Film-Franchising: Bilanz und Ausblick

© Disney

Avengers: Age of Ultron

Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle eine Vorschau auf die Franchise-Entwicklungen des kommenden Jahres veröffentlicht. Das möchte ich dieses Jahr wieder tun. Doch es lohnt sich, zunächst einen längeren Blick zurückzuwerfen, denn 2014 war in vielerlei Hinsicht ein entscheidendes Jahr in Sachen Film-Franchising. Wie immer: vage SPOILER für alle Entwicklungen bis heute.

Ich muss am Anfang doch erst noch einmal die Avengers erwähnen. Film-Franchising ist in Hollywood nun wirklich nichts Neues, aber Joss Whedons Film hat 2012 einfach der ganzen Industrie bewiesen, dass es nicht nur grundsätzlich funktioniert, dass Prinzip des Crossover-Comics auf die Welt der Big-Budget-Filme zu übertragen, sondern dass man damit auch unfassbar viel Geld verdienen kann. Wieviel Geld? Dritterfolgreichster-Film-aller-Zeiten-viel.

Die Ergebnisse dieser Erkenntnis im Jahr 2012 konnte man 2014 im Kino sehen. Jene Studios, die sich schon länger im Spiel befinden, fühlten sich in ihrem bisherigen Tun bestärkt und lieferten vergleichsweise erzählerisch mutige Filme ab. Die beiden Disney/Marvel-Filme etwa: Captain America: The Winter Soldier, in dem die Grundordnung des filmischen Universums auf den Kopf gestellt wird und Guardians of the Galaxy, dessen Franchise-Fäden ihn nur sehr dünn mit dem Rest dieses Universums verbinden, und der sich trotzdem voll auf die Marke Marvel lehnen konnte. Dito Fox mit X-Men: Days of Future Past, der voller Verve zwei filmische Universen miteinander verschmolz, um so die bisher erzählten Geschichten quasi ohne Abzusetzen weiterführen zu können.

Nachrüsten mit Marvelsaft

Auf der anderen Seite konnte man den anderen Studios dabei zusehen, wie sie sich mehr schlecht als Recht bemühten, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, indem sie bereits in Entwicklung befindliche oder sogar bereits abgedrehte Filme mühsam mit Marvelsaft nachrüsteten. The Amazing Spider-Man 2 ist das wahrscheinlich beste Beispiel für einen Film, der bei der Kritik vor allem deswegen durchfiel, weil man ihm ansah, wie das ursprüngliche Drehbuch durch diverse Anbauten im Nachhinein franchise-tauglicher gemacht wurde. Universal machte das gleiche mit Dracula Untold, aus dem sie mit einem End-Credits-Tag nachträglich den ersten Akt eines Monster-Universums schufen.

© Universal

Dracula Untold

Ich fühlte mich extrem an den Postkonvertierungs-3D-Boom von 2011 erinnert, und an die Wut die sich über Filme wie Clash of the Titans im Nachgang von Avatar ergoss, als “Marvel-Style Shared Universes” im Herbst 2014 auf der generellen Hassliste selbst von Nerd-Kritikern ganz oben landete. Es half sicher nicht, dass sowohl Warner/DC als auch Disney/Marvel sich in ihrem Erfolg so bestätigt fühlten, dass sie auf großen Events ihre geplanten Filmkalender gleich für die nächsten fünf Jahre vorstellten, was gerade bei jenem Teil der Bevölkerung zu Kopfschmerzen führte, der ins Kino geht, um dort so etwas Ähnliches wie Kunst zu erleben.

Hat Mark Harris recht?

Den besten, weil reflektiertesten, Artikel zum Thema verfasste Mark Harris bei “Grantland”. Harris erkennt die lange Geschichte an, die Hollywood mit Franchises hat und die bis in die Stummfilmzeit zurückreicht. Er weist darauf hin, dass Charakterstudien und ähnliche Formate ins Fernsehen gewandert sind, wo sie mehr Raum haben. Und doch kommt er zu einem bitteren Ergebnis:

The future of Hollywood movies right now — at least, as it lives in the hands of five-year planners — feels somehow small and cautious, a dream dreamed by people whose sugarplum visions of profit maximization depend on the belief that things will never change.

Ich muss sagen, dass auch ich überrascht war, als Marvel im Oktober seinen “Slate” bis 2019 vorstellte. Studiochef Kevin Feige hatte in der Vergangenheit of genug das Mantra wiederholt, dass langfristige Pläne bei Marvel immer hinter der Absicht zurückstecken müssen, den nächsten Film so gut wie möglich zu machen. Mit der Enthüllung ihres Plans vom “Infinity War”, den “Inhumans” und “Captain Marvel” aber legt sich das Studio für die kommenden Jahre extrem fest und schließt – genau wie Harris sagt – eine große Wette darauf ab, dass ihr jetziger Erfolg anhält. Auch der Streit rund um Ant-Man, der sich im Mai entlud, spricht für diese Entwicklung. Der Abspann von 22 Jump Street liefert die passende Parodie dazu.

© 20th Century Fox

Dawn of the Planet of the Apes

Dennoch muss man auch anerkennen, welche interessanten Momente das Jahr 2014 in Sachen Franchising hervorgebracht hat. Von dem bereits erwähnten X-Men: Days of Future Past, der ähnlich wie zuvor Star Trek mithilfe eines Zeitreiseplots einen nahtlosen Übergang von Sequels zu Prequels schaffte, bis zu Dawn of the Planet of the Apes, der gelungen eine Mythologie weiterspinnt und deren weiße Flecken füllt, ohne sich zu sklavisch an seine Vorlage zu ketten. In ihrer Verbindung von erzählerischen Volten und geschickter Marketingpolitik bleiben diese Filme Faszinosa. Anders übrigens als The Hobbit: The Battle of the Five Armies, an dem sich im Dezember die gesamte Enttäuschung über die LotR-fizierung von Jacksons zweiter Trilogie endgültig Bahn brach.

Der größte Coup gelang aber wieder einmal Marvel Studios, die im Frühjahr in Captain America: The Winter Soldier ein Ereignis einbauten, dessen Auswirkungen auf andere Bereiche des Franchise-Universums parallel zum Release des Films im Fernsehen verfolgt werden konnten. Nach dem Charakter-Crossover von The Avengers ist diese Event-Synchronität schon die zweite Comic-Mechanik, die das Studio erfolgreich in die Welt der bewegten Bilder transponiert hat. Man darf ruhig mal anerkennen, dass diese Form der Programmierung Live-Erlebnisse schafft, die im Zeitalter der ständigen Verfügbarkeit von Medieninhalten immer noch etwas besonderes sind.

Auf dem Weg zu den Inhumans

Wohin also führen uns diese Entwicklungen im Jahr 2015? Marvel Studios dominiert wie schon letztes Jahr die erste Jahreshälfte. Agent Carter, die neueste Marvel-Serie läuft in diesen Wochen in der Saisonpause von Agents of S.H.I.E.L.D. und erweitert das Marvel Cinematic Universe um Erzählungen aus der bisher noch nicht beleuchteten Nachkriegszeit. Erwartbar ist, dass Marvel versuchen wird, den Coup des Vorjahres zu wiederholen und sowohl Agent Carter als auch Agents of S.H.I.E.L.D. in irgendeiner Weise mit dem Start von Avengers: Age of Ultron am 1. Mai (in Deutschland am 30. April) zu verschränken. Im Gegensatz dazu steht Daredevil (10. April), der ersten von vier Serien, die Marvel für Netflix produziert hat wohl in einer etwas anderen Ecke des MCU, heißt es.

Age of Ultron selbst wirkt den bisherigen Trailern zufolge wie ein erster Schritt in ein etwas düstereres Marvel-Universum, das sich 2016 mit Captain America: Civil War fortsetzen wird. Der relativ generisch aussehende Ant-Man (23. Juli), der ja eher eine Komödie werden soll (Drehbuch: Adam McKay, Paul Rudd, Edgar Wright, Joe Cornish), mag da gar nicht so richtig reinpassen. Genausowenig wie in den nächsten großen Story-Arc im Marvel Cinematic Universe, das Erwachen der sogenannten “Inhumans”, die Marvel Studios wohl als Alternative zu den X-Men positionieren will, an denen sie keine Rechte haben. Die ersten Samen für die Inhumans-Story wurde im Mid-Season-Finale von Agents of S.H.I.E.L.D. gepflanzt. In Age of Ultron werden dann wohl schon zwei Inhumans mitspielen: Scarlet Witch und Quicksilver.

© Disney

The Force Awakens

Alle Kanonen in Stellung

Es ist kein Wunder, dass bei Marvel Studios im Herbst nichts mehr passiert, denn spätestens ab August wird Mutterschiff Disney alle Kanonen in Stellung bringen, um das größte Blockbuster-Event des Jahres hochzuhypen: Star Wars – Episode VII: The Force Awakens (17. Dezember). Aus Franchising-Sicht sind daran vor allem drei Dinge interessant: Erstens, dass Disney bereits 2014 die Entscheidung getroffen hat, den bisher etablierten Kanon des Story-Universums neu zu sortieren, um sich mehr erzählerische Manövrierfähigkeit zu schaffen. Zweitens, dass wohl noch zu später Stunde in der Pre-Production die Entscheidung fiel, den Soft Reboot des Star-Wars-Universums noch softer zu machen, als zuvor geplant und deutlich mehr Fokus auf bereits etablierte Charaktere zu legen (auch wenn der erste Trailer das Gegenteil suggeriert). Drittens, dass Star Wars in Zukunft auch im Kino zu einem “Shared Universe” wird, bei dem die großen “Episoden” begleitet werden von Spinoff-Filmen auf anderen Zeitstrahlen, von denen der erste bereits 2016 ins Kino kommt.

2016 wird auch das Jahr, in dem es für DC/Warner so richtig in die Vollen geht, wenn sowohl Batman v Superman: Dawn of Justice als auch Suicide Squad starten, die wahrscheinlich in bester Nolan/Snyder-Manier beide sehr düster werden. 2015 hält das Studio noch ein wenig die Füße still und konzentriert sich auf den Erfolg seiner Superhelden-Fernsehserien Arrow, Flash und Gotham. Zumindest Arrow und Flash wurde im Dezember 2014 auch bereits ein Crossover geschenkt. Weitere sollen folgen. (Disclaimer: Ich verfolge die DC-Serien nicht. Vielleicht kann jemand in den Kommentaren ergänzen, was uns dort Tolles erwartet.)

Ein weiterer Superheldenfilm wird uns 2015 noch heimsuchen: der Reboot von The Fantastic Four (6. August), zu dem gerade der erste Trailer veröffentlicht wurde. Da 20th Century Fox (X-Men) produzierendes Studio ist, liegt die Vermutung nahe, dass auch hier ein Crossover geplant ist. Bis auf die Tatsache, dass Drehbuchautor Simon Kinberg gesagt hat, er fände das spannend, gibt es aber noch keine Pläne.

© Paramount

Terminator: Genisys

No Fate

Terminator: Genisys (Paramount, 9. Juli) wird entweder eine brillante Zeitreise-Reflektion à la Back to the Future – Part II oder ein gigantischer Clusterfuck. Das Franchise hat sich schon immer im Kern darum gedreht, ob es so etwas wie Schicksal gibt und während der letzte von James Cameron inszenierte Teil von 1991 darauf noch die eindeutige Antwort “Nein” gab, wurde mit dem Konzept seitdem in der Serie The Sarah Connor Chronicles und dem missglückten Sequel Salvation immer wieder gespielt. Genisys scheint jetzt alles bisher passierte neu verquirlen zu wollen und wirft die Elemente und Zeitebenen wild durcheinander. Bisher ist das Ergebnis eher Ratlosigkeit.

Mit ein paar Ausnahmen sind alle weiteren Franchise-Filme, die für 2015 geplant sind, “reguläre” Fortsetzungen der alten Schule, die einfach nur mehr Geschichte aus etablierten Figuren herausholen, wie man Mark Harris’ Tabelle entnehmen kann. Gut zu erkennen ist das meist an der Zahl im Titel. Sowohl von Pitch Perfect 2 (14. Mai) als auch von Mission:Impossible 5 (14. Januar 2016) sollte man also keine narrativen Zaubertricks erwarten.

Was sind die Ausnahmen? Da ist einmal Jurassic World (11. Juni), der ein totgeglaubtes Franchise mithilfe eines Soft Reboot wieder zum Leben erwecken soll. Soft Reboot deshalb, weil die Bezüge zur Original-Trilogie – über die Idee des Dinoklonens hinaus – wahrscheinlich minimal sein werden – weder spielt der Film zeitlich nahe an Jurassic Park 1 bis 3, noch sind Figuren des Originals involviert. (Ergänzung: Allerdings spielt der Film auf der gleichen Insel wie die Ursprungsverfilmung und getwitterte Bilder lassen vermuten, dass es doch direkte Storybezüge geben könnte.)

Mad Max: Fury Road

Furious 7 (2. April) wird eigentlich nur deswegen interessant, weil der noch nicht abgedrehte Film irgendwie so umgestrickt werden musste, dass er den Tod eines Hauptdarstellers während der Dreharbeiten kaschiert, ebenso wie The Hunger Games: Mockingjay – Part 2 (19. November). Nachdem die James-Bond-Serie jahrzehntelang mit wenig Zusammenhalt zwischen den Filmen auskam, ist sie seit dem Reboot mit Casino Royale einer konkreten Storyline gefolgt, die in Skyfall mit dem Tod von M ein vorläufiges Ende-im-Anfang gefunden hat. Es wird interessant sein, zu sehen, wo genau Spectre (5. November) jetzt ansetzen wird.

Und dann ist da noch Mad Max: Fury Road (14. Mai), dessen Trailer bei einigen Leuten kleinere Orgasmen ausgelöst hat und mir irgendwie ziemlich egal ist. Bemerkenswert ist er vor allem deswegen, weil hier ein Regisseur 30 (!) Jahre nach dem letzten Film der Serie zu seinem eigenen Franchise zurückkehrt. Da bis heute niemand weiß, worum es in Fury Road eigentlich gehen wird – außer, dass er im Grunde eine einzige lange Verfolgungsjagd ist – kann davon ausgegangen werden, dass die Verwandschaft mit den Vorgängen auch eher in Motiven und Emotionen liegen wird, als in harten Storybezügen Die offizielle Synopsis des Films sagt an, dass der Film, der eine einzige lange Verfolgungsjagd sein soll, direkt nach den Ereignissen von Beyond Thunderdome von 1985 weitergeht.

Das Vermächtnis von Avatar

Ende des letzten Jahres landeten gleich drei Artikel in meinem Feedreader, die sich damit beschäftigten, dass James Camerons Avatar über den 3D-Boom hinaus kaum popkulturelle Fußstapfen hinterlassen hat (1, 2, 3), obwohl er vor fünf Jahren so ein Riesenerfolg war. Ich denke manchmal darüber nach, ob man den Filmen aus dieser jetzigen Spitzenzeit der “Cinematic Universes” in einigen Jahren den gleichen Vorwurf machen wird, eben weil die Franchisifikation von Geschichten auch viele Nachteile mit sich bringt.

Und in der Tat fand ich etwa Captain America: The Winter Soldier und Guardians of the Galaxy in der Zweitsichtung deutlich weniger beeindruckend, als im Mahlstrohm der Hypemaschine zum Kinostart. Die kommenden zwei Jahre werden wahrscheinlich darüber entscheiden, wie ergiebig die Zukunft dieses filmischen Modells noch ist – ob wir uns wirklich auf Franchises bis zum Sanktnimmerleinstag einstellen müssen, oder ob das Publikum gegen die nicht enden wollenden Versprechungen von immer neuen Superlativen irgendwann an der Kinokasse abstimmt. 2016 2017 jedenfalls kommt auch der erste Teil einer neuen Avatar-Trilogie ins Kino und James Cameron gehört zu den wenigen Regisseuren, die wirklich gute Fortsetzungen geschaffen haben. Man wird sehen, ob der Zeitgeist dann immer noch auf seiner Seite ist.

Nachtrag, 1. Februar: Sascha von “Pew Pew Pew” und Gerold von “DigitaleLeinwand” haben mich auf ein paar Fehler im Text hingewiesen, die ich korrigiert habe. Außerdem bin ich, wie Gerold zurecht schimpft, in meinem Rundumschlag am Schluss natürlich über ein paar Franchises hinweggehuscht, über die ich auch noch ausführlicher hätte schreiben können, aber es nicht getan habe, weil ich sie nicht (gut) kenne.

  • Paranormal Activity bekommt 2015 bereits seinen 6. Teil und sogar David Bordwell hat schon einmal darüber geschrieben wie das Franchise seine eigenen Methoden immer wieder interessant variiert, reflektiert und bricht.
  • Disney baut sich unbemerkt von einem großen Teil der Welt ein Imperium mit seinen Tinkerbell-Filmen auf. Tinkerbell und das Nimmerbiest (März in den USA) wird Teil 6 der erfolgreichen Reihe, die ich mir allein aus Forschungsinteresse gerne mal anschauen würde.
  • Despicable Me bekommt mit Minions (2. Juli) ein Spinoff, ähnlich wie es Madagascar 2014 mit The Penguins of Madagascar bekommen hat. Das Thema “Sidekicks sind viel interessanter als Hauptcharaktere und die Industrie nutzt das jetzt auch erzählerisch aus” wäre wahrscheinlich auch mal einen Blogpost wert, wenn ich beide Filme gesehen habe.
  • Ein neuer Asterix-Film startet schon in ein paar Wochen. Dazu arbeite ich bereits an einer Rückschau auf die bisherigen Zeichentrickabenteuer.

Wie ich Russell Crowes Film “The Water Diviner” in einem türkischen Kino erlebte

© Fear of God Films

Die Sintflut war weniger umfangreich, als Noah erwartete.

Alternde Filmstars, die zum ersten Mal Regie führen, wählen sich gerne Projekte, in denen sie ihren Messias-Komplex mal so richtig ausleben können. Es reicht ihnen nicht, die Hauptrolle in einem Film zu spielen, den sie selbst inszeniert haben und produziert haben. Sie müssen darin auch noch jene versöhnende Rolle einnehmen, die ihnen die Welt sonst anscheinend versagt. Es muss an ihnen hängen, dass die Menschen sich endlich wieder lieb haben.

The Water Diviner ist Russell Crowes Variante von Dances with Wolves. Nicht unbedingt im Plot, aber doch im grundsätzlichen Gestus des “Stoischer weißer Mann treibt die Völkerverständigung voran und lernt dabei etwas über sich selbst”. Russell Crowe inszeniert sich selbst als einen australischen Brunnenbuddler, der am Ende des ersten Weltkriegs in die Türkei reist, um seine drei in Gallipoli gefallenen Söhne nach Hause zu holen und in geweihter Erde zu begraben. Er hat es seiner toten Frau versprochen. In der politisch zerrissenen Türkei findet er nicht nur zu sich selbst zurück, er stellt außerdem fest, dass einer seiner Söhne noch am Leben sein könnte und entdeckt vielleicht neues Liebesglück (Olga Kurylenko).

Das Versprechen eines Lebens

In Deutschland startet die türkisch-australische Koproduktion als Das Versprechen eines Lebens erst im Mai, aber wegen des starken lokalen Bezugs war sie in Istanbul schon zur Weihnachtszeit zu sehen. Son Umut (Letzte Hoffnung) lautet der türkische Titel. Weil sonst nichts Interessantes lief und man den hunderten Postern für Son Umut in allen Metro-Stationen sowieso nicht entkommen konnte, schoben sich meine Frau und ich also am zweiten Weihnachtsfeiertag in ein ausverkauftes türkisches “Cinemaxximum”, um Russell Crowe – den ich nicht ausstehen kann, meine Frau aber einigermaßen attraktiv findet – beim Brunnenbuddeln zuzugucken.

© Fear of God Films

Wir stellten fest: Russell Crowe gräbt in seinem Film genau einen Brunnen. Ganz am Anfang. Ich hatte fest damit gerechnet, dass ein Film mit dem Titel The Water Diviner (wörtlich “Der Wasser-Wahrsager”, übersetzt “Der Wünschelrutengänger”) irgendwann darin münden würde, dass Russell Crowe seine Wasser-Such-Skills einsetzt, um den rettenden Brunnen für ein paar verlorene Türken zu graben, die ihn daraufhin in guter Hollywood-Völkerverständigungstradition in ihren Stamm aufnehmen. Aber nicht einmal Olga Kurylenko bekommt Russells Wünschelrute zu sehen, das Prinzip wird eher auf eine vage, nicht-konfessionelle Spiritualität übertragen.

Who are they toasting?

Um seinen verschleppten Sohn zu finden, schließt sich Crowe einer Truppe von republikanischen Milizen an, die in jene Richtung ziehen, wo sich die Spur des Sohns verliert. Am Abend vor dem Aufbruch sitzen sie in ihrem Versteck irgendwo in den Katakomben Istanbuls, trinken, feiern und singen. Ein türkischer Soldat hebt sein Glas auf einen abwesenden Mann namens Kemal. “Who are they toasting?”, fragt Crowe seinen neuen Freund Major Hasan (Yilmaz Erdoğan). “Turkey’s future”, antwortet dieser.

Die feierliche Stimmung im Kinosaal war spürbar. Mustafa Kemal Atatürk, der türkische Republiksgründer, wird in der Türkei wie ein Heiliger verehrt. Man sagt nichts Schlechtes über ihn. Am Nationalfeiertag, dem 29. Oktober, zieren zehn Etagen hohe Porträts von ihm die Hauswände. Es wird sich ständig auf ihn berufen, um Alles und Nichts zu rechtfertigen.

© Fear of God Films

Das kann man albern finden, oder sogar gefährlich. In diesem Moment – als Deutscher zu Gast in der Türkei, in einem Kino voller Türken, im Angesicht eines sentimentalen australischen Films über die Türkei – war ich gerührt. Ich wünschte mir einen eigenen Gründungsmythos, auf den ich mich bei Gelegenheit berufen kann, und der nicht nur darin besteht, dass mein Volk nicht in der Lage war, seinen wahnsinnigen Diktator selbst zu stürzen, sondern ihm jubelnd ins Verderben folgte. Das Gefühl wurde ich eine Weile nicht los, auch nachdem der Film vorbei war.

Völkerverständigung für Dummies

In The Water Diviner wird allerdings auch klar, dass Völkerverständigung nach dem filmepischen Modell immer nur zwischen zwei Völkern stattfinden kann. Crowe kommt als Australier nach Gallipoli und seine ursprüngliche Wut gegen die Türken, die seine Söhne umgebracht haben, schwenkt bald um in Sympathie gegenüber dieser alten Zivilisation, die mitten im Umbruch steckt und deren Vertreter Hasan ein echter Ehrenmann ist.

Das hindert ihn natürlich nicht daran, sowohl die ausnahmslos arroganten und ignoranten englischen Besatzer, als auch die ungewaschenen barbarischen Griechen, die Anatolien unsicher machen, weiterhin zu hassen. Sie haben ja schließlich auch kein Geld in seinen Film investiert.

Quotes of Quotes (XXVI) – Markus and McFeely on “Agent Carter” within the MCU

How much of the bigger Marvel Universe are you weaving in?

[Screenwriter/Co-Creator Christopher] McFeely: We can’t help but weave in the Marvel Universe. We’ve been at this for a few years now. All of our reference points are within the universe. We need a scientist character. We didn’t go very far to come up with Anton Vanko, just as a very small part scientist character. If you know what he is, or what he goes on to be, that’s interesting. If not, he’s the Russian scientist.

[Screenwriter/Co-Creator Stephen] Markus: Also, working in the past where you already know the future — obviously, we saw ninety-something old Peggy — there are references being made, whether you do them on purpose or not. We know Hydra eventually took over S.H.I.E.L.D. When somebody says something hopeful about the future in Agent Carter, that is going to be tinged with the fact we know the future didn’t work out that well. There are plenty of little indicators of the future going forward, and the legacy of both the S.S.R. and Howard’s technology that will have ramifications later.

It’s almost like the M. Night Shyamalan curse, though. Viewers always expect some crazy twist in his movies. With Marvel, people anticipate all these tie-ins to other projects.

McFeely: I suppose it has the red box on the front. It’s a Marvel project, so they are going to expect something. But we’ve really tried to make the best show, about an interesting character in a world where there are some glowing objects and where a superhero has died.

Markus: We are also slightly freed up from that interconnection by the period. On “Agents of S.H.I.E.L.D.,” Captain America and Iron Man and everybody are running around in that same world and same time period. They could theoretically show up at the door. There’s nobody around during “Agent Carter.” You can’t have an end-of-the-credits tag where Nick Fury shows up and talks to Peggy. He hasn’t been conceived yet. We’re a little cocooned.
– from an Interview at Comicbookresources.com

(vgl.)

Filme “normal” gucken

Als ich 2002 mein Studium mit dem Hauptfach Filmwissenschaft begann, wurde mir eine Frage immer wieder gestellt. “Kannst du denn jetzt Filme noch normal gucken?” Die Frage ist so beständig, dass sie selbst vor einem halben Jahr in David Streits Intervievv wieder auftauchte – was mich dazu brachte, noch einmal systematischer über das Thema nachzudenken.

Was Menschen, die diese Frage stellen, damit wohl meistens meinen ist: Ist es möglich, sich eine Art Unschuld beim Filme gucken zu bewahren, auch wenn man vielleicht mehr über Filme weiß, als vorher. Die Frage lässt sich sicher auf fast jeden anderen Beruf ummünzen. Kann ein_e Botaniker_in durch einen Park gehen, ohne überall Pflanzen zu identifizieren? Kann ein_e Architekt_in eine Stadt besuchen, ohne aus dem Augenwinkel die Statik der ihn oder sie umgebenden Häuser abzuschätzen? Das Eigentümliche bei Filmen ist wohl, dass sie ein allgegenwärtiges Konsumgut sind, über deren Hintergründe allerdings die wenigsten Menschen genauer nachdenken (wollen). Ich habe beobachtet, dass Ernährungswissenschaftler_innen gerne ähnliche Fragen gestellt bekommen.

1,6 mal pro Jahr ins Kino

Natürlich muss man die Frage zunächst umdrehen, das heißt: Wie schaut man einen Film denn “normal”? Was ist ein “normaler” Zuschauer? Jemand, der 1,6 mal pro Jahr ins Kino geht, 2014 in Monsieur Claude und seine Töchter und die Hälfte vom dritten Hobbit? Ich denke in diesem Zusammenhang oft an meine Eltern, die noch seltener ins Kino gehen, aber dennoch seit mittlerweile über 50 Jahren Filme schauen – jene Filme eben, die ihnen die großen Fernsehsender jeden Abend um 20.15 Uhr vorsetzen. Mit gewissen Abstrichen natürlich, meine Mutter mag zum Beispiel, ohne so genau sagen zu können warum, keine französischen Filme. Aber wie weit reicht die Spanne? Wann hört Filmkonsum auf, seine Unschuld zu verlieren?

Einer der Unterschiede, die ich zwischen “normalen” und “fortgeschrittenen” Filmguckern festgestellt habe, ist die Art und Weise, wie Filme kategorisiert werden. Meine Eltern wissen bei einem Film wahrscheinlich das grobe Genre, vielleicht noch, wer die Hauptrollen gespielt hat – falls die Schauspieler bekannt genug sind. Als ich ihnen vor kurzem Midnight in Paris ans Herz gelegt habe, ging ein großer Teil des Charmes an ihnen verloren, weil sie die vielen kleinen Filmstars nicht kannten, die sich dort in Minirollen tummeln. Filmliebhaber sortieren Filme stärker nach Regisseuren, nach Generationen oder “Schulen”, falls es diese gibt. Ausnahmen wie Tom Cruise, der jeden Film dominiert, in dem er mitspielt, bestätigen die Regel.

Die unsichtbare Linie

Aber fügt solches Zusatzwissen dem Filmgenuss wirklich so viele Dimensionen hinzu, dass “Normalität” beim Schauen verlorengeht? Diese Frage hat mich auch in meiner Filmblogosphären-Diskussion immer wieder beschäftigt, wo ich ja auch – vielleicht zu unrecht – darüber sinniert habe, ob es eine unsichtbare Linie zwischen Filmprofis und Filmamateuren gibt.

Wenn ich an mein Studium zurückdenke, sehe ich vor allem drei Dinge, die meinen Blick auf Filme verändert habe. Ich vermute, dass es anderen Menschen auch so geht, die Film – egal ob an einer Hochschule oder privat – intensiv studieren. Als erstes die Erweiterung des filmischen Vokabulars. Nachdem ich im ersten Semester Einstellungsgrößen, Montagetechniken, Beleuchtungsstile und andere Dinge gelernt hatte, die zur Filmanalyse gehören, war es mir viel besser möglich, präzise zu benennen, was einen Film in meinen Augen ausmachte.

Film-Traditionen und Denk-Traditionen

Zweitens haben sich mir historische Zusammenhänge erschlossen, die ich zuvor nicht kannte. Ich gebe gerne zu, dass ich vor meinen ersten Vorlesungen noch nie von der Nouvelle Vague gehört hatte. Jemand, der etwas älter ist als ich, kennt die Nouvelle Vague vielleicht, aber hat er mal die Werke der russischen Revolutionsfilmemachern gesehen? Nur wenige Menschen beschäftigen sich filmisch mit Epochen oder Genres, die für sie nicht irgendeine persönliche Bedeutung haben (vor meinen Studium hatte ich immerhin Metropolis gesehen, weil ich mich für Science Fiction interessierte). Aber zu wissen, auf welche Traditionen moderne Filmemacher zurückgreifen, wenn sie heute ihre Filme machen; welche Revolutionen es im Laufe der Filmgeschichte gab, das hat meinen Blick entscheidend geweitet.

Drittens schließlich führt ein Film-Studium dazu, dass man viel darüber erfährt, welche Gedanken sich andere Menschen bereits zu Filmen gemacht haben. Dabei ist es unerheblich, ob man tatsächlich – wie ich – Gefallen an Filmtheorie und an den Grundfragen dessen, was Film ausmacht, findet oder einfach nur viel Filmkritik liest. Der Punkt ist, dass man irgendwann feststellt, dass es viele verschiedene Arten gibt, Filme zu sehen und über Filme nachzudenken. Und dass somit reine Filmempfehlungen, jener “Service”, den etwa das Flugblatt zur aktivistischen Filmkritik so verschreit, nur ein kleiner, wenig ergiebiger Aspekt der Beschäftigung mit Film ist.

Das alles ist aber, wie gesagt, nur reines Wissen, dass sich jeder aneignen kann, der genug Zeit darin investieren möchte. Einige Menschen tun das zu unterschiedlichen Graden und wahrscheinlich werden sie dennoch nur selten gefragt, ob sie Filme noch “normal” schauen können. Sie schauen Filme eben informierter, sie können sie besser kontextualisieren und genauer benennen, was sie an ihnen mögen, oder eben nicht.

Sichten statt sehen

Meiner Ansicht nach kommt ein gewisser “Unschuldverlust” eher in dem Moment, wenn dieses Wissen zum Beruf wird. Wer als Filmkritiker_in arbeitet, als Redakteur_in für einen Fernsehsender, als Mitarbeiter_in einer PR-Agentur, wer ein Kino betreibt oder für ein Festival oder einen Verleih Filme sucht, für den wird ein Film von einem kulturellen Gut – egal wie sehr man es künstlerisch zu schätzen weiß – zu einem Broterwerb. Man “sichtet” statt zu “sehen”. Muss man nach dem Film eine Kritik schreiben oder diesen später verkaufen, denkt man vielleicht schon während des Films darüber nach, welche Momente man hervorheben möchte und mit welchen Formulierungen. Soll man den Film für eine Auswertung in einem anderen Kontext bewerten, prüft man schon während des Sehens, ob der Film für diesen Kontext passend ist. Wenn nicht, und falls man die Kontrolle darüber hat, bricht man die Sichtung vielleicht frühzeitig ab, weil die Zeit zu kostbar ist. (Eine der Erfahrungen, die mir als Mensch, der Dinge gerne zu Ende bringt am Anfang meiner Zeit bei 3sat am meisten das Herz gebrochen hat.)

Und noch über einen weiteren Aspekt denken Film-Amateure wahrscheinlich selten nach. Film-Profis sehen viele Filme. Und im Gegensatz zu Filmnerds, die dagegenhalten könnten, dass sie vielleicht sogar noch viel mehr Filme schauen, wählen Film-Profis diese Filme in der Regel nicht selbst aus. Diese Abwesenheit eines “selection bias” führt automatisch dazu, dass man seinen eigenen, filmischen Horizont noch einmal enorm erweitert, ob man will oder nicht.

Ein gigantischer Sumpf an schlechten Filmen

Zum Thema “oder nicht”: Sowohl als etwas-auf-sich-haltende_r hauptberufliche_r Filmkritiker_in als auch als jemand, der für ein Festival oder einen Lizenzgeber arbeitet, watet man regelmäßig durch einen gigantischen Sumpf an mittelmäßigen und wirklich schlechten Filmen. Und ich meine nicht Michael-Bay-schlecht oder Meine-Erwartungen-wurden-enttäuscht-schlecht. Ich meine abgrundtief, warum-hat-jemand-diese-Menschen-in-die-Nähe-einer-Kamera-gelassen-schlecht.

Die schlechten Filme sind aber nicht einmal das größte Problem. Viel erstaunlicher ist es, festzustellen, wie unfassbar viel Mittelmaß produziert wird. Filme, an denen nichts direkt falsch ist, aber die einfach nichts Besonderes an sich haben. Anschließend wird aber trotzdem von einem erwartet, dass man zu diesen Filmen eine Meinung hat – und diese Meinung kann anderswo in einer betriebswirtschaftlichen Entscheidung münden. Das verändert die Art, wie man Filme schaut.

Echter Genuss geht nicht verloren

Das Gute ist, dass selbst die Abgebrühtheit, die man in so einer Profession entwickelt, einem in der Regel echten Genuss nicht verderben kann. Sehr gute Filme stechen heraus, sie machen wach – meistens, damit man dann hinterher feststellen kann, dass alle anderen auch dieser Meinung sind und damit die eigene Meinung entweder wenig zählt oder der Film unerreichbar geworden ist. Ganz selten nur stehen die Sterne in einer Reihe und man gehört zu den ersten, die das Außergewöhnliche in einem Film erkennen, den andere vielleicht als belanglos abgetan haben. Zum Verfechter eines solchen Films zu werden und zu sehen, wie der Rest der Welt schließlich reumütig seine Sicht der Dinge ändert, für solche Momente lebt man als Film-Profi.

Der wahre Hirnfick, man möge mir mein Französisch verzeihen, kommt dann erst noch eine Stufe später – und er ist für mich der entscheidende Punkt in der endlosen und leider nur selten fruchtbaren Diskussion zwischen Kritiker_innen und Filmemacher_innen. Sobald man nämlich Teil der Industrie wird, die Filme tatsächlich regelmäßig und professionell herstellt, also wirklich hauptberuflich und nicht nur ab und zu, ist der Unschuldsverlust komplett. Ich schreibe hier spekulativ, weil ich selber nie Filmemacher war, aber ich habe es bei anderen beobachtet.

Soll man einen IKEA-Tisch kritisieren?

Der Punkt ist auch hier nicht der Verlust der Wertschätzung für gute Filme. Jeder Profi weiß gute Arbeit zu schätzen. Das Problem ist, dass er oder sie jetzt weiß (und nicht nur ahnt), wie viel gute Arbeit auch in mittelmäßigen und misslungenen Filmen steckt. Die oben erwähnten un-besonderen Filme, die nichts falsch machen – auch für sie haben jede Menge hart arbeitende Menschen viel Schweiß gelassen. Wahrscheinlich haben viele von ihnen mit Herzblut an ihr Projekt geglaubt. Und in so vielen anderen Lebensbereichen ist “gut genug” auch tatsächlich gut genug. Sollte man einen Standard-IKEA-Tisch dafür kritisieren, dass er formell nicht besonders innovativ ist? Dass er nicht aus der Masse von Tischen heraussticht?

Und selbst wenn man einen Film vielleicht nicht außergewöhnlich findet – die Filmbranche ist nicht groß und die Chancen stehen gut, dass man einen der Menschen kennt, die an diesem Film beteiligt waren. Dass man weiß, dass dieser Mensch sein Bestes gegeben hat. Immer wieder sind auch Filmkritiker_innen in diese Falle hineingezogen worden, wenn sie im Laufe ihrer Zeit persönliche Beziehungen zu Filmemacher_innen aufgebaut haben, am prominentesten vielleicht Pauline Kael, ein jüngeres Beispiel ist der abscheuliche Vorwurf, der die Gamergate-Debatte losgetreten hat. Als Kritiker_in kann man in so einem Fall wenigstens noch sagen, dass man einen bestimmten Film nicht besprechen möchte, aber sollte diese “Menschen haben hart dafür gearbeitet”-Argumentation wirklich für alle gelten, die über den Film urteilen sollen? Oder verdirbt man nicht gerade dadurch die Fähigkeit, Filme “normal” zu gucken.

Der Durchschnitt als Maßstab

Weil ich gerade in der Anfangszeit meines Studiums so oft gefragt wurde, ob ich Filme noch normal gucken kann, hatte ich mir irgendwann eine Standardantwort zurechtgelegt. Sie lautete: Durch zusätzliches Hintergrundwissen werden für mich gute Filme besser und schlechte Filme schlechter. Wahrscheinlich ist das eine Form von “nicht mehr normal”. Aber da fast jeder von uns irgendeine Form von besonderem Wissen hat, die einem manchmal hilft und manchmal im Weg steht, gibt es diese mythische Normalität vielleicht auch gar nicht, außer eventuell im rein statistischen Durchschnitt. Der jedoch sollte meiner Ansicht nach nie als Maßstab herhalten. Sonst würden wir uns doch alle viel zu sehr der persönlichen Erfahrung berauben, die wir jedes Mal machen, wenn wir überhaupt einen Film sehen dürfen.

Wie sind eure Erfahrungen mit dem Sehen von Filmen? Wie beeinflusst euer Vorwissen die Filme, die ihr schaut? Für die Antworten auf diese Fragen besitzt dieses Blog eine Kommentarfunktion.

Bildquelle

Die Lieblingsfilme der Filmblogosphäre 2014

Wie schon vor einem Jahr habe ich die letzten Tage damit verbracht, so ziemlich alle deutschsprachigen Filmblogs, die ich finden konnte, nach Bestenlisten zu durchforsten, diese in Daten zu übersetzen und in eine Tabelle einzutragen. Daraus konnte ich am Schluss diese Liste destillieren.

Der Film, der auf Platz eins steht, zeigt eine interessante Tendenz dieser Aggregatsliste auf: Die wenigsten Filmblogger_innen sind Profi-Filmkritiker_innen, das heißt sie gehen nicht unbedingt auf viele Festivals oder bekommen die Möglichkeit, jeden mit kleiner Kopienzahl startenden Film (kostenlos) zu sehen. Auf den Lieblingslisten landet am Ende des Jahres also nicht nur, was bei allen Geschmäckern irgendwie ankommt, sondern vor allem auch, was einfach zu sehen war.

Boyhood kam im Sommer relativ breit ins Kino. Wer ihn damals verpasst hat, hatte spätestens im Dezember davon gehört und konnte ihn im Heimkino nachholen. Das gleiche Prinzip hat sicher auch Under the Skin geholfen, der einen erstaunlichen geteilten zweiten Platz erringen konnte, obwohl er nicht breit im Kino lief. Ansonsten sind mit Ausnahme von Interstellar und Nightcrawler auch alle anderen Filme der Top 10 inzwischen mindestens auf VOD erhältlich. Sicher kein Zufall.

Obwohl ich Boyhood auch auf meiner persönlichen Lieblingsliste habe, bin ich dennoch ein bisschen erstaunt, wie viel Liebe der Film abbekommen hat. Ich bin ja für große sentimentale Gesten sowieso immer zu haben, aber Richard Linklater scheint selbst die Herzen der Zyniker erweicht zu haben. Auch die hohe Platzierung von Under the Skin überrascht mich ein kleines bisschen – der Film ist wirklich kein Crowd Pleaser, aber er scheint bei Filmliebhabern einfach einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Qualität setzt sich eben doch durch.

Wie breit das geschmackliche Feld trotz solcher Konsensfavoriten ist, zeigt die Tatsache, dass auf den 54 ausgewerteten Listen insgesamt 163 Filme Erwähnung fanden – alles von obskuren Festivalperlen bis großen Action-Blockbustern. Um eine Gleichschaltung der Lügenpresse müssen wir uns in der Internet-Filmkritik also so schnell keine Gedanken machen.

1. Boyhood

2. Guardians of the Galaxy / Under the Skin

4. Grand Budapest Hotel

5. Snowpiercer

6. The Wolf of Wall Street

7. Her

8. Nymphomaniac

9. Interstellar

10. Nightcrawler

11. The Lego Movie
12. Die Wolken von Sils Maria
13. Gone Girl
14. Captain America: The Winter Soldier
15. X-Men: Days of Future Past
16. All is Lost
17. Maps to the Stars
18. 12 Years a Slave / Dallas Buyers Club
20. Locke

Zur Methode: Datengrundlage sind insgesamt 54 Listen oder Lieblingsfilm-Nennungen aus deutschsprachigen Filmblogs. Grundlage waren das Filmblogverzeichnis auf “SchönerDenken” und einige Ergänzungen, die dort noch fehlten. Bei mehreren Listen pro Blog von verschiedenen Autor_innen wurde jede Liste einzeln gezählt.

Die Filme wurden nach einem Punktesystem geordnet. Bei nummerierten Top-10-Listen bekam der erste Platz 10 Punkte und so weiter bis zum 10. Platz, der 1 Punkt bekam (gesamt: 55 Punkte). Bei nicht nummerierten Listen bekam jeder Film 5,5 Punkte (gesamt: 55 Punkte). Bei weniger als 10 genannten Filmen bekam der erste Platz 10 Punkte und so weiter absteigend, fehlende Plätze wurden ignoriert. Bei mehr als 10 genannten Filmen wurden nur die ersten 10 gewertet.

Punkteverteilung: Boyhood (185), Guardians of the Galaxy / Under the Skin (jeweils 88,5), Grand Budapest Hotel (82), Snowpiercer (81), Wolf of Wall Street (70), Her (68), Nymphomaniac (65,5), Interstellar (63,5), Nightcrawler (49,5), The Lego Movie (45), Sils Maria (41), Gone Girl (38,5), Captain America (38), X-Men (35,5), All is Lost (32), Maps to the Stars (29), 12 Years a Slave / Dallas Buyers Club (jeweils 28), Locke (27,5).

Pythons, Verdi, Gottesdienst – Kinos setzen auf “alternativen Content”

Die Schweißtropfen glitzern auf der Stirn des Piano-Solisten Christopher Park. In der Großaufnahme ist es deutlich zu sehen, vor allem mehrere Quadratmeter breit auf der Multiplex-Leinwand: Man spürt die Arbeit, die in der Musik steckt. Solche Detailbeobachtungen gehören zu den Vorteilen dabei, die Stuttgarter Symphoniker mit ihrem Rachmaninow-Klavierkonzert nicht in der wenige hundert Meter entfernten Konzerthalle, sondern im Kino anzuschauen. Der Ton allerdings ist leicht asynchron, die Boxen knarren bisweilen, und es fehlt völlig der Raumeindruck, den ein Orchester live vermittelt. Entsprechend ist der Kinosaal fast leer. Die wenigen zahlenden Besucher sind enttäuscht.

Walter Schirnik, der Intendant der Stuttgarter Symphoniker, verteidigt sich einige Tage später am Telefon. Schirnik gilt als guter Vermarkter, spricht gerne von seinen bisherigen Erfolgen und davon, dass er gerne »etwas mehr Rock ’n’ Roll in die Klassik bringen will«. Die unbefriedigende Kinoerfahrung schiebt er auf einen Fehler in der Technik, aber auch er gibt zu, dass eine Liveübertragung des Konzerts ins Kino nebenan – und nicht zum Beispiel in andere Städte – wahrscheinlich nicht die beste Idee war.

Das Klassik-im-Kino-Experiment der Stuttgarter Symphoniker steht im Zeichen eines Trends, der in der Branche gerne als »Alternativer Content« bezeichnet wird. Das kann alles und nichts heißen, bedeutet aber zurzeit meist Liveübertragungen von Theater- und Konzertinszenierungen renommierter Häuser aus der ganzen Welt.

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Real Virtualitys Lieblingsfilme des Jahres 2014

© Senator

Under the Skin

Ich hatte ein gutes Filmjahr, obwohl ich es, wie immer, natürlich nicht geschafft habe, alles zu sehen, was potenziell Bestenlisten-Material gewesen wäre. Aber ich wurde auch mit den Filmen, die ich gesehen habe, gut unterhalten und zum Nachdenken gebracht, ästhetisch überwältigt und narrativ herausgefordert. Es folgt der übliche Countdown.

Nicht gesehen

Obwohl ich oft und gerne ins Kino gehe, sind auch 2014 wieder einige Filme an mir vorbeigegangen, die sicherlich in den Listen anderer Filmgucker_innen auftauchen werden. Dazu gehört der Cannes-Gewinner Winterschlaf von Nuri Bilge Ceylan (ein besonderer Schandfleck, da ich diese Liste gerade in Istanbul verfasse) und der europäische Filmpreis-Gewinner Ida. Jim Jarmuschs Only Lovers left Alive habe ich ebenso verpasst wie Locke und die beiden Doppelgängerfilme Enemy und The Double. Dazu kommen natürlich jede Menge Festival-Filme, die in Deutschland keinen regulären Kinostart hatten, etwa Blue Ruin, Adieu au Langage und Jodorowsky’s Dune, die ich alle gerne noch sehen möchte.

Das Feld

Es gab wiederum genug Filme, die mir gefielen, aber nicht in die Top 10 vordringen konnten. Dazu gehörte der gelungene Franchise-Verbinder X-Men: Days of Future Past und das Affen-Prequel Dawn of the Planet of the Apes, die beide gezeigt haben, dass es selbst innerhalb der Hollywood-Maschine Raum für interessante erzählerische Konstruktionen gibt. Ich mochte das schwindelerregende 70er-Schaulaufen American Hustle, die Mediensatire (?) Nightcrawler, das Sozialdrama Deux Jours, Une Nuit und den Zeitgeist-Film Mockingjay – Part 1 und selbst Captain America: The Winter Soldier und The Lego Movie hatten ihre Stärken. Weniger Liebe konnte ich The Babadook entgegenbringen, der mir seine Metapher doch etwas überstrapazierte. Aber das ist halt Geschmack.

10. Under the Skin

Der Film, der in Deutschland wahrscheinlich vor allem für die Diskussion um seinen Kinostart in Erinnerung bleiben wird, ist mir im Hirn kleben geblieben, obwohl ich aus dem Kino kam und zunächst mehrere Tage behauptete, dass er “sehr hart an der Prätention vorbeischrammt”. Und in der Tat ist Jonathan Glazers Film vor allem ein Experiment in Zuschauergeduld mit seinen wortkargen, kaum erklärten Szenen, die zwischen krisseligem Dokustil und abstrakten schwarzen Räumen wechseln. Alles Vorhergegangene wird aber schließlich durch eine Schlussszene von atemberaubender Schönheit und kosmischer Traurigkeit rehabilitiert, in der sich dann auch der Filmtitel wiederfindet.

9. L’Arte Della Felicita

Ein Film ohne normalen deutschen Kinostart, den ich auf dem Trickfilmfestival in Stuttgart sehen konnte. Wie ich damals für “kino-zeit.de” schrieb: “Auf halbem Weg zwischen Jim Jarmuschs Night on Earth und Richard Linklaters Waking Life erzählt er die Geschichte von Sergio, einem Taxifahrer in Neapel, der seinen Bruder und musikalischen Partner zum zweiten Mal verliert. Zum ersten Mal hat er ihn vor zehn Jahren verloren, als sich Alfredo entschied, das musikalische Duo zu verlassen, um buddhistischer Mönch zu werden. Unfähig, dem Tod des Bruders ins Auge zu sehen, driftet Sergio durch das im Dauerregen ertrinkende Neapel und bekommt von verschiedenen Passagieren deren Glücksrezepte erzählt. Umgesetzt ist das Ganze in einem an Rotoskopie erinnernden, träumerischen 2D/3D-Look mit sorgsam ausgewählter Farbpalette und einem gelungenen Soundtrack.” Ich hoffe auf eine DVD-Auswertung.

© Cinecittà Luce

L’Arte Della Felicita

8. Gone Girl

Wie fast immer bei David Finchers Filmen, kann ich mich mit Gone Girls Menschenbild nicht identifizieren. Ich glaube weder, dass Ehen konstruierte Lügenmärchen sind, noch dass wir alle insgeheim Psychopathen sind, die nur darauf warten, entfesselt zu werden. Aber Heidewitzka! hat mich dieser Film über zwei Stunden plus in seinen Bann gezogen und mich erneut in perfekt kadrierten Bildern und präzise herausgearbeiteten Perfomances schwelgen lassen. Dafür allein lohnt sich Fincher einfach jedes Mal.

7. Boyhood

Nach Feierabend am letzten Arbeitstag vor der Sommerpause saß ich alleine im Stuttgarter Delphi-Kino und ließ Richard Linklaters Vision eines jungen Menschenlebens über mich hinwegrauschen. Dass der Film allein für seine Machart und seinen langen Atem jedermenschs Achtung verdient, muss man kaum noch erwähnen. Doch diesmal trafen mich auch Linklaters übliche Glückskeks-Philosophie-Momente über Sinn und Sinnlosigkeit unserer Existenz auf diesem Planeten ziemlich direkt ins Herz. Und sollte ich jemals einen Toyota besitzen, werde ich auch das “To” und das “Ta” übermalen, bis nur noch “Yo” übrigbleibt.

6. Guardians of the Galaxy

Kino darf auch mal Spaß machen. Und Guardians of the Galaxy macht endlos Spaß, wurschtegal, ob der Film in seinen Handlungsbögen nur ein weiteres Mal den üblichen beliebigen-Bösewicht-irgendwie-besiegen Beats folgt. Da sind ja immer noch die sympathischen Charaktere, das knallbunte Design, die clevere Musikauswahl und die pure Gaudi, die einem von der Leinwand entgegenspringt. Zweieinhalb Stunden Eskapismus ohne Reue.

© Disney

Guardians of the Galaxy

5. Her

Bei all der krachigen Science-Fiction, die in den letzten Jahren in den Kinos um unsere Aufmerksamkeit buhlt, ob Interstellar oder Elysium, Edge of Tomorrow oder Oblivion – kein Film hat die wahren Alltags-Technik-Themen unserer Zeit so gut eingefangen wie Her. Das besondere an Spike Jonzes kleinem Meisterwerk ist aber, dass es sowohl als echte SciFi-Geschichte funktioniert – die ihre Prämisse konsequent zuende denkt, wie es die großen Kurzgeschichten der alten SciFi-Meister taten – als auch als Metapher für menschliche Beziehungen unabhängig von jeder Technik. Scarlett Johanssons Samantha könnte genauso eine Fernbeziehungs-Freundin oder eine “out of your league” Geliebte sein. Emotional erleben hunderte Menschen auf der Erde jeden Tag das gleiche wie Theodor Twombly.

4. Nymphomaniac

Lars von Trier und die Frauen – das ist so eine Sache, zu der ich mir lieber kein Urteil erlauben würde. Wie immer ist Nymphomaniac wohl eher eine Projektion seiner eigenen Neurosen auf einen weiblichen Charakter und ich denke, so will der Film auch begriffen werden. Wofür ich Trier aber am meisten bewundere, ist seine Bereitschaft, in seinen Filmen formell “all in” zu gehen. Nymphomaniac (Teil 1 noch mehr als Teil 2) ist eine ausufernde Erzählung voller Abschweifungen, Inkonsistenzen und gestalterischer Ideen, der aber dadurch das seltene Kunststück gelingt, intellektuelle und emotionale Prozesse tatsächlich auf der Leinwand konkret zu machen und sie nicht nur unter einem Haufen Interpretationsmasse zu vergraben. Und für diese abgefuckte Direktheit verehre ich den Mann einfach.

3. Mommy

Xavier Dolans Film hat mich an einem kalten Dezemberabend mit voller Breitseite erwischt und ich kann bis heute nicht sagen, ob es meine eigene winterliche Melancholie oder die emotionale Kraft des Films waren, die mich sofort nach Verlassen des Kinos dazu brachten, Mommy sehr weit oben auf meiner Jahresliste zu platzieren. Auch hier wieder diente mir die formale Experimentierungsfreude – Bildformat als Ausdruck von emotionaler Freiheit – als Anfixpunkt und zog mich mittenhinein in eine komplexe Gefühls- und Bilderwelt voll einprägsamer Charaktere. Wie erwähnt, ich mag es halt direkt. Und ich hätte mir beinahe einen Céline-Dion-Song heruntergeladen.

© Universal Pictures Home Entertainment

12 Years a Slave

2. 12 Years a Slave

Der zeitverzögerte deutsche Verleihplan führt manchmal dazu, dass man am Anfang des Jahres einige sehr gute Filme sieht, mitansehen muss, wie sie so lange gefeiert werden, bis man sie fast wieder leid ist und dann bis Ende des Jahres Gefahr läuft, zu vergessen, dass man sie im gleichen Jahr gesehen hat wie alles, was in Cannes und danach startete. 12 Years a Slave ist so ein sehr guter Film, der gelungen zwischen Hollywood und Arthouse balanciert, eine berührende persönliche Geschichte und gleichzeitig das erschütternde Schicksal einer ganzen Bevölkerungsgruppe erzählt. Ein “wichtiger” Film, aber zum Glück darüberhinaus auch ein beeindruckendes Stück Filmkunst.

1. The Grand Budapest Hotel

Er mag nicht den jugendlichen Verve von Rushmore oder das perfekte Ensemble von The Royal Tenenbaums haben, aber ich finde, The Grand Budapest Hotel ist der beste Film, den Wes Anderson bisher gemacht hat. Gerade weil der Film sehr wenig Konkretes über Menschen, Beziehungen und unsere Welt sagen will (nicht gar nichts, aber eben auch nicht viel) und stattdessen den formellen Schrullen und spleenigen Details, auf die Anderson so steht, in vollen Zügen und ohne Reue frönen kann, mag er dem ein oder anderen flüchtig erscheinen – ich finde, es macht ihn erst so richtig grandios.

© 20th Century Fox

The Grand Budapest Hotel

“Vielleicht wird noch ein Schuh draus” – Eine epische Unterhaltung über die Hobbit-Filme

© Warner Bros.

Die Hobbit-Filme von Peter Jackson beschäftigen mich. Ich habe hier im Blog schon mehrfach über sie geschrieben, jedes Jahr auf’s Neue, weil sie einerseits die Fortschreibung des für mich wohl prägendsten Filmerlebnisses meiner Jugend sind und ein endloses Feld für Entdeckungen in Sachen Filmtechnik und Franchising. Andererseits stecken sie insgesamt irgendwie doch voller Probleme und Enttäuschungen und sind äußerst streitbar. Über diese Filme diskutiere ich am liebsten mit meinem Freund Martin Urschel, der genauso tief sowohl in Tolkiens Werken als auch in Jacksons Filmen steckt, wie ich. Martin hat in diesem Blog schon einen Gastbeitrag geschrieben und ich habe ihn zu seinem Buch über “The Wire” interviewt. Den folgenden, ziemlich epischen Dialog habe ich mit ihm via E-Mail geführt. (SPOILER für alle Hobbit-Filme und ziemlich heftiges Nerdtum voraus!)

Martin: Gerade habe ich die Extended Edition von Desolation of Smaug gesehen. Nachdem wir vor ein paar Tagen zusammen Battle of the Five Armies gesehen haben, ist es für mich interessant, zurückzugehen und die interne Logik dieser Filme nachzuvollziehen. Die Extended Versions scheinen mir die wesentlich besser balancierte und innerlich schlüssigere Version des Hobbit-Films (als ein Film mit zwei ziemlich willkürlich gesetzten Einschnitten) zu sein. Wenn man die Extended Editions im Zusammenhang ansieht, funktioniert zum Beispiel der Handlungsstrang um Dol Guldur.

In der Kinofassung wirkt Gandalfs Handlungsbogen im zweiten Film unmotiviert und letztlich unnötig, weil er nichts mit der Haupthandlung zu tun hat. Es geht los mit der Szene am Eingang zu Mirkwood, wo Gandalf eine Vision von Galadriel zu haben scheint, die ihm sagt, er soll zu den “High Fells” gehen, den Gräbern der neun Menschenkönige, die später zu den Ringgeistern werden. Diese “Vision” kommt unvermittelt und wirkt als Fremdkörper. Tatsächlich handelt es sich aber gar nicht um eine Vision oder einen telepathischen Kontakt zwischen den beiden – wie ich damals im Kino dachte – sondern um eine Erinnerung an einen Dialog zwischen Gandalf und Galadriel, der nur in der Extended Version von Teil 1 stattgefunden hat.

In der Extended Version von Teil 2 wird diese Erinnerung zudem vorbereitet durch einen Dialog zwischen Beorn und Gandalf kurz zuvor, bei dem es ebenfalls eine Erinnerungs-Rückblende gibt. So wirkt die Reise von Gandalf nicht mehr zusammenhanglos und willkürlich, sondern bietet eine Art Detektivgeschichte, die uns in die Backstory von Mittelerde und die größeren politischen Zusammenhänge der Schatzsuche von Bilbo und den Zwergen hineinführt. Im Kino fand ich Gandalfs Plot anstrengend, hier wirkt er auf mich nun reizvoll und als eine hilfreiche Erweiterung der Perspektive.

Der verschwundene Thrain

Noch wichtiger für den Gesamtzusammenhang sind die zusätzlichen Szenen zwischen Gandalf und Thorins Vater Thrain, der in Dol Guldur gefangen war. Damit wird Dol Guldur wieder an den Handlungsstrang der Zwerge angebunden und die ganze Detektivgeschichte findet in der auch schauspielerisch und emotional starken Szene zwischen Gandalf und Thrain ihren Höhepunkt. Ohne Thrain wirkt Dol Guldur wie ein Gimmick, um Sauron in Teil Zwei auftauchen zu lassen, also nur ein weiterer, für viele unnötiger Verweis auf die Lord-of-the-Rings-Filme, der nichts zum Gesamtbild beiträgt. In der Extended Version bieten diese “politischen” Elemente eine weitere Ebene des Schatzsuche-Plots, eine Bereicherung, wie ich finde.

Auch die strategischen Gespräche darüber, warum Azog die Zwerge eigentlich jagt und welche Relevanz der Erebor-Berg für Sauron im Kriegsfall hätte, stärken nicht nur den dritten Teil, sondern motivieren überhaupt erst die Handlung, der wir über so viele Stunden beiwohnen. Bei den “Extended Editions” von LOTR war es noch so, dass die zusätzlichen Szenen mal mehr, mal weniger interessante Erweiterungen, Exkurse und Hintergrundinfos zur Haupthandlung gegeben haben. Beim Hobbit sind dagegen einige wirklich zentrale Informationen in die Extended Edition ausgelagert wurden und der Kinofilm wirkt dadurch oft wie eine unmotivierte Aneinanderreihung ziemlich langer Actionszenen. Ich bin entsprechend gespannt, wie sich der Blick auf Jacksons Adaption möglicherweise noch einmal verschieben könnte, wenn wir alle drei Extended Editions vorliegen haben und das Puzzle noch mal neu und im Zusammenhang betrachten können.

© Warner Bros.

Alex: Lass mich einmal kurz meine Sicht der Dinge zusammenfassen. Die Special Extended Editions (SEE) der LOTR-Filme waren in erster Überlegung wohl tatsächlich “Bonus”-Versionen der Filme, deren Ergänzungen wenig auf die Kinofassungen zurückfielen. Tatsächlich ist es eher so, dass die Extended-Fassungen fast schon miteinander kommunizieren. Da gibt es einen Fall, den Jackson auch im Audiokommentar zu The Two Towers benennt, wo eine Szene aus der SEE nur Sinn ergibt, wenn man auch die entsprechende SEE zu Fellowship of the Ring gesehen hat, weil dort das Setup passiert (ich glaube, es ging um Aragorns Historie mit Rivendell).

Aber schon zum Zeitpunkt von Return of the King, als der Erfolg des Modells — inklusive all der Pickups und nachträglichen Ergänzungen zum Beispiel auf der VFX-Ebene, die Jackson gerne vornimmt — sich endgültig bewiesen hatte, passiert etwas mit diesen Filmen. Nicht nur, dass Return of the King eindeutig der am wenigsten ökonomisch gedrehte und inszenierte Film der Trilogie ist (in den Extras häufen sich auch dort schon die Anekdoten von Last-Minute-Fertigstellungen und Umwerfungen von lange geplanten Story Beats), er ist wohl auch der erste, in dem die SEE ein völlig anderes Biest ist als der Theatrical Cut. Szenen haben eine andere Reihenfolge, wechseln ihre Spielzeit von Tag zu Nacht und so weiter. Wobei – wahrscheinlich ging das sogar doch schon bei Towers los. Immerhin wird dort sogar bereits ein Charakter eingeführt (Denethor), der in der Kinofassung erst im dritten Teil auftaucht.

Peter Jackson, Dokumentarfilmer

Jackson hat stets betont, dass er die Theatrical Cuts – zumindest bei LOTR – für definitive Versionen hält, aber – sind wir doch mal ehrlich – wer guckt die denn überhaupt noch? Inzwischen kosten die drei SEE-Boxen im Set 40 Euro. Auf Blu-ray. Damals, als ich sie gekauft habe, hat das jede einzelne Box auf DVD gekostet. Bei den Hobbitfilmen ist das Prinzip jetzt endgültig Programm geworden. Gedreht wird, wofür Platz ist und dann scheint das ganze wie eine Art modulare Schnitzerei vor sich zu gehen. Im Desolation of Smaug-Kommentar berichtet er ja sogar davon, dass sie mit den Thrain-Szenen ihre ungeschriebenen Regeln gebrochen haben. Dadurch dass Jackson sich die Aufgabe gegeben hat, eben nicht nur den “Hobbit” zu verfilmen, sondern eigentlich “die Ereignisse, die zu jener Zeit tatsächlich stattfanden” (und aus denen der Roman “Der Hobbit” nur einen kleinen, sehr subjektiven Ausschnitt bildet), befindet er sich beinahe in der Rolle eines Dokumentarfilmers, der eben dabei war, 400 Stunden Material hat und daraus jetzt im Nachhinein eine Geschichte bauen muss.

Da ist durchaus auch eine interessante Parallele zu Tolkien, der ja auch immer den Mantel des Chronisten und “Übersetzers” und nicht des Romanautoren trug. Mit all der Arbeit, die Jacksons Team in Designs, Sets (ob real oder virtuell) und Charakterhintergründe steckt, ist der Film also auch nur ein Ausschnitt des quasi-realen Film-Mittelerdes. Dort scheint die Geschichte sich eigentlich in Beinahe-Echtzeit zu entfalten und die Chronik dessen wären dann die Extended Editions, während die Kinoversionen nur verkürzte und geraffte Darstellungen dessen sind, was wirklich passiert ist. Ich hab mir schon während unserer Vorführung von Battle of the Five Armies überlegt, ob man überhaupt noch von einer Tolkien-Adaption sprechen kann oder ob Jackson nicht längst sein eigenes Mittelerde-Erlebnis verfilmt. Was meinst du?

Martin: Eine Tolkien-Adaption ist es schon, weil das meiste Material (außer Tauriel, und sogar die in ihren Themen) von Tolkien stammt und das zusätzliche Material dafür genutzt wird, die Themen des Buches auszubuchstabieren. Mich interessiert dabei, warum welches zusätzliche Material eingefügt wurde und was sich dadurch an der Geschichte verschiebt. Die Klischee-Meinung dazu ist ja, dass Jackson diese Elemente aus dem Anhang aus den LOTR-Büchern eingefügt habe, um die Hobbitadaption an die LOTR-Filme anzugleichen in ihrem Stil und Ton. Das ist sicher auch nicht falsch, aber mittlerweile glaube ich, dass diese Szenen mehr bringen als nur zu betonen, dass die beiden Geschichten zusammenhängen.

Erweiterung der filmischen Landkarte

Sicherlich bewegt sich Jackson recht frei durch die Welt von Mittelerde, nicht nur auf den Wegen, die das „Hobbit“-Buch bietet, sondern er macht Exkursionen und erkundet die Nachbarschaft. Wenn er uns im dritten Film Angmar zeigt durch die Augen von Tauriel und Legolas, dann erweitert das unsere filmische Landkarte von Mittelerde, aber es gibt der ursprünglichen Hobbit-Geschichte auch eine neue Resonanz: Jackson und Co. stellen die Frage, warum die Zwerge sich auf Schatzsuche begeben, warum Gandalf sie darin unterstützt (obwohl das Projekt der Zwerge gierig erscheint, von Anfang an), und warum sie dafür ausgerechnet einen Hobbit mitnehmen, der augenscheinlich so ungeeignet für den Job wirkt.

Im Buch sind das einfach märchenhafte Setzungen, da gibt es erst mal gar nichts zu erklären. Die Drehbuchautor_innen dagegen suchen nach einer Antwort, die innerhalb der Welt diese Entscheidungen realistisch begründen kann, und finden Ansätze dazu in den Anhängen von LOTR. Offenbar war auch Tolkien selbst nicht restlos zufrieden damit, dass seine Hobbit-Geschichte „von hinten her betrachtet“ nur teilweise nachvollziehbar ist, also aus Perspektive von den Ereignissen in LOTR. Aber ich glaube, dass die Hobbitadaption nicht nur das Buch vom Ende her liest, sondern dass die Filmemacher die Chance nutzen, auch die LOTR-Filme noch mal vom Beginn her mit einem anderen Rahmen zu versehen. Die Rolle von Gandalf, Galadriel und Saruman im weiteren politischen Gefüge von Mittelerde wird klarer sichtbar, auch die verschiedenen Haltungen, die sie einnehmen. Das ist, finde ich, ein Mehrwert.

Alex: Ich würde dem zwar grundsätzlich zustimmen, aber das ist genau der Grund, warum ich nicht mehr von einer Buchadaption spreche sondern von einer Filmversion der “Historie” von Mittelerde zu dieser Zeit. Jackson betont regelmäßig, dass er am Ende (also jetzt) gerne eine einzige sechsteilige Saga hätte, die eine fortlaufende Geschichte erzählt, aber das ist immer ein Trugschluss, wenn man ein “Prequel” macht – also eine Geschichte, die zeitlich nach einem Urtext entsteht aber zeitlich vor diesem angesiedelt ist. Bei den Büchern ist “The Hobbit” (1937) kein Prequel zu “The Lord of the Rings” (1954), sondern “The Lord of the Rings” ist das Sequel zu “The Hobbit”. Es entwickelt die Themen und Figuren aus dem “Hobbit” weiter und erweitert ihren Horizont. Und deswegen ist es auch passend, das “The Hobbit” ein so viel unschuldigeren Ton hat als “Rings” – völlig unabhängig davon, ob Tolkien die Historie der Welt eventuell schon zuvor entworfen hatte. Mittelerde war zu diesem Zeitpunkt noch nicht so tief in Chaos und Verderben gestürzt wie zum Ende des dritten Zeitalters. Die Dunkelheit zog erst auf.

Die Unschuld ist verloren

Bei Jackson geht diese Unschuld, trotz aller Bemühungen verloren, weil er eben die LOTR-Filme bereits als Blaupause vor sich hat. Die Hobbit-Filme können nicht unschuldiger oder primitiver sein, allein schon weil sich die Technik weiterentwickelt hat und Jackson sich als Filmemacher verändert hat. Und deswegen leiden eben auch die Hobbit-Filme unweigerlich an Prequelitis, an Bezügen auf Geschehnisse, von denen die Figuren der Geschichte noch nichts wissen können, wir aber schon. Manchmal kann man das mit etwas komischer dramatischer Ironie vom Tisch wischen, aber gelegentlich lehnt sich Jackson auch hinein.

© Warner Bros.

Martin: Es gibt Momente von „Prequelitis“ in diesen Filmen, die mich nerven, etwa wenn Tauriel Kilis Verletzung mit Athelas-Kraut heilt oder wenn Jackson in Bree auch dieses Mal in eine Möhre beißt. Als wollten Jackson und seine Leute sagen: “Schaut mal, wisst ihr noch?“ – Und das ist unnötig, klar wissen wir noch. Dieses penetrante Winken mit dem Zaunpfahl an solchen Stellen nervt.

Ein bisschen so ging es mir auch am Ende von Battle, wenn Legolas zu dem Sohn von Arathorn geschickt wird, von dem wir alle kapieren, dass es Aragorn ist. War es nötig, das so deutlich zu machen? Das ist eine gute Szene, um zu zeigen, was für mich diese Prequels ausmacht: Ja, mich nervt der zu deutliche Verweis auf Aragorn. Aber der Gedanke dahinter ist ein guter, denn indem Legolas am Ende auf Wanderschaft geht und nach den Dunedain sucht, erhält die Begrüßung von Aragorn und Legolas in Fellowship eine andere Bedeutung. Die Beziehung der Figuren wird eine tiefere, nachvollziehbare. So ist es auch zwischen Galadriel, Saruman und Gandalf, zwischen Elrond und Bilbo. Und auch einige Themen der LOTR-Filme werden von den Hobbitfilmen stärker in den Mittelpunkt gerückt. Sauron ist eben keine konservative Metapher für Industrialisierung, sondern wird in der Geschichte mit Gier und Versklavung in Verbindung gebracht.

Die eigentlichen Helden in Tolkiens beiden zentralen Romanen sind keine nordischen Recken, sondern postmoderne Anti-Helden, Hobbits. Und da hilft Jacksons Hobbit-Adaption als Interpretationswegweiser, wenn Gandalf begründet, warum er Bilbo mitgenommen hat: „Saruman believes that it is only great power that can hold evil at check, but that is not what I found. I found that it’s the small things, everyday deeds of ordinary folk that keeps the darkness at bay, simple acts of of kindness and love.“

Es ist eben nicht eine feudale Gesellschaft voller hierarchischer Ordnungen zwischen Edlen und Arbeitern, zwischen „besseren und schlechteren Rassen“, auch wenn es feudale Gesellschaften in Mittelerde gibt, auch wenn es Hierarchien gibt und manche rassistische Tendenzen, aber die Art, in der Tolkien die Geschichte erzählt unterläuft diese antimodernen Elemente: Die Hobbits stehen im Zentrum, diese genießerischen, friedvollen und demokratisch organisierten, kleinwüchsigen Hoffnungsträger. Gerade Bilbos Weigerung, sich einer der kämpfenden Parteien so ganz anzuschließen, weil er sie einfach alle mag, löst den Konflikt zwischen den freien Völkern. Das ist bei Tolkien so und das bringen die Filmemacher auf eine Weise zum Vorschein, die auch in den LOTR-Filmen nachhallt, wenn man die Filme in chronologischer Ordnung schaut. Ich denke, bei den Jackson-Tolkien-Filmen geht das. Bei Star Wars würde ich nicht empfehlen, mit Episode 1 anzufangen, weil sonst wesentliche Pointen vermasselt werden.

Die Möglichkeit des Remix

Mich beschäftigt an dieser ganzen Hobbit-Sache glaube ich, dass man durch die intensiven Einblicke in die Entstehung des Films durch die Dokus, und durch den Remix der Szenen in der Extended Edition immer das Gefühl haben kann, “vielleicht wird da noch ein Schuh draus”, vielleicht lässt sich das Scheitern der Ambitioniertheit dieser Adaption ja noch irgendwie reparieren, indem eine weitere alternative Fassung entsteht. Die Extended Editions sind für mich, wie gesagt, schon ein Schritt in diese Richtung. Und ich bin wohl in diesem Gefühl nicht alleine, wenn man sich Rufe nach einem radikal kürzeren Fan-Edit wie bei den Star Wars Prequels ansieht, oder den Fantrailer, der Szenen aus allen drei Filmen zusammenschneidet. Nur, dass ich mir bei Jackson sogar vorstellen kann, dass er selbst noch einen Trilogie-Remix anfertigt, so er alle drei Filme teils neu zusammenschneidet. Vielleicht verstärkt die Möglichkeit des Remix – für mich – auch das Gefühl des herzzerbrechenden Scheiterns eines Projektes, das ich seit seinen Anfängen fasziniert verfolge.

Alex: Ich glaube nicht, dass Jackson darauf tatsächlich noch Lust hat, wenn er die ganze Sache hinter sich gelassen hat. Klar ist jedenfalls, dass die Extended Editions auch deswegen besser fließen, weil sie der Struktur der Erzählung besser entsprechen. Obwohl die Hobbit-Filme sehr lang sind, sind sie eben nicht lang genug, um die ganze Tiefe einzufangen, die Jackson und seine Untertanen dem Stoff gegeben haben (nach Unexpected Journey habe ich das mal “barock” genannt, Alan Scherstuhl nennt es in der “Village Voice” treffend “großzügig“). Und leider sind es häufig die Charaktermomente und nicht die Kampfsequenzen, die für’s Kino weichen müssen.

© Warner Bros.

Martin: Was ich nach Battle of the Five Armies auch fand, war, dass nun offensichtlich wird, inwiefern der Hobbit eigentlich in zwei Teilen angelegt ist. Dass diese Zweiteiler-Struktur zerbrochen wurde, führt dazu, dass die größten Stärken der Adaption stark in den Hintergrund fallen, und für Kinozuschauer fast unsichtbar werden. Mir ist schon 2013 im Kino aufgefallen, dass der Anfang von Desolation of Smaug einen anderen Rhythmus und einen anderen, bunteren Look hat, als alles, was ab der Laketown-Sequenz kommt.

Themen eines Zweiteilers

Im Audiokommentar beschreibt Jackson nun genau den Punkt, an dem ursprünglich der Hobbit als Zweiteiler unterbrochen worden wäre: Bei dem ersten Auftritt von Bard. Teil 2 wäre mit der Überfahrt nach Laketown losgegangen. Ab hier hat Desolation einen viel dunkleren Ton und eine gradlinigere Struktur. Das Traurige ist, dass bei der Ankunft in Laketown viele interessante Bögen eröffnet werden, die dann in dem frustrierenden Cliffhanger am Ende des Films abgebrochen werden. Erst im direkten Zusammenspiel von Desolation und Battle wird sichtbar, wie sich die Dynamik zwischen Tauriel und Kili, Bard, dem Bösewicht Alfrid und Bards Kindern einlöst. Die Themen “Gier” und “Liebe” tauchen erst mit Bard auf und werden in einem recht schönen Bogen durchgeführt innerhalb dessen, was einmal “There and Back Again”, also der zweite Teil des Zweiteilers gewesen wäre.

Vor der Ankunft in Laketown waren die Themen “Zuhause” und “Verantwortung”, von Bilbos schwerfälliger Entscheidung aus dem geliebten Heim wegzugehen, über die Heimatlosigkeit der Zwerge bis hin zu Thranduil und den Waldelben, die sich in ihrer Höhle einigeln und sich nicht verantwortlich fühlen wollen für die Welt um sie herum. Am Ende des ursprünglichen ersten Teils hat sich Bilbo zum gleichberechtigten, erwachseneren Teilnehmer der Gemeinschaft entwickelt und ist nicht nur anerkannt, sondern auch selbstbewusst. Im zweiten Teil spiegelt sich Gier an den Figuren des Master of Laketown, Smaug, Thranduil, Alfrid und natürlich Thorin.

Diese thematischen Bögen wurden durch die Dreiteilung zerbrochen. Man ist als Zuschauer unzufrieden, weil man spürt, dass die Brüche an unorganischen Punkten kommen. Keiner der Kinofilme hat in sich runde Bögen. Die Stärken der Adaption von Jackson treten dadurch in den Hintergrund: Unexpected Journey wirkt wie eine zahmere und langsamere Variante von Fellowship, weil die neuen Themen nicht klar hervortreten. Die bemerkenswerten Designs und das elegant-beiläufige Worldbuilding von Laketown und der unterirdischen Stadt im Erebor fallen zurück hinter einer unbalancierten, ungleichmäßigen Struktur von Desolation, die mit einem unbefriedigenden Cliffhanger abrupt abbricht.

Battle hat Schwierigkeiten, die vielen offenen Handlungsfäden wieder einzusammeln. So bleibt zumindest in der Kinofassung von Battle dann auch einfach unbeantwortet, wo Legolas eigentlich am Ende von Desolation hingeritten ist. Die Logik des Zweiteilers drückt gegen die Dreiteilung, sodass die Filme im Kino ihre Qualitäten gar nicht entfalten. Andererseits haben die vorliegenden Filme auch eine Reihe von Schwächen, die sich auch im Zusammenhang nicht erledigen werden. Etwa die Entscheidung, auf Miniaturen und reale Monster-Make-Ups zu verzichten und stattdessen über weite Strecken Räume und Figuren mit CGI zu animieren.

Alex: Nach Battle fällt es wirklich deutlicher auf als je zuvor. Eigentlich sind es nach wie vor zwei Filme, zwei viereinhalbstündige vielleicht, aber während die erste, neu gefundende Bruchstelle am Ende von Unexpected Journey noch einigermaßen funktioniert, hat Desolation jetzt kein richtiges Ende und Battle keinen richtigen Anfang. Die Trennung geht mitten durch einen echten Höhepunkt. Im Zeitalter der finalen Zweiteiler (Harry Potter, Hunger Games, Twilight) ist das ja schon fast nichts besonderes mehr, aber es wird halt nicht so verkauft, sondern als Trilogie in drei Kapiteln, die es eindeutig nicht ist.

Nicht Fisch, nicht Fleisch

Ich könnte mir stattdessen problemlos die SEEs in neun oder zehn Kapiteln vorstellen, wie die Season einer HBO-Serie – aber ich hätte wirklich gerne einen zweiteiligen Hobbit gesehen. Wie du schon sagst hätte ein Diptychon wirklich interessante Gegenüberstellungen erlaubt – zwei große Dialogszenen für den Meisterdieb Bilbo (Gollum und Smaug), zwei sehr unterschiedliche Stimmungen, ein Reisefilm und ein Kriegsfilm, ein Film der Fabelwesen und ein Film der Menschen und und und. Stattdessen haben wir jetzt drei Filme, die nicht Fisch, nicht Fleisch sind und halt doch nur zusammen einen Sinn ergeben.

Die ästhetische Frage, die du zum Ende aufwirfst, ist eine ganz andere. Ich habe im letzten Dezember schon einmal darüber gebloggt, was hier meiner Ansicht nach schiefgelaufen ist und was ja selbst Senior VFX Supervisor Joe Letteri benennt. Die Extras zu Desolation bestätigen einen erneut in diese Ansicht. Obwohl Jackson noch immer sehr viel real baut (das Set der Seestadt ist ein Faszinosum, genauso wie der Aufwand, der für Smaugs Höhle betrieben wurde) bilden die Sets, bei all dem Aufwand, der hineingesteckt wird, halt doch nur eine Art Grundstock für die Welt, die später im Computer entstehen wird – und die ja sogar oft “übermalt” wird, weil es im Endeffekt halt einfacher ist, das ganze Bild aus Bits zu bauen, als es nur zu ergänzen (übrigens nicht nur bei Jackson – ähnliche Geschichten habe ich auch von anderen VFX-Teams, zum Beispiel bei den Avengers gehört).

© Warner Bros.

Und obwohl ich ja grundsätzlich ein Fan von digitalen Effekten bin und sogar über Filme, die in ihrer digitalen Überhöhung noch viel weiter gehen, einst eine glühende Magisterarbeit geschrieben habe, passt es mir hier nicht in den Kram. Gerade dadurch, dass Mittelerde in Jacksons Filmen so einen fast dokumentarischen Charakter hat, wünscht man den Filmen mehr Verhaftung im Realen. Miniaturen gingen ja wohl durch das 3D-Verfahren nicht mehr, aber auch bei Creature Effects setzen die Hobbits ja zigmal mehr auf digitale Charaktere als LOTR – Azog ist das beste Beispiel. Und manchmal hat man das Gefühl, es wird dann auch als Shortcut benutzt, zum Beispiel bei diesen merkwürdigen Bergziegen, mit denen die Zwerge in Battle plötzlich aus dem Nichts einen Berg erklimmen. Jackson macht das zum Glück noch seltener als etwa George Lucas in den Star-Wars-Prequels, aber ein bisschen ist er dem digitalen Teufel schon verfallen.

Der alte Streit über HFR 3D

Martin: Ich glaube übrigens, dass die ästhetischen Probleme schon mit der Entscheidung losgingen, in 3D und HFR zu drehen. Das bringt einen ganzen Haufen Probleme mit sich. Gerade in der extrem zeitknappen Situation vor dem Drehstart des Hobbits wäre es sicher klüger gewesen, sich auf andere Punkte zu konzentrieren als auf das Projekt, kameratechnischen Fortschritt voranzutreiben. Der Look der Kombination aus Digitalkamera, 3D und HFR ist ein ganz anderer als bei den LOTR-Filmen und auch wenn der Look an sich interessant ist, passt er nicht zu Mittelerde. Die phantastische Welt verträgt diese ultrahochauflösenden Bilder nicht. Zum einen weil sie viel weniger ‚verzaubert‘ wirken, zum anderen, weil man plötzlich die Gumminasen des Make-Ups, die Perücken, die gebauten Kulissen usw. knallhart sieht. Entweder man hätte sich in all diesen Punkten zu nie gekannten neuen Höhen an Genauigkeit und Realismus im Maskendesign, den Effekten usw. aufschwingen müssen, oder man bliebe eben besser beim viel gnädigeren Blur des Filmmaterials. So wirken die Filme im Kino viel künstlicher als damals die LOTR-Filme und auch die digital animierten Elemente sehen in dieser wahnsinnigen Schärfe viel schneller billig aus. Auch das ist etwas, was ich beim DVD- und nun Blu-Ray-Ansehen bemerke: Im Heimkino, in 2D und niedrigerer Auflösung wirken die Filme weniger künstlich, umstandsloser.

Alex: Entweder ich bin besser darin als andere, diese angebliche Lookverschiebung zu verdrängen oder andere sehen etwas, was sie sehen möchten. Ich habe mir ja extra vor Battle noch einmal Desolation in HFR 3D angeschaut und ich fand ihn vom Look absolut prima und stringent, weder billig noch zu hoch aufgelöst, dafür aber eben deutlich angenehmer für die Augen. Bei Battle fielen mir die negativen Aspekte zum ersten Mal so richtig auf, etwa in der Anfangsszene des Drachenangriffs, wo man einfach pausenlos sah, dass hier Figuren vor Green Screen mit den Hintergründen zusammengeklebt wurden. Und die Szenen ohne viel Tricktechnik, etwa am Strand nach dem Feuersturm, sahen tatsächlich ein bisschen nach Videoästhetik aus – aber ich vermute, dass das eine bewusste Entscheidung war.

Viel mehr ärgert mich, dass die Filme zwar mit hohem Aufwand in 3D gedreht wurden, aber ihr Tiefenbudget überhaupt nicht ausschöpfen. Sie wirken insgesamt erstaunlich flach, obwohl sie das nun wirklich nicht müssten. Zum Beispiel finde ich nicht, dass man die wahre Dimension des Schlachtfeldes während der titelgebenden Battle of the Five Armies auch in 3D nicht wirklich ahnt, zumindest ging es mir so. Ich habe mindestens zwei Filme dieses Jahr gesehen, bei denen trotz anderer Schwächen wenigstens das 3D richtig Spaß gemacht hat (Jeunets T. S. Spivot und Das magische Haus) und ich nehme es Jackson ein bisschen übel, dass er diese Chance verpasst hat. Vielleicht war er nach Unexpected Journey auch ein wenig ernüchtert, was die Resonanz auf HFR 3D anging oder hat auch vom Studio die Anweisung bekommen, dort nicht mehr zu viel Ressourcen hineinzustecken. Genau wie beim Erzählerischen auch werden die Filme eben doch einen großen Teil ihres Lebens auf Heimvideomedien verbringen – und dann optimiert man sie eben von vornherein eher dafür.

Der Untergang eines Pioniers

Mit LOTR war Jackson Pionier in Sachen Bildgestaltung, mit dem Hobbit wollte er wieder einer sein. Ich glaube, er ist diesmal gößtenteils gescheitert aber es ist ihm dafür, vielleicht unfreiwillig, auf andere Weise gelungen, eben mit diesen modularen Erzählmodi, die wir weiter oben diskutiert haben. Würdest du dem zustimmen?

Martin: Ich fürchte, bisher sind die Hobbit-Filme wirklich keine Pionierarbeit. Ob sich das modulare Erzählen in parallel existierenden Versionen im Nachhinein als die Errungenschaft dieser Filme herausstellen wird, bleibt erstmal abzuwarten. Ich entdecke gerade überhaupt erst die verdeckten Qualitäten dieser Filme, nachdem ich im Kino zweimal ziemlich enttäuscht war und zweimal von den SEEs positiv überrascht wurde. Ich bin gespannt, ob andere auch diese Entdeckung machen werden. Manche Länge und mancher Exkurs diese Filme wirkt für mich jetzt nicht mehr als bloßer Exzess, sondern fügt sich ein in ein Gesamtbild, das mir gefällt.

© Warner Bros.

Schon bei LOTR hat Jackson etabliert, dass er nicht eine einzige Idealversion der Geschichte zu schöpfen versucht. Bei einem seiner ersten Interviews mit “Ain’t it Cool News” (Link leider nicht mehr leicht ergooglebar – Alex) sagte Jackson schon während der Dreharbeiten zu LOTR, dass er seine Filme nur als eine Version, eine Deutung sieht. Das ist anders als manche Adaptionen, die sich beste Mühe geben, das Buch in sich aufzunehmen und seine Position einzunehmen – Stanley Kubricks Romanadaptionen waren so, perfektionistisch und vereinnehmend. Wenn Kubrick ein Buch verfilmt, bringt er es zum Verschwinden. Aber Peter Jackson stellt eine mögliche Deutung daneben und durch die verschiedenen Schnittfassungen zeigt er gleich noch, dass es auch von dieser Deutung keine eine, definitive Version gibt, sondern von Anfang an verschiedene Remixes in verschiedenen Medien. Das ist also auch nicht unbedingt etwas Neues der Hobbitfilme, sondern scheint eher in der Haltung von Jackson als Filmemacher zu liegen. Als er seinen King Kong-Film herausgebracht hat, sagte er auch immer wieder, er sei gespannt, wie lange es dauert, bis jemand anderes die nächste Version von der Geschichte herausbringt. Jackson sucht nicht die eine perfekte, letztgültige Version, sondern er bietet uns seine persönliche Auslegung einer klassischen Geschichte, gleich mehrmals spielerisch und verschieden zusammengesetzt.

Nur, dass bei den Hobbitfilmen die einzelnen Filme nicht alleine stehen können, ohne schlechter auszusehen als sie eigentlich sind. Wenn sie Pionierarbeit leisten, dann eher in ihrem Verständnis von Worldbuilding, diesem Angang, von dem du sagst, das ist gar keine Tolkienadaption mehr – was ich immer noch finde, trotzdem. Aber ob nun Tolkienadaption oder völlig losgelöstes Jackson-Fest: Wer die Hobbitfilme entdecken will, muss wohl noch mehr Liebhaber sein als bei den LOTR-Filmen, weil man sich viel Zeit nehmen muss für die Langfassungen, in denen sich das Puzzle zusammensetzen lässt. Sie sind Exzess und Spielerei, Vertiefung und Erweiterung einer Welt, ein verrückter Liebesbrief an Mittelerde und ein Genre, technisches und ästhetisches Experiment mit Gewinnen und Verlusten, natürlich auch ein riesen Geschäft, das sich trotz all des sonderbaren Exzesses finanziell rechnet. Damit sind sie auf jeden Fall etwas Besonderes. Etwas Vergleichbares werden wir, glaube ich, so schnell nicht noch mal sehen.

Wie komponiert man einen Found-Footage-Film? – Interview mit Earth to Echo Editor Carsten Kurpanek

© Ascot Elite

Wie knuddelig kann ein Roboter sein? Einige Filme haben über die Jahre versucht, darauf die Antwort “sehr” zu geben – zuletzt und am prominentesten vermutlich Pixars Wall-E. Earth to Echo steht somit in einer lebendigen Tradition, und weil Echo, die eulenähnliche Titelfigur aus Metall, außerdem ein Außerirdischer ist, kann man E.T. gleich noch als zweiten Geburtshelfer dazupacken.

In der Tat folgt der Film, der in Deutschland diese Woche direkt auf Blu-ray und DVD erscheint, dem groben Handlungsmuster von E.T. fast eins zu eins: Kinder finden Außerirdischen, der wieder nach Hause möchte; Regierung jagt Kinder; Außerirdischer setzt “magische” Fähigkeiten ein, um Kindern zu helfen. Wer mag, kann dazu “Alles schon gesehen!” rufen, aber Earth to Echo aktualisiert das Thema gekonnt, indem er den Film zur Abwechslung aus “Found Footage” und Google Earth-Grafiken zusammenklebt und generell Technik eine große Rolle spielen lässt. Herzstück des Films ist eine Schnitzeljagd, die auch dann Spaß macht, wenn alles etwas vertraut erscheint.

Von Mainz nach L.A.

Carsten Kurpanek hat mit mir in Mainz Filmwissenschaft studiert, doch während bei mir immer klar war, dass ich zufrieden damit sein würde, über Filme zu schreiben, statt selbst welche zu machen (Die einzige Kopie meines Kurzfilmversuchs Der Tod hat ein Klemmbrett liegt unvollendet und gut versteckt in einem Bankschließfach in der Schweiz), hat sich Carsten spätestens nach einem Auslandsaufenthalt an der Ball State in Indiana in die Idee verbissen, in die Praxis zu wechseln.

Weil er trotz einiger Erfolge mit Kurzfilmen ahnte, dass er in Deutschland ohne formale Ausbildung nur schwer einen Fuß auf den Boden bekommen würde, entschied er sich, an die Quelle zu gehen und zog nach dem Studium in die USA. Mit Talent und Hartnäckigkeit hat er sich in Hollywood in relativ kurzer Zeit vom Hiwi in einer Produktionsfirma zum Feature Editor hochgearbeitet. Eine Tatsache, die mich immer noch manchmal staunen lässt. Am baffsten war ich sicher, als The Girl with the Dragon Tattoo vor zwei Jahren den Oscar für den besten Schnitt gewann und ich wusste, dass Carsten dort Assistant Editor war.

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Als Carstens Freund verfolge ich seine Arbeit so gut ich kann, und ab und zu muss er dann mal als Interviewpartner herhalten – so wie jetzt. Earth to Echo war Carstens erster Studiofilm, bei dem er tatsächlich als einer von zwei Editoren im Abspann steht. Aus New Orleans, wo er bereits am nächsten Projekt arbeitet, hat er mir per E-Mail auf meine Fragen geantwortet.

Die letzten beiden Male, die ich im Kino gejubelt habe, weil dein Name auf der Leinwand stand, war bei World War Z, wo du Assistant Editor warst. Wie hast du den Weg zu “Earth to Echo” gefunden?

Nach World War Z hatte ich das Glück, meinen ersten Spielfilm als Editor zu schneiden: Squatters vom deutschen Regisseur Martin Weisz. Danach ging es weiter mit ein paar Independent Filmen, Diving Normal und Fort Bliss. Ich hatte also schon ein paar Credits als der Anruf für Earth To Echo kam. Zudem bin ich seit etwa sechs Jahren mit dem Regisseur befreundet und habe einige seiner Kurzprojekte geschnitten (“Zombie Roadkill”, “Ham Sandwich” etc.).

Du bist “Co-Editor” und teilst dir den Credit mit deinem Kollegen Crispin Struthers. Was ist die Geschichte dazu?

Crispin hatte gerade Silver Linings Playbook geschnitten als Earth To Echo in Produktion ging. Earth To Echo war zu Beginn ja eine Disneyproduktion und wurde später an Relativity verkauft, und Studios gehen lieber auf Nummer sicher. Ich hatte zu dem Zeitpunkt nur Squatters geschnitten. Glücklicherweise für mich wurde Crispin dann angeboten, American Hustle zu schneiden und zu sowas sagt man nicht nein. Er er hat also den Film vorzeitig verlassen und diesmal war der Regisseur Dave Green in der Lage, das Studio und die Produzenten zu überreden, mich einzustellen. Das war im Frühjahr 2013 und ich war bis zum Release in den USA im Juli 2014 am Projekt beteiligt.

Hat es dich angesprochen, dass die Hauptfigur im Grunde auch ein Filmemacher und Editor ist?

Ich wünsche mir oft, wir hätten als Kinder die Möglichkeiten gehabt, Filme zu drehen. Mir wäre das damals nie eingefallen. Und die digitale Revolution hat es Kids heutzutage viel leichter gemacht, audio-visuell kreativ zu sein. Earth To Echo ist definitiv für diese “Generation YouTube”. Einen Filmemacher als Hauptfigur zu haben (Spoiler Alert: der das Ende des Films überlebt), erlaubt einen stilistisch ein paar Freiheiten mit dem Found-Footage-Genre zu haben: wir haben zum Beispiel Voice Over und Score im Film.

Szenen nachdrehen mit dem iPhone

Das Found-Footage-Format hat uns gewissen kreative Freiheiten in der Post ermöglicht, die man in traditionellen Spielfilme nicht hat. Zum Beispiel ist Bildqualität nicht unbedingt ein Faktor. Wir waren in der Lage sehr spontan Szenen nachzudrehen und haben dabei nur ein iPhone verwendet. Da die Kamera oft eine POV ist und man die Kids nicht ständig im Bild sieht, hat man dadurch auch unglaublich viel Freiheit den Dialog im Nachhinein zu verändern. Der Film hat sehr viel ADR (additional dialog recording). Das wichtigste Stilmittel im Schnitt hinsichtlich eines Found-Footage-Films ist der Jump Cut.

Habt ihr euch Regeln aufgestellt, wie ihr diese Stilmittel einsetzen könnt? Man sieht ja zum Beispiel auch Einstellungen aus Echos Perspektive, die die Kids gar nicht als Video haben können. Habt ihr euch dazu eine Erklärung ausgedacht?

Wir hatten gewisse Regeln. Zum Beispiel habe ich vermieden Einstellungen zusammenzuschneiden, die das Gefühl von “Coverage” erwecken, also Aktion-Reaktion im Bild, vor allen in Dialogszenen. In der Diner-Szene haben wir die Regel ein, zwei Mal gebrochen. Das schaut dann fast zu “normal” aus, zu sehr nach Spielfilm – es schadet der Authentizität eines Found-Footage-Films. Ein Problem im Genre ist oft, dass der Kamera normalerweise die Batterie ausgehen würde, der Speicher nach ein paar Stunden Abenteuer voll ist und der Ton sehr mies wäre. Jeder Found-Footage-Film versucht, dieses Problem einfach unter den Tisch zu kehren. Wir sind da keine wirkliche Ausnahme. Wir erklären, dass Echo die Mobiltelefone quasi hijackt. Er gibt ihnen unbegrenzten Strom. Wie er seine persönlichen Videoaufzeichnungen auf den Telefonen der Kids speichern konnte, ist ein Geheimnis, das nur eine Fortsetzung lösen könnte.

Wie lief die Zusammenarbeit mit Regisseur Dave Green allgemein? War ja sein erster Langfilm.

Dave und ich haben ein halbes Dutzend Kurzprojekte zusammen fertiggestellt. Wir sind schon seit 2008 befreundet und wir verstehen uns sehr gut privat und beruflich. Dave ist sehr involviert im Schnitt. Normalerweise schneide ich eine Version ohne seinen Einfluss, dann probieren wir mehrere Alternativen aus, bis wir entweder etwas Besseres gefunden haben oder überzeugt sind, dass die aktuelle Version die beste ist. Mein Job ist, Daves Ideen und seine Vision umzusetzen, so gut ich kann. Glücklicherweise schätzt er auch meine Meinung und es ist ihm wichtig, dass ich am Ende auch mit dem Schnitt zufrieden bin.

© Ascot Elite

Am Ende hauptsächlich VFX Reviews

Wie lief die Zusammenarbeit mit dem Visual Effects-Team? Habt ihr die effektlastigen Sequenzen zuerst geschnitten und übergeben? Gab es Storyboards? Ich kann mir so schwer vorstellen, wie man bei so einem Film die VFX plant. Da muss die Zusammenarbeit mit dem Editorial doch bestimmt sehr eng sein.

Wir hatten Storyboards, Pre-Viz [bewegte Prävisualisierung, zum Beispiel mit groben Computeranimationen, -Alex] und auch etwas Post-Viz [Grobe Vorvisualisierung der geplanten Effekte im gedrehten Material -Alex]. Die schwersten Szenen waren der Lastwagen und das Raumschiff. Wir hatten auch zwei tolle Assistant Editors, Matt Sweat und Justin Yates, die in After Effects sehr gut sind und viele “temp” VFX erstellt haben, die dem VFX-Team als gute Vorlage gedient haben. Wir hatten etwa hundert VFX Shots und fast ein halbes Dutzend VFX-Firmen, die für uns sehr, sehr lange Tage und Nächte gearbeitet haben. Gegen Ende eines Projektes, wenn der Schnitt fast fertig ist, besteht der halbe Tag aus VFX Reviews. Wir schauen uns die neuesten Versionen an und geben Feedback.

Was war deine schwierigste Szene als Editor und welche kreative Lösung hast du dafür gefunden?

Die Opening Montage war die Szene an der ich am meisten gearbeitet habe. Um die hundert Versionen habe ich dafür erstellt, wenn auch zum Teil nur leichte Varianten. Wir haben in Testvorführungen oft die Kritik bekommen, dass der Beginn des Films zu langsam ist. Die Lösung war, das Interview mit Munch und Alex voranzustellen. Es hat ein paar humorvolle Momente was den Zuschauern die Erlaubnis gibt zu lachen. Wenn dann die sehr traurige Opening Montage anfängt, fühlt es sich nicht mehr ganz so schwer an.

Ich fand den Film wirklich knuffig. Die Verwandtschaft mit E.T. ist natürlich unübersehbar. Du magst den Film ja sehr gerne, soviel ich weiß. Ist das etwas, worüber ihr im Schneideraum gesprochen habt?

Natürlich. E.T. und Goonies wurden ständig als Referenz herangezogen. Wir lieben diese Filme. Wir sind mit ihnen aufgewachsen. Earth To Echo ist definitiv ein von den Amblin-Filmen der 80er inspirierter Kids-Adventure Film – ein Film, der die Kinder erst nimmt ohne dabei ein ernster Film zu sein. Manche Kritiker sahen nur einen Abklatsch, ich würde es Hommage nennen. Der Film ist zudem stilistisch so anders als .

Was hast du getrieben, seit Earth to Echo fertig ist und was sind deine nächsten Projekte?

Ich habe im Sommer ein paar Kurzfilme gedreht, Werbung und Musikvideos geschnitten – während ich darauf gewartet habe, meinen nächsten Spielfilm zu schneiden: Ich bin gerade in New Orleans, wo das Kickboxer Remake mit Jean Claude Van Damme gedreht wird – und ich habe das Glück, den Film mit meinem Freund und Kollegen Chris A. Peterson zusammen schneiden zu dürfen. Der zwölf Jahre alte Carsten ist überglücklich. Und ich bin es auch.

Earth to Echo ist seit 2. Dezember auf Blu-ray und DVD erhältlich

Film-Blog-Adventskalender – 4 – Henning Hönicke

Das vierte Türchen ist ein Wurmloch, das wieder zurück in dieses Blog führt. Unser heutiger Adventskalender-Wichtel, Henning Hönicke, ist Redakteur bei “Ygritte online”, Verzeihung, “Brigitte online”, und hat bisher nur ein Mikroblog unter twitter.com/hhoenicke, in das der Geschenktipp platzmäßig nicht so gut hineingepast hätte. Henning freut sich über Links zu Abrams-Trailer-Remixen und Lightsaber-Memes und hat mir versprochen, sich sehr bald ein Makro-Blog zuzulegen.

Es ist mal wieder soweit: Ein neuer Star-Wars-Trailer taucht auf, und die halbe Welt zebricht sich den Kopf, ob das jetzt gut oder schlecht ist. Immerhin wurden zu viele Fans schon einmal aufs Härteste von dem „Es gibt wieder Star Wars“-Versprechen enttäuscht (oder auch nicht, je nach Alter). In der endlosen Debatte darüber, ob jetzt die Star-Wars-Prequels sehens- oder hassenswert sind, kommt eines meiner Lieblingsargumente aus der aufwändigen Abrechnung des Redletter-Media-Teams.

Gleich zu Beginn der Kritik von Episode 1 werden Menschen gebeten, doch mal die Protagonisten kurz zu beschreiben. Und, oh Wunder, keiner Sau fällt irgendwas ein, was man zu Queen Amidala, Anakin Skywalker oder Darth Maul sagen könnte. Bei der Original-Trilogie hingegen hat niemand Probleme sofort zu beschreiben, was man sich denn so unter „Han Solo“ vorstellen kann.
An so einem Punkt merkt man dann wieder: Die Original-Trilogie steht vor allem auch deshalb noch so hoch im Kurs, weil sie einfach eine gute Story mit interessanten Figuren erzählt (eingesprenkelte Ewoks jetzt mal ausgenommen). Und diese Story funktioniert, Achtung, Blasphemie, fast noch besser ohne Bild.

Klingt eher unwahrscheinlich, die Filme sind ja aus gutem Grund für die bahnbrechenden Special Effects, detailverliebte Ausstattung und Metall-Bikinis bekannt. Das wusste man natürlich auch vor etlichen Jahrzehnten beim National Public Radio – und sagte sich spontan: „Egal, machen wir jetzt“. Ergebnis: “Star Wars – The Original Radio Drama”.

Dass Star Wars in der Hörspielfassung so unglaublich gut ist, liegt an mehreren Dingen:

1. Star Wars hat schon immer sehr stark über das Ohr funktioniert, nicht nur wegen John Williams. In der Hör-Fassung entdeckt man noch einmal ganz neu, was für eine enorme Leistung es von Sounddesigner Ben Burtt war, ein komplettes Science-Fiction-Universum zu vertonen. Brummende Laserschwerter, kreischende Tie-Fighter, brüllende Wookies – mir fällt kein anderer Film ein, wo es so eine Masse von Sound-Effekten gibt, die gleich ein so starkes Bild im Kopf erzeugen.

2. Die Besetzung ist unglaublich gut. Mark Hamill, Anthony Daniels und Billy Dee Williams haben ihre Rollen sogar noch einmal komplett selbst neu fürs Radio gespielt und auch der Rest ist perfekt getroffen – Perry „Trio mit vier Fäusten“ King ist ein sehr überzeugender Han Solo, und John Lithgow ist fast noch Yoda-hafter als das Original (selbst Lisa-Simpson-Darstellerin Yeardley Smith ist in einer Nebenrolle dabei).

3. Die Story – jaja, habe ich schon erwähnt. Aber da Star Wars so nachhaltig von Flash-Gordon-Serials der Dreißiger inspiriert war, funktioniert die Geschichte auch umgekehrt hervorragend in halbstündigen Radio-Drama-Episoden mit Cliffhanger am Ende. Außerdem ist in der Radiofassung genug Zeit für Handlungsstränge, die aus dem Film gekürzt wurden. Wie deprimierend ist Lukes Alltag auf Tattooine? Wie lebt es sich so als Prinzessin auf Alderaan? Gar nicht erst nach Fan-Fiction suchen, die diese Fragen beantwortet – das Radio Drama ist offiziell von Lucasfilm als Kanon abgesegnet worden.

Falls ich mal wieder stundenlang Auto fahren oder den Kessel Run in 12 Parsecs reißen muss – ich weiß schon, was ich mir dabei anhören werde.