Interview: Dirk von Gehlen über Das Pragmatismus-Prinzip

Foto: Hauke Bendt

In “Kulturindustrie” geht es ja sonst eigentlich immer darum, was wir vier so von verschiedenen Dingen halten, ich fand es aber spannend, diese Idee gelegentlich auch durch Gespräche mit Menschen, die selbst Kultur schaffen, zu erweitern. Deswegen gibt es jetzt eine neue Folge, die aus einem Interview mit Dirk von Gehlen besteht.

Dirk von Gehlen arbeitet als Leiter Social Media/Innovation bei der Süddeutschen Zeitung. Er bloggt und er betreibt die Seite Phänomeme.de, eine Art gelegentliches deutschsprachiges Know Your Meme, und er schreibt auch schon seit mehreren Jahren Bücher. Mashup war sein erstes 2011, sein letztes vor dem aktuellen hieß Meta.

Das Pragmatismus-Prinzip, so heißt das neueste Buch, ist ein Plädoyer für den offenen Umgang mit dem Neuen und verquirlt dafür verschiedene Denkschulen und Ideen miteinander zu einer, wie ich finde, ganz gelungenen Mischung und einer Art über die heutige Zeit nachzudenken, die mir persönlich sehr sympathisch ist. Ich würde das Buch also auf jeden Fall empfehlen – das nur vorweg – und habe mit Dirk eher noch über Fragen gesprochen, die sein Buch in mir angestoßen hat. Wir kennen uns auch seit einer Weile über Twitter und duzen uns entsprechend. Also bitte nicht enttäuscht sein, wenn jetzt kein knallhartes Investigativ-Interview folgt. Es ist eher ein offenes Gespräch.

Auf dem Cover von Das Pragmatismus-Prinzip ist ein Emoticon abgebildet, das Dirk von Gehlen den “Shruggie” nennt, und das ihr sicher auch kennt. Es sieht aus wie ein Mensch, der lächelnd mit den Schultern zuckt. ¯\_(ツ)_/¯ Der Shruggie spielt im Buch eine gewisse Rolle, er ist der “Autor” des Vorworts und er fasst auch immer die Kapitel zusammen. Mit dem Journalisten Yannik Hannebohm hat Dirk vor ein paar Wochen einen Podcast namens “Was würde der Shruggie tun” gestartet, in dem er in der Rolle des Shruggie Lebensfragen beantwortet.

Angefangen habe ich das Gespräch aber mit einem Rückgriff. Mashup, sein erstes Buch, habe ich nämlich damals auch in meinem Blog besprochen und dem Post dazu den Titel “Das vernünftige Manifest” gegeben. Ich fand nämlich schon damals gut, dass das Buch sehr unaufgeregt ist und sich eher bemüht, das Phänomen Remixkultur und Dinge wie Creative Commons zu verstehen, als irgendwas darüber zu behaupten. Deswegen habe ich Dirk als erstes gefragt, ob Das Pragmatismus-Prinzip einen Gärungsprozesses beendet, der schon viel länger andauert.

Ganz kurz noch was zur technischen Entstehung des Interviews. Dirk und ich haben ganz normal so aufgenommen, wie wir auch bei Kulturindustrie immer aufnehmen – verbunden per Skype und jeder nimmt seine Spur auf. Am Ende des Gesprächs stellte sich dann aber raus, dass es bei Dirk einen technischen Fehler gab. Seine Spur war also verloren. Anstatt aber das ganze Gespräch neu zu führen, haben wir pragmatisch (höhö) etwas neues probiert; Ich habe Dirk meine Seite der Aufnahme geschickt und er hat meine Fragen einfach noch einmal neu beantwortet. Das Ergebnis ist jetzt also eine Art Frankenstein-Interview. Meine Fragen, im gleichen Fluss wie sie im Originalgespräch gestellt wurden und Dirks zeitversetzte Antworten dazu.

Qualityland

Marc-Uwe Kling beherrscht etwas, was ich das “Humor-Sandwich” nenne. Wie bei allen Satirikern steckt unter Szenen, die oberflächlich witzig sind, eine Scheibe Ernst, doch er untergräbt meist auch den Ernst noch einmal mit einer weiteren Scheibe Humor, was ich für wichtig halte.

Spätestens seit dem dritten Känguru-Band hat er außerdem bewiesen, wie gekonnt er mit Genre- und Erzählstrukturen umgehen kann. Daher versucht Qualityland natürlich ein dystopischer Roman zu sein, der sich an alle Regeln von 1984 und Co hält (Heldenreise eines Einzelnen, der gegen das System rebelliert; Liebe als Motor; Lektionen von einem Mentor außerhalb des Systems; Begegnung mit dem Mächtigen; System erweist sich als robust), und sie gleichzeitig unterwandert (zum Beispiel, indem große expositionelle Info-Dumps von den Charakteren selbst als langweilig kommentiert werden, bezeichnend finde ich aber vor allem auch die Sympathie, die Kling den Maschinen entgegenbringt).

Die Ideen, die dabei entstehen, sind alle nicht neu (Maschinen, die menschlicher sind als Menschen, ist seit Frankenstein ja quasi der Urknall der SF), und die Systemkritik ist für eine informierte Internetleserin alles andere als überraschend, aber es gehört schon eine Menge Können dazu, das Ganze so nahtlos und unterhaltsam zu bündeln. Und eben, sich nicht von der Ernsthaftigkeit mancher Gedanken erdrücken zu lassen, sondern noch eine hoffnungsvolle Scheibe Humor drunterzuschieben, wie es vielleicht auch der Shruggie tun würde.

Unentschieden bin ich, ob ich es gut finde, dass Kling nicht auf Querverweise in sein Känguruverse verzichten kann. Aber ich habe meistens gelacht und nicht gestöhnt, was ich mal als gutes Zeichen werte.

Dieser Text auf “Goodreads”

Warum die Online-Kommunikation von Wizards of the Coast so gut ist

Als ich zwölf war, steckte ich knietief in Elfen, Drachen und Zauberern fest. Ich hatte vor etwa etwa zwei Jahren erstmals den Herrn der Ringe verschlungen, und von dort führte mich der Weg geradezu in die ganze Welt der Fantasy und ihrer angeschlossenen Genres. Nichts jedoch nahm mich innerhalb von kürzester Zeit so gefangen wie das Sammelkartenspiel Magic: The Gathering, das es auch erst seit zwei Jahren gab, und dem ich bald darauf sehr große Teile meiner Freizeit widmete.

Natürlich passte die Hintergrundgeschichte des Spiels gut zu meinen Interessen – es geht um mächtige Magier, die sich gegenseitig mit Kreaturen und Sprüchen bekämpfen, die durch die Karten repräsentiert werden – aber dieses erste “Collectible Card Game” seiner Art hatte auch ein cleveres System entdeckt, wie es seine Spieler bei Laune hielt. Alle paar Monate erschienen Erweiterungen, die mit dem gesamten restlichen Spiel kompatibel waren, es komplexer aber auch immer wieder frisch werden ließen. Der Podcast Planet Money hat mal sehr gut erklärt, warum dieses Prinzip so klug ist.

Im Jahresrückblick habe ich bereits erwähnt, dass ich letztes Jahr, nach rund 17 Jahren Pause, wieder angefangen habe, Magic zu spielen – nicht mit solcher Intensität wie in den 90ern, aber erstmals wieder für mehr als ein paar Stunden Nostalgie einmal im Jahr. Schuld daran ist die Firma Wizards of the Coast aus Seattle, die Magic produziert. Wizards ist es im vergangen Sommer gelungen, mich nachhaltig wieder für das Spiel zu begeistern, weil sie in ihrer Online-Kommunikation einfach verdammt viel richtig machen. “Was denn?”, höre ich dich fragen. Gut, dass du fragst.

1. Transmediales Storytelling

Magic hatte von Anfang an eine erzählerische Komponente, die allerdings wie in vielen Spielen eher als eine Art mystisches Hintergrundrauschen diente. Auf den Karten tauchten Namen von Ländern, Stämmen und Personen auf, die sich aber nur schwer zu einer wirklichen Geschichte verdichteten. Bald entstanden Tie-in-Romane, die aber ebenfalls nur vage auf die Karten Bezug nahmen. Das änderte sich Ende der 90er und es hat sich heute vollständig gedreht. Nun ist Magic, wenn man im richtigen Winkel schaut, eine Fortsetzungsgeschichte mit angeschlossenem Spiel. Im Magic Story Bereich auf der Wizards-Website kann ich die Geschichten lesen, während die Erweiterungen erscheinen – und anschließend entdecke ich auf den Karten Momente und Figuren aus den Geschichten, sowohl in den Bildern als auch in den Mechaniken.

Wizards produziert inzwischen sogar Produkte, die auf dieses Erlebnis abzielen. Im aktuellen Erweiterungsblock “Ixalan” zum Beispiel, suchen vier Fraktionen in einer mittelamerikanisch angehauchten Welt nach einem legendären Artefakt. Das Spiel “Explorers of Ixalan” lässt einen diese Suche nachspielen, mit vier Kartendecks, die die vier Fraktionen repräsentieren. Dino-Reiter gegen Vampire gegen Piraten gegen Meermenschen.

Mich erfüllt dieses Erlebnis tatsächlich jedes Mal wieder mit Freude. Erzählung und Spiel sind bei Magic genau richtig aueinander abgestimmt. Die Karten dienen nicht nur der Geschichte, das würde die Spielmechaniken zu sehr einschränken. Die Geschichte wurde auch nicht um die Karten herumgestrickt, was dramaturgisch zum Äquivalent eines schlechten Jukebox-Musicals führen würde. Sondern beide Medien existieren in Einklang und reflektieren einander. Und anders als früher muss ich für das transmediale Erlebnis nicht einmal mehr Romane kaufen – ich lese einfach kostenlos im Netz.

2. Starke Markenbotschafter

Den Begriff der Markenbotschafter habe ich von Kerstin Hoffmann. Sie beschreibt, wie wichtig es ist, dass Menschen aus Unternehmen im Netz sichtbar nach außen auftreten, um anderen die Identifikation zu vereinfachen. Ich glaube: Wizards of the Coast und Magic wären heute nicht wo sie sind ohne Mark Rosewater. Der Head Designer von Magic, der seit 20 Jahren im Unternehmen ist, personifiziert es wie kaum jemand anderes. Er schreibt auf der Magic Website wöchentliche Artikel, er hat einen eigenen Podcast, den er auf der Fahrt zur Arbeit aufnimmt, und er interagiert mit seinen Kunden auf Twitter und Tumblr als wäre das sein einziger Job.

Auch wenn Rosewater nicht die angenehmste Sprechstimme hat (das muss ich leider sagen), ist er enorm gut darin, die Prozesse innerhalb von Wizards transparent und glaubwürdig zu beschreiben und zu erklären ohne zu viele Interna zu verraten. Für diese Transparenz musste Rosewater, wie er sagt, kämpfen, aber für mich macht sie einen großen Teil der Faszination aus. Zu erfahren, welche Prozesse das Unternehmen durchläuft um zu den Produkten zu kommen, die letztendlich beim Kunden landen, lässt mich nicht nur von einem ähnlichen Job träumen, es hilft mir auch, dem Produkt zu vertrauen.

Längst hat sich Rosewater mit einem Team anderer Autoren umgeben, die ebenfalls fast alle nicht nur Pressefuzzis sind, die für die Website möglichst glattpoliert aufschreiben, wie großartig ihr Unternehmen und ihr Produkt ist, sondern zu großen Teilen selbst an der Herstellung von Magic beteiligt sind. Sie berichten von ihrer Arbeit und sind häufig zusätzlich in sozialen Medien ansprechbar. Für das interne Monitoring kennzeichnen sie übrigens alle Tweets, in denen sie für ihr Unternehmen sprechen mit dem Hashtag #WotCStaff. Finde ich eine gute Idee.

3. Die Community regiert

Magic wäre logischerweise nichts ohne seine Spieler, weshalb Wizards sich wie oben beschrieben als sehr ansprechbar und offen präsentiert. (Seitennotiz: Ich denke, dass das Unternehmen aus einem ähnlichen Grund keinen eigenen Onlineshop unterhält. Es will den Läden vor Ort, die für sie eine wichtige Infrastruktur zum Abhalten von Turnieren und für die Kundenbindung darstellen, keine Konkurrenz machen.) Doch was mir dazu sofort auffiel, als ich letztes Jahr anfing, die Website zu endecken: Die verlinken ja ständig auf fremnde Seiten.

In der Tat. Was anderswo undenkbar scheint, gehört bei Wizards zur Kommunikationsstrategie. Das Unternehmen agiert nicht als eingemauerter Compound sondern bezieht Blogs, Podcasts, YouTube-Kanäle etc. aus der Community in ihre eigene Firmenkommunikation mit ein. Zur jüngsten Umgestaltung der “DailyMTG”-Homepage fasste Redakteur Blake Rasmussen die Strategie zusammen:

“We started to recognize that the community’s best content creators are its fans. When DailyMTG was first created, we were, more or less, the only show in town. Most Magic sites were mainly forums (…). These days, there are dozens of high-quality sites, podcasts, and YouTube channels that can teach you about the game, help you explore it, show you how to get better, highlight cool tidbits, and gush about the art. StarCityGames.com, ChannelFireball, and TCGplayer have the literal best players in the world producing strategy content for them on a daily basis. Gathering Magic, The Command Zone, Magic the Amateuring, and MTGGoldfish consistently produce fun, relevant content. Hipsters of the Coast, Magic Mics, and Mana Deprived bring you all the news that’s fit to print, talk about, or record. (…) So our goal, and the philosophy around with the new DailyMTG is built, is that we can show you around the wide, amazing world of Magic content and let those fine folks take it from there.

Eventuell ist dies in der Gaming-Welt normal, aber ich habe es so noch nirgendwo erlebt. Was für ein Ansporn, wenn man sich selbst als Fan-Creator sieht. Ich bekomme nicht nur ab und zu mal ein Tätscheln vom Unternehmen, sondern ich werde als Partner im Informationsdschungel angesehen. Sicher kann man auch eine zynische Sicht einnehmen, dass sich hier ein Unternehmen im typischen Sharing-Econonomy-Stil den Content von Fans umsonst produzieren lässt, aber ich glaube das trifft nicht zu. Die Blogs und Videos würden ohnehin existieren. Sie in die Kommunikationsstrategie einzubinden ist einfach ein sehr gutes Community Management und Kundenbindungs-Werkzeug.

Fazit

Ich beobachte die Kommunikationsarbeit von Wizards of the Coast jetzt seit etwa einem halben Jahr. Sicher ist dort nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Sicher gab es immer wieder auch Strategien, die den Fans sauer aufstoßen, oder Produkte und Regelungen, die als Geldmacherei aufgenommen werden. Im letzten halben Jahr allerdings ist mein Eindruck positiv. Magic ist heute, im Gegensatz zu meiner Anfangszeit vor 20 Jahren, ein erstaunlich holistisches Produkt, in dem Fantasy-Flair, Spielspaß und sportliche Turnierszene (einige Menschen verdienen ihr Geld damit, das Spiel zu spielen) perfekt ineinander greifen. Die Kommunikationsarbeit leistet dazu einen bemerkenswerten Anteil.

In eigener Sache: Eingebackene Veränderung

Von 1991 bis 1996 hat mein Vater in Den Haag gearbeitet und wir, meine Mutter, meine Schwester und ich, haben dort gemeinsam mit ihm gelebt. Dass die Stelle eine temporäre sein würde, stand von Anfang an fest, wie bei vielen Menschen, die von ihren Arbeitgebern ins Ausland geschickt werden. Auf meiner Deutschen Schule merkte ich das ebenfalls. Als ich neu in die 4. Klasse kam, war das für meine Klassenkameraden kein großes Ding und in den kommenden fünf Jahren merkte ich, wie das an Auslandsschulen so ist: Jedes Jahr zum Anfang des Schuljahres (manchmal auch mittendrin) kamen neue Menschen in die Klasse, am Ende des Schuljahres verließen uns einige.

Für uns Schülerinnen und Schüler war das normal. Es war normal, dass sich die Klasse veränderte, dass man am Anfang des Schuljahres schnell neue Freundschaften schloss und am Ende auch lernte damit umzugehen, dass nicht alle Klassenkameraden für immer bei einem bleiben würden. Die Veränderung war Teil des Systems. Ganz anders an dem Gymnasium, in das ich nach meiner Den Haager Zeit eingeschult wurde: hier kannten sich viele schon seit der Grundschule, mindestens aber seit der 5. Klasse. Die Rollen standen fest, Veränderung war frühestens wieder zum Studienbeginn zu erwarten.

Inzwischen weiß ich, dass es im Beruf manchmal ähnlich sein kann. Festgefahrene Rollen, eiserne ungeschriebene Regeln, von denen keiner mehr weiß, wer sie aufgestellt hat, sind wahrscheinlich in mehr Büros Alltag als man denkt. Nicht zuletzt deswegen habe ich den Deutschen Evangelischen Kirchentag immer bewundert. Die Geschäftsstelle, die die Veranstaltung organisatorisch plant, zieht alle zwei Jahre von Stadt zu Stadt, mit einem kleinen Kernteam aus 20 bis 30 Leuten. Im Laufe der nächsten zwei Jahre wächst dieses Team auf über 100 Menschen kurz vor der “Durchführung”, den eigentlichen Veranstaltungstagen im Frühsommer jedes ungeraden Jahres.

Viele Kolleginnen und Kollegen arbeiten nur ein knappes Jahr beim Kirchentag und springen auf einen Zug auf, der längst mit hoher Geschwindigkeit fährt. Sie werden in zwei Wochen ins Thema geholt und müssen sofort loslegen. Das funktioniert nur, weil auch hier die Veränderung und das neue Team für jeden Kirchentag Teil des Systems ist. Weil selbst die, die schon länger dabei sind, die vielleicht schon ein oder zwei Kirchentage mitorganisiert haben, bereit sind, sich sehr schnell auf die neuen Gesichter, Arbeitsweisen, Spezialisierungen einzustellen. Doch nicht nur deswegen kann man nicht alles machen wie immer. Man ist außerdem in einer neuen Stadt, in einer neuen Region, in einer neuen Landeskirche. Konzepte werden laufend überholt und verändert. Die Fähigkeit, sich anzupassen und auf allen Ebenen offen für Neues zu sein, ist in den Prozess fest eingebacken. Anders geht es nicht. Jeder Kirchentag, um es mit Dirk von Gehlen zu sagen, drückt aus: Eine neue Version ist verfügbar. Nicht umsonst sind Kirchentage nummeriert.

Vor fast acht Jahren habe ich mich entschieden, das Rhein-Main-Gebiet, in dem ich Abitur gemacht, studiert und meine erste Arbeitsstelle angetreten hatte, zu verlassen und beim Kirchentag in Dresden die Internetredaktion zu übernehmen, aus dem gleichen Grund: mein Leben brauchte eine Veränderung. Ich wusste nicht, was mich erwartet, ich war nie auf einem Kirchentag gewesen, und ich hätte nicht ahnen können, wie gut es mir gefallen würde. Innerhalb kürzester Zeit wurde mir dort sehr viel zugetraut. Ich durfte alle Social-Media-Kanäle starten und mir eine Strategie dazu überlegen. Und im Juni 2011 durfte ich eine 40-köpfige Redaktion leiten.

Die Erinnerung an die dynamische Arbeitsweise und die Möglichkeit, Veränderung zu gestalten, hat mich so beeindruckt, dass ich zweieinhalb Jahre später zum Kirchentag zurückkehrte, diesmal als Abteilungsleiter für Presse und Öffentlichkeitsarbeit (soviel zum Thema “Zutrauen”). Diesmal blieb ich einen ganzen Zyklus an Bord. Nach dem Kirchentag in Stuttgart 2015 zog ich mit nach Berlin und war dort Abteilungsleiter Presse und Marketing – bis heute.

Heute hatte ich meinen letzten Arbeitstag beim 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen möchte ich gerne in Berlin wohnen bleiben, wenn meine Kolleginnen und Kollegen nach Dortmund ziehen. Aber zum anderen war es nach siebeneinhalb Jahren (brutto) auch wieder Zeit für etwas Neues. Denn so dankbar ich für all die Impulse, Erfahrungen und Begegnungen bin, die ich in dieser Zeit mitnehmen durfte: Das System Kirchentag kann nur funktionieren, wenn es auch die Möglichkeit bekommt, seine eingebackene Veränderung auszuleben. Genau wie das System Alex. 

Am 15. September beginnt mein neuer Job als Referent für Digitale Kommunikation beim Service-Portal Integration der Stiftung Haus der kleinen Forscher. Ich freue mich auf jede Menge neue Klassenkameraden.

Werde auch du ein popkultureller Anfänger-Coach!

Vor über zehn Jahren hat meine Freundin Julia mal etwas für mich getan, was ich ihr nie vergessen werde. Sie, im Besitz aller Staffeln von Buffy The Vampire Slayer auf DVD, schuf für mich, der ich noch keine einzige Folge der Kultserie gesehen hatte, ein Video-Mixtape. Eine mit der Longplay-Funktion aufgenommene VHS-Kassette, die mir einen Einstieg in das Buffyversum ermöglichen sollte. Die Auswahl war perfekt: Pilotfilm und zweite Folge zur groben Orientierung in der Welt, das Finale der ersten Staffel um zu kapieren, worum es im Größeren geht, und anschließend eine Reihe von legendären Folgen wie “Hush”, “Once more with feeling” und “The Body”, um mir einen Eindruck davon zu vermitteln, welche Wege die Serie unter anderem eingeschlagen hat.

Julias Auswahl hat mich nicht zum Fan gemacht. Ich bin nicht losgezogen, um mir die restlichen Folgen so schnell wie möglich reinzupfeifen, aber seit ich diese acht Stunden Buffy gesehen habe, habe ich zumindest eine grobe Ahnung davon, was die Serie für ihre Fans besonders macht. Wenn in einem Gespräch mit Buffy-Liebhabern das Gespräch darauf kommt, kann ich zwar nicht behaupten, dass ich wirklich Bescheid weiß, aber es wird klar: ich habe mich damit beschäftigt. Das ist vielen schon eine Menge wert und es gibt auch mir ein gutes Gefühl, an dieser Stelle kein popgeschichtliches Loch klaffen zu sehen.

Ich muss nicht alles kennen, aber

Von diesen Löchern nämlich hat man als Ottonormalmensch in Zeiten von Peak TV, dutzenden Franchises im Kino und in den Bücherregalen, irgendwie viel zu viel. Natürlich ist die einfachste und vollkommen legitime Reaktion darauf, einfach zu entscheiden: Ich muss nicht alles kennen. Weil es stimmt. Aber vielleicht gibt es doch immer wieder diese einzelnen juckenden Stellen, die man gerne kratzen würde (Was hat eigentlich Generationen von Leuten so an Perry Rhodan begeistert? Worum ging es im großen Hype um Lost? Woher zur Hölle kommt die Langlebigkeit von Pokémon?), aber bei denen man trotzdem weiß, dass man nicht bereit ist, 150 Stunden seines Lebens zu investieren, um sich vollständig auf Stand zu bringen. Und bei denen auch klar ist, dass es oft wenig bringt, am Anfang anzufangen, wenn man einen repräsentativen Eindruck bekommen möchte. Weil viele serielle Phänomene leider erst nach einiger Zeit zu Hochform auflaufen.

In diesen Fällen wünsche ich mir Leute wie Julia, die sich die Mühe machen, eine Art Anfänger-Coaching zu verfassen. Als Hardcore-Fan ist das manchmal nicht ganz einfach. Man muss sich dem Nerd-Empfehlungsdilemma stellen und versuchen die eigene Innensicht zu verlassen. Man muss selbst Zeit und Aufwand reinstecken und um Zugänglichkeit und Übersicht bemühen. Aber im besten Fall ist das Resultat, dass man einem anderen Menschen das eigene Liebhabertum nähergebracht hat. Ewige Dankbarkeit ist vorprogrammiert.

Everything you need to know

Immer wieder gibt es bereits solche Anfänger- oder Aufhol-Coachings. Für die neue Marvel/Netflix-Serie The Defenders zum Beispiel war ich sehr dankbar für ein Video von ScreenCrush mit dem Titel “Everything you need to know before you watch ‘The Defenders'”. Obwohl ich selbst nur Jessica Jones gesehen hatte, fühlte ich mich mit dem Video bereit, die Serie anzugehen, auch weil es in seiner Beurteilung so ehrlich war und sich explizit an Menschen wandte, die die Vorgängerserien nicht oder nur zum Teil gesehen hatte (“Iron Fist? Boy, you’re gonna be glad you skipped this one.”). Wie ein guter Freund, der einen ganz persönlich abholt.

Ich sehe schon zwei Gegenargumente von Weitem auf mich zufliegen. Erstens: “Auf diese Art bekommt man keinen wirklichen Eindruck von dem, was an X tatsächlich besonders ist. Die 150 Stunden, die man reinsteckt, gehören dazu!” Stimmt. Wer mit Hilfe einer “Executive Summary” der Meinung ist, er wisse genauso viel wie die Wissenschaftlerin, die die Studie erarbeitet hat, leidet an einem Egoproblem. Aber es geht ja auch viel mehr darum, nicht völlig im Dunkeln zu stehen und sich nur von Vorurteilen oder popkulturellen Zitaten leiten zu lassen. Wer Feuer fängt, verschlingt anschließend sowieso das ganze Kunstwerk.

Zweitens: “Es gibt Phänomene, bei denen dieser Zugang nicht funktioniert.” Das mag sein. Ich bin froh, dass ich Breaking Bad vollständig nachgeholt habe und nicht nur in repräsentativen Ausschnitten. Aber grundsätzlich denke ich: Wenn hinter dem Coaching nur genug echte Begeisterung steckt, ist es trotzdem möglich, einem unbedarften Publikum die eigene Leidenschaft zu vermitteln.

Mach mit!

Wer bis hierhin gelesen hat: Ich rufe dich dazu auf, ein solches Coaching zu schaffen. Such dir etwas aus, wo du dich auskennst und was du liebst, und gib anderen die Chance, deine Liebe zu verstehen, mit Erklärungen und gut kurartierten Beispielen. Verlinke wie bei einer Blogparade auf diesen Beitrag, und in ein paar Wochen sammle ich alle Coachings in einem Posting. Ich selbst habe Ähnliches bisher auch nur für die erste Staffel von Agents of SHIELD (im letzten Absatz) gemacht und möchte es wieder tun. Was könnte sich deiner Meinung nach lohnen?

Hast du ein Thema, für das du dir immer schon ein Anfänger-Coaching gewünscht hast? Schreib es in die Kommentare. Ich selber bräuchte dringend jemand, der mir erklärt, was zur Hölle in den letzten 15 Jahren bei Magic: The Gathering los war – und was sich seit 1999 wirklich im Videospiel-Bereich getan hat.

Momente der Authentizität

Angela Merkels letzte Begegnung mit einem Youtuber liegt zwei Jahre zurück, und sie war nicht gerade
glorreich. Wurde nach dem Interview mit LeFloid im Juli 2015 zunächst dem jungen Interviewer vorgeworfen, nicht hart genug gefragt und zu oft genickt zu haben, kristallisierte sich später das Narrativ heraus, dass das Kanzleramt LeFloid in eine Arena geholt hatte, in der sich dieser weder wohlfühlte noch selbst die Regeln bestimmen durfte. So beraubten sie ihn, vielleicht aus Angst, jeden Bisses und degradierten ihn zu Merkels Stichwortgeber. LeFloid fühlte sich „benutzt“.

Es ist erstaunlich, dass Merkels mediale Zwischenhändler offenbar aus dem Flop mit LeFloid ausgerechnet
die Lehre gezogen haben, dass zwischen der Bundeskanzlerin und der rauen Welt von Youtube dringend die
Strukturen einer konventionellen TV-Talkshow stehen sollten. Die von Studio71, dem Youtube-Arm von Pro- SiebenSat.1, produzierte Sendung „#DeineWahl“ ließ zwar gleich vier Youtube-Persönlichkeiten die Kanzle- rin interviewen, glich aber abgesehen von den jungen Protagonisten einem fernsehüblichen Talkshow-Format.

Weiterlesen in epd medien 33/2017

There’s this one thing about Invisibilia that really bothers me

NPR’s hit podcast Invisibilia about the “invisible forces that control human nature” has just completed its third season. The self-professed “concept album” of seven episodes released over four weeks dealt a lot with constructivist ideas. Do emotions, does reality just happen to us or do we make them first? While not as good as season 2, which seemed more politically relevant to me, season 3 again delivered some aha moments that got me thinking. It also repeated something it has been doing since the beginning, which I find both terribly annoying and journalistically questionable.

Invisibilia belongs to the school of storytelling podcasts made popular by This American Life. It strings together interviews and sound documents with explanatory narration to inform you about a topic and tell a compelling story a the same time. Different shows have different sonic profiles to support the storytelling, especially in their use of music and sound design. Radiolab, for example, often “visualises” (for lack of a better word) microscopic processes with synthesized sounds, making it easier to follow the explanation. Invisibilia‘s signature technique is to represent thoughts and feelings through single sentences from interviews and weave them into the narration whenever they become relevant again, like flashback images in a movie.

The sonic flashback

For example, the first episode of season three, Emotions, Part One, tells the story of a man, Tommy, traumatised by an accident he was involved in. The man recounts how he got out of his truck and approached the car he collided with. The driver is unconscious, the passenger, Miss Jones, is dazed. Tommy says: “Miss Jones says something about ‘the other child’ and I say ‘what other child’? That’s when I see Michaela’s arm, hanging there.” This is the original recording, but the phrase uttered by Tommy that describes the trauma is repeated throughout the episode as a shorthand for the whole image. For example:

Alix Spiegel: The day after the accident, after a tortured night in a motel room, Tommy’s trucking company put him on a plane to go home. He got in his seat, fastened his seatbelt. Would you like something to drink, sir?
Tommy: Her little arm, hanging out of the car.

I personally don’t like this “sonic flashback” technique. I find it clumsy and I just don’t like listening to it, but there is nothing badly wrong with it. It does, however, speak to the liberty Invisibilia takes with their recorded interviews, using phrases like these to illustrate thoughts and placing them in contexts where they were not originally uttered.

Unwarranted confirmation

The show does the same with other, shorter phrases, and there, I find, it crosses a line of good journalism. It is customary in the storytelling format to summarise longer interview bits that contain explanations a bit too long for the format. You will normally hear the first few sentences of the explanation, and then the narrator will take over and summarise the rest. Radiolab or This American Life often even fade down the original tape and lets it play in the background, while the narration talks over it, saying something like: “John explains, that …”.

But Invisibilia goes one step further. It will summarise a bit of tape and then it will insert a sound bite that confirms the summary, something I want to call “unwarranted confirmation”. Take this example from the final episode, “True You”:

Mindy: And so in life he became polite and reserved and embarrassed, …
Lulu Miller: This is his wife, Mindy, …
Mindy: … I mean that in a good way.
Lulu Miller: … who says that wile Chad is six foot five, he will always try to appear smaller.
Mindy: Whenever we’re in a crowd, like, when we’re at a concert, he’s trying to get out of the way.
Chad: Yeah.
(…)
Lulu Miller: And then one day, in his mid-thirties, a very different side of him appeared.
Chad: Yes.

Both the “Yeah” and the “Yes” are spliced into the narration from contexts we as listeners don’t know about. Chad was probably not interviewed at the same time as Mindy, but the producers see it necessary to insert his confirmation of Mindy’s statement about concerts by splicing in a “Yeah”. Well, maybe they asked him afterwards if the story was true and he actually did say “Yeah” and corroborated it.

Intransparent and condescending

The second example is worse. “One day, a very different side of him appeared” is not a statement that needs affirmation or denial. It is simply a justified assertion, an observation made by the storyteller. Why does Chad need to say “Yes” afterwards? It sounds like the producers are getting his blessing for what they just said, even though 1) what they said does not need a blessing and 2) we don’t know what context the blessing comes from. It could be any “Yes” from hours of tape. We have no idea what it originally pertained to.

Invisibila will do this all the time. They insert “Yes”, “Yeah”, “No”, “That’s right”, “Uh-huh” and other short phrases into their narration to confirm their own statements in a way that’s both non-transparent and often unnecessary. It’s like a sonic tic the show has been cultivating since its very first episode. And while it seems to be something Alix Spiegel, Hanna Rosin and their producers employ to shape the show’s profile, it’s also journalistically questionable and condescending in exactly the way NPR is often accused of being, degrading interview subjects to deliver sound bites for the self-aggrandisement of a manipulative storyteller.

Do you agree?

Beinahe unaufhaltsam: Bilals Weg in den Terror

Es gibt Tonaufnahmen, die so mächtig sind, dass man eine fünfteilige Radioserie um sie aufbauen kann. Weniger als eine Minute lang ist wahrscheinlich die Whatsapp-Audionachricht, die der 17-jährige Bilal aus Syrien an einen Freund in Deutschland schickt und doch funktioniert sie wie eine Art Generalschlüssel für den gesamten Themenbereich „Radikalisierung junger Muslime in Westeuropa“. Bilal ist aus Hamburg über die Türkei nach Syrien gereist, um sich dem IS anzuschließen und für die gute Sache des Islam zu kämpfen.

Doch in Syrien findet er nur Chaos vor. Er wird eingesperrt und mit leeren Versprechungen hingehalten. Nichts von dem, was ihm erzählt wurde, ist wahr. Stattdessen begreift er schnell, warum er nach Syrien geholt wurde. Seine Altersgenossen und er dienen dem IS als Kanonenfutter in seinem scheinheiligen Krieg. Fassungslos wiederholt er, was er sieht: „Die schicken einfach die Brüder zum Tod.“

Weiterlesen in epd medien 9/17

Zum Podcast-Angebot des RBB

Piq: Die Gefahren der Nostalgie

Simon Reynolds’ Buch Retromania ist eins der prägenden kulturkritischen Werke der letzten Jahre. 2010 erstmals erschienen, blättert Reynolds darin auf, wie in der Musikindustrie und überhaupt in unserer gesamten Kulturlandschaft die Sehnsucht nach dem Alten längst das Interesse am Neuen überholt hat.

Zum Buch gab es auch ein Blog, in dem Reynolds regelmäßig neue Gedanken sammelte und passende Artikel verlinkte. Dieses Blog schloss im September, denn “while retro remains a prominent part of the current culture, it doesn’t feel dominant to the same extent it did”.

Der Trump-Sieg hat Simon Reynolds dazu gebracht, sein Blog noch einmal zu öffnen, auch wenn es nur für ein paar Zitate ist, eins davon aus seinem Buch. Dabei geht es um “reflektive” und “restorative” Nostalgie, eine Unterscheidung der Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym. Es ist die restorative Nostalgie, “big on pageantry (…), folklore, and Romantic nationalism”, die zurzeit die Welt im Griff hat. Aber der Blick in Reynolds’ Blog zeigt: zu viel Nostalgie sollte uns generell eine Warnung sein.

Zum Artikel | Zum Piq

Ich habe schon länger überlegt, zu diesem Thema zu bloggen und mich jetzt stattdessen aus Zeitgründen für einen Piq entschieden. Einen wichtige Wendepunkt fand ich Stranger Things dieses Jahr – das ich, zugegeben, selbst noch nicht gesehen habe. Hier stimmten plötzlich selbst viele Nostalgiekritiker (unabhängig von der Qualität der Serie selbst) ins Lob der Vergangenheitsverklärung mit ein. Nach dem Motto: Wenn sie transformativ genug ist, ist Nostalgie ja okay, immerhin geht es nicht mehr immer um die gleichen alten Filme. Ich habe selbst noch keine endgültige Meinung dazu, spüre aber immer wieder die gefährlichen restorativen Tendenzen in solchen Schwärmereien (s.o.)