Das Internet half als ewige Wiederkäu-Nostalgie-Maschine dabei, jeden noch so kleinen Geburtstag zu feiern und sich zurückzusehnen in alte Zeiten. In der Musik wurden an jeder Ecke die Synthies wieder ausgepackt. JUGENDLICHE TRUGEN WIEDER VOKUHILAS!

Aber irgendwie passte es auch. In den Achtzigern war die Welt durch den kalten Krieg in zwei Lager gespalten, nach 9/11 war sie es wieder. In den Achtzigern regierten rücksichtsloses Gewinnstreben und gelebte Maßlosigkeit, jetzt auch. Die Angst vor dem Terror war wieder da. Die Furcht vor Maschinen, die uns überlegen sind, ließ sich perfekt aufs Internet übertragen. Statt Tschernobyl eben Fukushima. Der einzige Unterschied liegt darin, dass man sich zusätzlich noch vor der ewigen Wiederkehr des Gleichen fürchtet.

Als Kind der hippie-dippie Neunziger – Love Parade, Schnullis, “Weil ich’n Mädchen bin” und so weiter – begann ich um 2010 herum endlich zu verstehen, was die Achtziger ausgezeichnet hatte. Dieses Gefühl des Tanzes auf dem Vulkan, der Katastrophe vor Augen, der Beinahe-Sehnsucht nach dem Weltuntergang, die sich auch im Kino plötzlich wiederfand, das alles leuchtete mir plötzlich ein.

Barocke, unpolitische Wiedergeburt

Ich fing deswegen nicht plötzlich an die Smiths zu hören, denn schließlich waren das hier ja nicht die Achtziger selbst, sondern ihre barocke, unpolitische Wiedergeburt. Aber plötzlich bekamen Alben wie “90125” oder “Human Racing” einen anderen Klang. Was mich vorher abgestoßen hatte, erschien mir jetzt plötzlich gerade schön. Filme wie Beetlejuice, The Terminator oder Who Framed Roger Rabbit, die ich gesehen und gemocht, aber nicht gefühlt hatte, entfalteten eine neue Ebene. Ich konnte etwas wie The Adventures of Buckaroo Banzai Across the 8th Dimension sehen und irgendwie nachempfinden.

Wir können auf Remakes und Nostalgie-Kultur schimpfen, so viel wir wollen. Aber manchmal braucht es genau diese Appropriation durch die rosa Brille anderer Menschen, um die Vergangenheit selbst zu erfahren. Manchmal reicht nicht der Text allein, es braucht den Metatext, der die Bedingungen, unter denen der Text entstand, wieder herbeibeschwört. Erst wenn wir beginnen unsere eigene Vergangenheit zu remaken, können unsere Nachfolger beginnen, zu verstehen, was sie für uns bedeutete.

Abschließende und Mehrwollende – Wer bist du?

© HBO

Will abschließen (links), will mehr (rechts)

Ich habe das Zitat zuerst in einem Scriptnotes-Podcast gehört. Einer Google-Suche zufolge wird es der amerikanischen Publizistin Dorothy Parker zugeschrieben und es drückt eigentlich schon vieles von dem aus, womit ich mich im folgenden Text beschäftigen will: “I hate writing, but I love having written.”

Dabei kann ich nicht einmal sagen, ob ich der ersten Hälfte des Zitates zustimmen würde. Ich hasse es nicht, zu schreiben. Aber die zweite Hälfte stimmt dafür umso mehr: Ich liebe es, etwas getan zu haben. Das geht mir nicht nur in der Produktion so, sondern auch in der Rezeption. Ein Buch durchlesen, einen Film fertigsehen, eine Serienstaffel beenden – das alles sind Momente, die mich mit Freude erfüllen. Sie geben mir das Gefühl, etwas geleistet, etwas geschafft zu haben. Eine Sache weniger vor Augen zu haben, die auf Vollendung wartet.

Das erste Feld eines neuen Weges

Doch wie so häufig stelle ich fest, dass mein Empfinden keinesfalls dem der gesamten Menschheit entspricht. Wie diametral entgegengesetzt die Wahrnehmung von Abschlüssen sein kann, erlebe ich jedes Mal wieder, wenn ich gemeinsam mit einer mir sehr nahen Person (insbesondere) Fernsehen gucke. In der letzten Folge der vierten Staffel von Game of Thrones passiert Einiges, auch Überraschendes, aber es gelingt der Serie, alle Hauptfiguren am Ende der Folge – und der Staffel – auf das erste Feld eines neuen Weges zu setzen und wunderbare offene Enden zu konstruieren. “Prima”, denke ich mir, während der Abspann läuft, “brillant beendet. Ich freue mich auf nächstes Jahr und bin froh, jetzt erstmal wieder andere Dinge zu machen.” Doch neben mir auf der Couch quietscht es entrüstet: “WAAAS? UND JETZT MUSS ICH WIEDER EIN JAHR WARTEN, BIS ES WEITERGEHT?”

Ich habe das Gefühl, dass die in Nerdkreisen so übliche Listenkultur eigentlich meine Sichtweise der Dinge unterstützt. Erst wenn ich einen Film gesehen, ein Buch gelesen habe, kann ich es in die “Erledigt”-Ecke meines virtuellen Regals stellen, egal ob auf Goodreads oder auf Letterboxd. Ein Buch, das auf ewig in meiner “Currently Reading”-Liste vor sich hinrottet, “bringt” mir nichts. Ich kann nicht behaupten, dass ich es gelesen habe. Und eine Serie, die nie endet, etwa eine Daily Soap, erlaubt nicht nur ihren Charakteren, sondern auch mir nicht, Frieden zu finden, abzuschließen, weiterzugehen.

Eine Art Limbus

Ich staune, wenn ich lese, dass meine Blogger_innen-Kollegen Björn und Yolanda Bücher nach der Hälfte oder zwei Dritteln zur Seite legen und nie wieder angucken. Sicher, so leben die Charaktere ewig fort, aber doch nur in einer Art Limbus – ohne Ziel und Zweck. Mein innerer Aspie würde da auf Dauer durchdrehen.

Die unterschiedlichen Bedürfnisse an große Erzählungen scheinen eine breitere Diskussion in der Popkultur, insbesondere in der Fan-Kultur zu sein. Nicht nur in der Serie Community ist eine Figur erst dann vollständig zufrieden, als sie mit dem Doctor Who-inspirierten “Inspector Spacetime” eine Obsession gefunden hat, die selbst in ihrem bisherigen Umfang quasi endlos ist und damit auch endlose Obsession zulässt. In einem lesenswerten Artikel auf “The Daily Dot” blickt Dominic Mayer kritisch auf die erste kanonische Veröffentlichung aus dem Harry-Potter-Universum seit mehreren Jahren und die bevorstehenden Filme, die J. K. Rowling derzeit schreibt, und zieht vergleiche zu George Lucas’ Herumdoktern an der ursprünglichen Star Wars-Trilogie, George R. R. Martins “Fuck You” an Fans, die verlangen, er möge schneller schreiben – und sogar Community selbst, die Serie, die sich auf immer absurdere Weise weigert zu sterben, um ihr selbst-gesetztes “six seasons and a movie”-Schicksal erfüllen zu können.

“Part of Art is Finality”

“[I]t’s hard to argue that part of art is finality”, schreibt Mayer. “The debate and continual reinterpretation is what keeps it alive, not a continuous stream of canon that ensures nobody ever has to feel sad about a thing they enjoyed coming to a close.” Ich bin geneigt, ihm Recht zu geben – und das als jemand, der sich bevorzugt mit nicht-endendem Franchising beschäftigt. Wie enttäuschend sind doch häufig nachgeschobene Sequels wie Indiana Jones and the Crystal Skull oder Live Free and Die Hard? Wie belanglos und leichenfleddernd neue Pink Floyd Alben 20 Jahre nach einem würdigen letzten Aufbäumen, das auf dem bittersüßen Gitarrensolo von “High Hopes” (allein der Titel!) geendet hatte?

Ich kann Anderen ihre Lust am Mehr nicht absprechen, finde es sogar bewundernswert, wenn sie so gut mit der Nichtabgeschlossenheit einer Geschichte leben können und gar nicht das Bedürfnis haben, eine Art “innere Ablage” zu betreiben. In unserer Kultur der “Hyper-Stasis” oder Atemporalität befeuert es aber natürlich auch das immerwährende Bedienen am Alten und die Weigerung, zu neuen Grenzen aufzubrechen, bis nur noch ein Weltuntergang helfen kann – wobei uns Comics, Alien-Filme und Posthume Auftritte natürlich daran erinnern, dass niemand tot bleiben muss.

Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende? Zu welcher Fraktion gehört ihr, liebe Leserinnen und Leser?

Zeitgeist: Escape (The Piña Colada Song)

Irgendwas muss dran sein an Rupert Holmes’ Hit von 1979, dass er plötzlich innerhalb eines Jahres in zwei Filmen wieder auftaucht. Da der Song seit dreißig Jahren nicht nur Leitmotiv der Creme-Cocktail- sondern auch der Partnervermittlungs-Industrie ist, scheint es fast schon logisch, dass er im überdimensionierten eHarmony-Werbespot The Secret Life of Walter Mitty auftaucht, wenn auch in einer gelungenen Coverversion von Jack Johnson. Aber auch im neuen Marvel-Film Guardians of the Galaxy ist der Song als Teil des ominösen Mixtapes zu hören, das Peter Quill immer bei sich trägt.

Was fällt auf an dem Song, der laut Wikipedia die letzte Nummer Eins der Siebziger war?

1. Der Titel. Wer auch immer den Song hört, dürfte danach erstmal ziemlich sicher sein, dass er “If you like Piña Coladas” heißt – oder so ähnlich, zumindest irgendwas mit “Piña Colada” im Titel. “Escape (The Piña Colada Song)” teilt sich insofern ein Schicksal mit dem ein oder anderen Hit durch die Jahrzehnte, dem in Klammern ein zusätzlicher Titel angehängt werden musste, damit der Pöbel ihn auch erkennt, wenn er ihn sieht (spontan fällt mir als weiteres Beispiel nur “Sweat (A la la la la long)” ein, aber zum Glück gibt es ja das Internet – wie sind Nirvana bloß damals mit “Smells like Teen Spirit” durchgekommen?).

2. Die Story. Wer den Song oberflächlich hört, kennt schon bald den Refrain auswendig und ahnt, dass es irgendwie um Partnerschaftsanzeigen geht. Aber in Wirklichkeit geht es um einen Mann, dessen langjährige Beziehung ihn nicht mehr erfüllt (“like a worn-out recording of my favourite song”) und der deshalb heimlich auf eine Anzeige in der Zeitung antwortet (weil er Piña Coladas mag). Doch das Blind Date endet unverhofft: die Anzeigenschreiberin ist seine eigene Frau und beide stellen plötzlich fest, dass es eine Menge gibt, was sie noch nicht voneinander wussten. Zum Beispiel ihre Vorliebe für Dünensex zur Geisterstunde.

3. Der Zeitgeist. Die beiden vielsagendsten Zeilen von “Escape” drehen sich um das, was Rupert Holmes und seine Frau nicht mögen. Sie sind “not into Yoga” und “not into health food”. Ich finde es irgendwie ganz wunderbar, wie sich hier die New Age Trends der 70er widerspiegeln, denen man damals wahrscheinlich kaum entkommen konnte. Die Figuren des Songs hingegen sind echte Genießer, süffeln lieber Cocktails und Champagner, statt auf der Selbstverbesserungs-Welle mitzureiten. Wahrscheinlich sehen sie sich selbst als die letzten normalen Menschen. Heute sind Yoga und gesundes Essen Mainstream, also was würde wohl an Stelle dieser Textzeilen treten, wenn der Song heute geschrieben würde? Wovon sagen “normale” Leute gerne, dass sie es nicht nötig haben? Vielleicht Social Media? “If you’re not into Facebook …?”

Sperrfristen-Spiele, Presse-Privilegien und Marketing-Machenschaften (Update)

© Disney

(Update, 31. Juli, 16:20 Uhr: Per Anruf wurde ich gerade informiert, dass die Sperrfrist für Guardians of the Galaxy auf morgen mittag (1.8. – Startdatum in den USA) verkürzt wurde. Kein Kommentar.)

(Update, 26. Juli, 10:26 Uhr: Ich habe Marvel anscheinend so sehr genervt, dass sie mir gerade doch eine Twitter-Direktnachricht geschrieben haben, in der sie mir mitteilten, dass kurze Eindrücke okay, aber lange Besprechungen nicht erwünscht sind. Das war mir natürlich vorher klar – ich frage mich nur, warum man das nicht einfach öffentlich sagt. Damit nicht gewiefte Journalisten versuchen, wieder Schlupflöcher im System zu finden? Egal. Ich möchte damit nur einmal loswerden, dass ich Guardians of the Galaxy absolut famos fand und mich sicherlich noch viel daran abarbeiten werde. Bei all dem Ärger, der aus diesem Artikel spricht: Ich mag Marvel und Disney doch, sonst würde ich mir nicht so viele Gedanken um sie machen.)


Ich habe heute Abend Marvels neuesten Streich Guardians of the Galaxy gesehen. Zeitgleich mit den Besuchern der Europa-Premiere in London und mit hunderten anderen Menschen in Deutschland. Der Grund: Eine spezielle Preview, veranstaltet von ProSieben und anderen Gewinnspielanbietern, um im Vorfeld eine positive Grundstimmung für den Film zu erzeugen. Wer den Film gesehen hat und ihn gut fand, so die Logik, wird davon seinen Freunden erzählen. Und die werden davon ihren Freunden erzählen, und so weiter. Und dann gehen alle gleich am Eröffnungswochenende ins Kino, weil sie sich so auf den Film freuen. In Deutschland ist dies das Wochenende vom 28. August, also in fünf Wochen.

Allerdings, wenn meine Freunde und Bekannten im Internet zu Hause sind – auf Twitter, Facebook oder als Leser dieses Blogs – darf ich ihnen nicht davon erzählen, wie ich den Film fand. Das darf ich erst ab 15. August, weil “auf den Besprechungen zum Film eine Sperrfrist bis einschließlich 15. August 2014 liegt. Dies gilt für alle Medien (Print, Online, TV, Radio) inkl. Blogs, Sozialer Netzwerke und Webseiten”. Ein Zitat aus der Presse-Einladung zum Film. Klar: Wenn ich jetzt schon aufschreibe, wie ich den Film fand, besteht die Gefahr, dass das hoffentlich positive Summen, das den Film umgibt, zu früh verpufft. Nach dem Sommerurlaub Ende August haben dann schon wieder alle vergessen, was Menschen vor einem Monat über Guardians gesagt haben; und die ganze Mühe, die in das Anfachen des Feuers gesteckt wurde, war umsonst.

In über 40 Ländern

Die Denke dahinter ist verständlich. Nur: Am 15. August werden die Presse und die Gäste der Preview nicht die einzigen sein, die den Film gesehen haben. Bis dahin ist der Film in über 40 Ländern gestartet. Viel wichtiger: In seinem Hauptmarkt USA startet der Film am 1. August, zwei Wochen vorher. Das Internet – dieses globale Medium, das man überall lesen kann – wird voll sein mit Besprechungen. Würde ich meinen Sommerurlaub zufällig in den USA machen und den Film dort regulär im Kino sehen, dürfte ich ihn dann auch nicht besprechen? Was ist, wenn ich nicht in den USA war, aber behaupte, dort gewesen zu sein und ihn dort noch einmal gesehen zu haben? Was ist, wenn ein Freund von mir, der in den USA lebt, den Film dort im Kino sieht und mir anschließend davon erzählt – dürfte ich ihm beipflichten oder widersprechen? Dürfte ich einen Artikel verfassen, der Kritiken aus den USA aggregiert und am Ende schreiben: “Nur aufgrund der hier angegebenen Kritiken und natürlich keinesfalls aufgrund der Tatsache, dass ich den Film schon gesehen habe, denke ich, dass er gut/schlecht ist”?

Genug der Absurditäten.

Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass Filmjournalisten eine privilegierte Beziehung zu Filmen haben. Verleiher stellen uns vorab Zugang zu ihren Filmen zur Verfügung, obwohl sie das in den meisten Fällen – sind wir mal ganz ehrlich – nicht müssten. Gerade die großen Hollywood-Blockbuster brauchen Kritiken so sehr wie eine Katze einen Motorroller. Daher kann es auch ein Til Schweiger sich erlauben, einen Film wie Schutzengel Journalisten erst gar nicht vorab zu zeigen. Die Leute gehen eh rein. Das Ganze ist, wie so oft im Wechselspiel von PR und Journalismus, ein Tanz. Kritiker bekommen alle Filme vorab zu sehen, damit sie alle Filme gleich behandeln. Denn bei kleineren Filmen können gute Kritiken durchaus mal zum Erfolg verhelfen, also wägt man als Verleiher (oder vom Verleiher beauftragte PR-Firma) ab, dass man sich seine Filmkritiker lieber insgesamt warm hält. So läuft das halt im Geschäftsleben.

Merkwürdiger Hilferuf

Dass ich selber Filmjournalismus gerne lese und der Meinung bin, dass Filmkritik durchaus einen Beitrag zur kulturellen Debatte liefert, ändert nichts daran, dass ich finde, Filmkritiker nehmen sich selbst ein bisschen wichtig. Das Flugblatt für aktivistische Filmkritik des VDFK (dem ich immer noch nicht beigetreten bin, obwohl ich einige Male kurz davor war) habe ich nicht unterschrieben, weil es mir wie ein merkwürdiger Hilferuf von jemandem vorkam, der gerne mehr Bedeutung hätte, als er hat. Da wird angeklagt, dass sich viele Filmkritiker der Marketing-Maschine der Verleiher nicht widersetzen und sich mit einer “5 Sterne, unbedingt reingehen”-Kritik zufrieden geben, wenn sie doch Relevantes, “Aktivistisches” schreiben könnten, was kulturelle Bedeutung schafft. Als könnte das in einem freien Markt nicht jeder für sich entscheiden.

Schreibt halt selbst gute Sachen! kann und will ich da immer nur ausrufen. Und beschwert euch nicht über ein System, das euch zurückgelassen hat, weil ihr euch lieber im Geschwurbel versteckt, statt Relevanz zu schaffen. Und wenn ihr eure Sachen für gut haltet und niemand sie drucken oder bezahlen will, dann findet selbst einen Ort dafür. Qualität setzt sich durch. Das Anspruchsdenken, das manchmal aus Institutionen wie dem VDFK trieft, zum Beispiel wenn er fordert, selbst wählen zu können, in welcher Sprachfassung die Pressevorführungen stattfinden oder wie im Schutzengel-Fall behauptet, es wäre Behinderung der Presse, wenn Schweiger keine kostenlosen Vorab-Vorstellungen veanstaltet, ist typisch für den deutschen Kulturbetrieb. Ich beobachte es immer wieder. Gesellschaftliche Relevanz wird nicht erarbeitet. Sie wird einfach postuliert. Aus Tradition oder aus einem Selbstverständnis voller Hybris.

Das Spiel mitspielen – oder nicht

Ich liebe Journalismus, ich sehe mich selbst immer noch als Journalist, obwohl ich das meiste Geld mit PR (allerdings nicht Film PR) verdiene. Und dennoch bricht mich die Selbstgefälligkeit, mit der viele Journalisten die Welt beschreiten immer wieder an. Nicht nur beim “Spiegel”. Man muss sein Rebellentum dann aber meiner Ansicht nicht dadurch demonstrieren, indem man auch von Filmen einen Kritikerspiegel veröffentlicht, die noch nicht ihre Welturaufführung erlebt haben. Als wollte man sich damit dafür rächen, dass man sonst oft am kürzeren Hebel sitzt. Welchen Pyrrhussieg man damit feiern kann, sei dahingestellt. (Ja, Dennis, ich möchte nicht nur in der Echokammer drüber schreiben, sondern auch drüber reden. Ich versuche, zum nächsten Stammtisch zu kommen.)

Aber obwohl ich jetzt drei Absätze lang auf meinen Kollegen herumgedroschen habe, bin ich trotzdem der Meinung, dass die Guardians of the Galaxy-Sperrfrist eine Travestie ist. Sperrfristen haben als freiwillige Vereinbarung im Journalismus den Zweck, etwas als Arbeitserleichterung für alle rechtzeitig zu kommunizieren, aber es nicht zu veröffentlichen, bevor die Betroffenen Bescheid wissen, zum Beispiel bei Preisverleihungen. Hier aber ist die Meinung der Journaille den Verleihern anscheinend noch wichtig genug, um sie vor ihren Karren zu spannen. Aber gleichzeitig wird die eigene Marktmacht durch das absurd späte Datum ausgetestet. (Als Sanktion droht natürlich der Ausschluss von späteren Pressevorführungen.) Und ähnlich wie bei der Scorsese-Vorführung auf der Berlinale wäre das tatsächlich ein Punkt, wo man sich voll rechtschaffenden Zorns weigern kann, das Spiel mitzuspielen.

Wenn ein Film in der Welt ist, nicht nur in internen Pressevorführungen und Premieren für geladene Gäste, sondern in öffentlichen Vorführungen, sollte man darüber berichten können. Im Fall von Guardians wäre das also der 1. August. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich das alberne Spiel diesmal mitspielen werde, oder nicht.

Epilog

Nach der Preview wollte Marvel dann plötzlich doch auf Twitter hören, wie die Leute den Film fanden. Auf meine Frage, ob nicht eigentlich Sperrfrist gelte, wurde nicht reagiert konfus reagiert. Kritiker wie Torsten Dewi haben daraufhin das Embargo “gebrochen”. Ich bin kein bisschen schlauer.

Nachtrag (25.7., 0:25 Uhr): In den USA hat Marvel dann doch erste Kritiken zugelassen. In einer früheren Version des Artikels hatte ich Torsten Dewis Vornamen fälschlicherweise “Thorsten” geschrieben.

Edit, 26.7.: Ein Hinweis noch im Zuge der vollständigen Offenlegung: Ich habe es nicht geschafft, Karten in einem Gewinnspiel zu ergattern, stattdessen habe ich bei der sehr freundlichen Presseagentur angerufen, die den Film betreut, und diese hat mir zwei Karten organisiert. Daher weiß ich auch überhaupt nur von der Sperrfrist, auf die ich im Zuge des Austauschs mit der Agentur nachdrücklich hingewiesen wurde. Auf dem Screening selbst wurde nichts dazu gesagt.